Lieber
@rolf, ich nehme Deine provokante Frage nach den unabhängigen Fingern gerne an:
- Wie kann es sein, dass Peter - mit seiner vornehmen Bescheidenheit bezüglich seiner pianistischen Fähigkeiten (das meine ich ganz ernst, @Peter) - genau verstanden hat, was ich meinte (also: jeden Finger einzeln gedanklich ansteuern), Du ,@rolf, als Berufspianist, angeblich nicht?
- Wenn Du nicht jeden Finger einzeln gedanklich ansteuern kannst, wie spielst Du denn dann Klavier? Du erweckst den Anschein, als würdest Du auf geradezu wundersame Weise mit Deinem Handgelenk über die Tasten rollen und die schönste Musik käme heraus.
Nein, nein, also Scherz beiseite
@rolf: ich mag Deine Einwände, treiben sie doch auf diese Weise unsere interessante Diskussion voran. Es ist wichtig, dass unsere Beiträge einander, bzw. vor allem
@Frankie, am Ende auch nützlich erscheinen.
Reden wir also über den Begriff „Unabhängigkeit der Finger“, der viel, viel mehr ist, als nur ein Schlagwort!
Und ich bin mir sicher, dass unser
@rolf das ganz genau weiß.
Ich bin als Amateuse klavierdidaktisch ja nicht umfassend gebildet und kann Euch keinen vollständigen historischen Abriss über diesen Begriff geben. Es gab aber auf jeden Fall im 18. Jahrhundert Schulen, ich glaube es war Franz Kullak, die sehr stark das
Hochziehen der Finger betonten und auf diese Weise die Finger unabhängig machen wollten.
Das meine ich ausdrücklich nicht damit!!
Unabhängigkeit der Finger bedeutet, dass man jeden Finger einzeln gedanklich anzusteuern vermag. Sie eröffnet beim Klavierspielen einerseits die Möglichkeit, Finger (fast) einzeln anzuspannen und einzeln zu entspannen, andererseits aber auch, die Hand innerlich zu teilen.
(Etwas ausführlicher: Man kann es durch Vergleiche veranschaulichen (visualisieren), wem es denn nützt. Stellt Euch vor, Euer Gehirn hat eine eigene Verbindung zu jedem Finger, die wirklich bildlich durch die jeweilige Halsseite, über Schulter, Arm und Hand bis in die Fingerspitzen läuft, zum Beispiel so:
- 5 farbige Strahlen verbinden den Kopf mit den Fingern, jedem Finger eine Farbe;
- 5 Wollfäden verbinden den Kopf mit den Fingern, jedem Finger ein Faden; der Faden, den Ihr gerade aktiviert, wird warm;
- 5 Lichtbögen verbinden den Kopf mit den Fingern, wie Teile eines Regenbogens; der Finger, den Ihr gerade aktiviert, leuchtet als warmes Rotlicht auf:
etc. etc., Ihr wisst, worauf ich hinaus will. Wie gesagt, solche Assoziationen nutzen nicht jedem, man kann sich aber tatsächlich als Erwachsener mal für 5 bis 10 Minuten in solch eine Vorstellung hineinmeditieren, mir hat das sehr genutzt (ist für Kinderchen sicher nix, die brauchen sowas nicht). Unser Nervensystem bietet diese Möglichkeit, Finger einzeln anzusteuern, muss aber für eine so hohe Leistung der Feinmotorik geschult werden (sonst kämen wir alle auf die Welt und könnten, so wie wir laufen lernen, alle im Kleinkindalter Klavier spielen, ohne viel Übung). Also das Potenzial ist da, aber man muss es irgendwie freisetzen.
(Zwischenbemerkung: das Wissen um die Anatomie von peripherem Nervensystem und motorischen Endplatten nutzt Euch für die Unabhängigkeit der Finger nicht unbedingt. Ihr sagt also nicht innerlich: „Du, Beugemuskel mit dem Namen x für den Finger x, spann Dich mal an!“. Das wird nicht funktionieren. Wir funktionieren zielorientiert: „Ich will nur diese eine Taste drücken und mich sofort danach entspannen, als wäre nichts gewesen!“. Es ist wie beim Autofahren: um in der Spur zu bleiben auf einer kurvigen Strecke, brauchst Du nur auf das sichtbare Ende der Straße zu schauen, den Rest macht Dein ZNS von alleine und Du wirst geschmeidig dem Lauf der Straße folgen. Wenn Du anfängst zu denken: oh, hier bin ich zu weit rechts, hier zu weit links, fährst Du nur noch in Schlangenlinien und eierst hin und her.)
Unabhängigkeit der Finger heißt also:
- Finger einzeln gedanklich ansteuern können (ja, ich wiederhole mich)
- Finger und damit die Klaviertasten einzeln nach unten bewegen können, dabei
- möglichst nur denjenigen Finger, der spielen soll, kurz anspannen,
- sofort entspannen, dabei das Tastenaufgewicht als Impuls für die blitzartige Entspannung des Fingers nutzen,
- den Daumen locker lassen, wenn die anderen Finger spielen.
Unabhängigkeit der Finger heißt aber tatsächlich auch:
- Finger in ihrem natürlichen anatomischen Rahmen seitlich einstellen können (Akkordspiel!)
- die Hand beliebig innerlich in Funktionsbereiche gliedern können (gutes Beispiel von @rolf: trillern mit 4 und 5, Melodie mit 1 und 2, oder eben umgekehrt, gehört mit zu den schwierigsten Situationen überhaupt)
- die Hand beliebig innerlich teilen können für Doppelgriffe.
Sonderfall 4. Finger:
- wenn es das Stück erlaubt, den Vierten zusammen mit dem 3. oder 5. Finger bewegen
- Vorsicht vor Übungen für die sog. Fingerkraft des Vierten: egal wie viel Ihr übt, es wird in diesem Leben, kein Daumen mehr aus ihm werden.
@rolf, ich zitiere gerne Deinen Beitrag:
Zitat @rolf:
für wirklich schnelle, wie @mick schon richtig erklärt hat, non legato bzw. staccato zu spielende Skalen genüg es, den Anschlag einfach als "blitzschnelles zupfen und loslassen" der Tasten zu internalisieren; dabei sind die Finger dicht an den Tasten, die Bewegungen sind so klein, dass man sie kaum sieht.
Glaubst Du nicht, dass für die von Dir dargestellte Bewegung die „Unabhängigkeit der Finger“ nötig ist?
Zitat @Bachopin:
Das Problem bei schnellen Skalen oder Arpeggien, die eigentlich das gleiche sind, ist, daß ich zur bewussten "Programmierung" der Motorik diese langsam oder sehr langsam üben muß.
Zitat @rolf:
Nein. Weder sind die "eigentlich das gleiche" noch müssen die sehr langsam geübt werden.
Meine Widerworte:
- Gerne freue ich mich auf die Beschreibung, wie Du Skalen und Arpeggien Sechzehntel gleich auf 160 bpm als mittelmäßiger Amateurspieler übst. Ich persönlich hätte auch sehr, sehr gerne die darunter liegenden Metronomstriche nie kennen gelernt. Lehre mich, wie man das langsame Üben einfach unterlassen kann, und ich bin ein glücklicher Herzton. @rolf, schnell ist doch motorisch betrachtet (nicht musikalisch!) relativ und entspricht der jeweiligen Reifestufe des Spielers. Für einen Anfänger, der gerade Viertel auf 100 bpm schafft, ist eben Achtel auf 100 bpm sehr schnell.
- Worin unterscheiden sich Skalen von Arpeggien motorisch? Natürlich sind sie musikalisch nicht das Gleiche. Das meinte @Bachopin aber eben auch nicht. Ich freue mich tatsächlich über Anregungen zum Arpeggienüben, da ich damit durchaus meine Schwierigkeiten habe.
Ich hoffe sehr, an einem weiteren Deiner Beiträge schuldig zu werden,
@rolf.
(Leider bin ich ab morgen bis 07. Dez. weit, weit weg im Sommerurlaub. Daher kann ich erstmal nicht mehr schreiben und bin schon sehr gespannt auf den weiteren Verlauf der Diskussion hier!)