ZEIT ONLINE: Egal, ob Fritzi flennt

Nun denn, bleiben wir bei Kant und betrachten wir dort den "Sinn" und das Problem einer "freiwilligen" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst eben näher. Du selbst hast ja bereits eine in dem Zusammenhang einschlägige Stelle zitiert:

"Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beyden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang."

Genau darauf läuft die "freiwillige" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst hier nämlich hinaus: auf Selbstzwang, oder wenn man so will: auf ein Verinnerlichen des Zwangs. Nach Kant ist der Mensch ja radikal zweigeteilt: sofern er einerseits annehmen kann, ein intelligibles Vernunftwesen zu sein, hat er die bemerkenswerte Fähigkeit, "unabhängig von [den] Naturursachen [...] etwas hervorzubringen [...], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen" (KrV A534/B562), in diesem Fall: in freier Spontanität Regeln und Gesetze allein aus sich selbst hervorbringen und in diesem Sinn sein eigener Urheber sein, reine Verstandesbegriffe bzw. Begriffsregeln etwa ;-) , aber auch solche, die sich auf das moralische Sollen beziehen (Kategorischer Imperativ). Hier gilt: „Das Vermögen, die Motive des Wollens schlechthin selbst hervorzubringen, ist die Freiheit“ (Kant, N5438). Der ganze empirische oder natürliche Rest hingegen, der eher nach Lust oder gar nach Glück strebt, ist dabei zufälligen, nicht selbst geschaffenen, vernunftmäßig und natürlich auch moralisch indifferenten Anreizen und Antrieben verfallen, die ohne sein Zutun in ihm auftauchen von denen er sich nur zu gern mitreißen lässt. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir mögen nach Kant gleichermaßen erhabene Größen sein. Auf Erden, in der Erscheinungswelt hingegen, sofern sie sich erkennen lässt, hat die freie Selbstbestimmung keinen Ort, denn das Naturgesetz „leidet keinen Abbruch“ (KrV B 564), ist folglich „Freiheit nicht zur retten“ und auch nicht empirisch nachweisbar. Die generell suspekte, weil zutiefst unvernünftige menschliche Natur muss daher überwunden, unterworfen und beherrscht werden - zumindest überall dort, wo sie der Forderung der Vernunft widerspricht. Und ist Freiheit allein auf dieser Seite zu finden, ist die Kehr- und Schattenseite der Medaille hier entsprechend Unfreiheit und Zwang. Eigentlich auch logisch: zu einem Zwang gehören zwei Seiten, eine, die zwingt, und eine, die gezwungen wird. Von Freiwilligkeit kann da zumindest im Hinblick auf letztere wohl kaum die Rede sein; andernfalls wäre kein Zwang nötig. Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt o.s.ä. ...

Mit was für einer Autorität aber haben wir es hier andererseits im Grunde zu tun, unter deren gesetzmäßigen Zwang sich unterworfen werden soll? Kantische reine oder reine praktische Vernunft ist eine überlebensgroße Instanz, die im Grunde nicht von dieser Welt ist, im wahrsten Sinn des Wortes ab-solut losgelöst und unabhängig von allen sinnlichen Antrieben, vom „empirischen Charakter“ der individuellen Person, ihrer Lebensgeschichte und ihrer konkreten Lebenssituation. Im günstigsten Fall ist sie eine den Alltagsverstand übersteigende philosophische Abstraktion; im schlimmsten Fall erstarrt sie zu einer rigiden, puristischen welt- und lebensfremden Doktrin. Das hatte bereits Kants Königsberger Zeitgenosse Johann Georg Hamann kritisiert, ist also nun nicht so neu. Im heutigen psychologischen Jargon könnte man wahrscheinlich auch von einer „Überkompensation“ sprechen: Dem Gespenst seiner naturbedingten Unfreiheit, Ausgesetztheit und Schwäche begegnet der Mensch hier mit der Stilisierung zu einem über alle irdischen Bedingtheiten erhabenen, zur absoluten Unbedingtheit überhöhten „reinen“ Vernunftwesen. Der Preis dafür ist womöglich hoch: diese Form von Herrschaft als Selbst-Beherrschung muss mit hohem Energieaufwand bewacht und gesichert werden und ist potentiellen Bedrohungen ausgesetzt, eine prekäre Situation. "Zwischen Vernunft und der von ihr beherrschten äußeren und inneren Natur besteht eine Angstspannung“ (Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 18). Ist wirklich so frei, wer sich auf diese angestrengte Weise laufend selbst gegen sich selbst behaupten und verteidigen muss? Wohl bekomms.
 
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Warum Kant und nicht Luhmann? Oder Tarantino, man vergleiche Pulp Fiction (OK: Auftragmord, nicht OK: Autos beschädigen) oder Reservoir Dogs (OK: Raubüberfall, nicht OK: kein Trinkgeld geben). Die "Bad Guys" halten sich auch Regeln .Sind halt nur u.U. andere ...

Grüße
Häretiker
 
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"Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beyden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang."

Mir gefällt diese These. Ich kenne mich mit Kant leider nicht gut aus: könnte man auch den Umkehrschluss wagen, dass der Mensch, wenn er in seinem Leben vor allem "Tugend" erlebt, automatisch "moralisch gut" wird (wie auch immer die Begriffe in den Anführungszeichen definiert werden)?

Dann nämlich wäre der Unterschied zu Rogers marginal.

Ansonsten sehe ich das alles sehr pragmatisch: beweisen können wir nicht, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist, also nehme ich zu meinem Vorteil das erstere an. Wenn ich nämlich positiv und wertschätzend auf die Menschen (und auf mich) zugehe, werde ich viele angenehme Erfahrungen machen und viel zurückbekommen. Ich fühle mich auch sicherer und wohler in einer mir wohlgesonnenen Gesellschaft. Ich handle also so, wie ich behandelt werden möchte und das geht in 99% aller Fälle gut aus. Ob der Mensch von Natur aus tatsächlich gut oder böse ist, ist dann für mich nicht wirklich relevant. Eine Annahme des Einen oder Anderen lässt uns auf jeden Fall die Welt mit entsprechenden Augen sehen und beeinflusst unser Handeln. Also nehme ich doch lieber das, was für mich und meine Mitmenschen am bequemsten und besten ist. Und genieße damit das Leben! :003::drink:

Liebe Grüße

chiarina
 
wie auch immer die Begriffe in den Anführungszeichen definiert werden
Ich kenne mich auch nicht mit Kant aus, meine aber, dass "moralisch gut" kein objektiver Begriff ist. Verschiedene Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten fanden verschiedene Verhaltensweisen "moralisch gut". Allein das beweist meiner Meinung nach, dass moralisches Verhalten nicht im Menschen angelegt ist, sondern im Zuge der Sozialisierung erlernt wird.

Dem Menschen innewohnend ist vielleicht eher ein gewisser Opportunismus, insbesondere der Wunsch, sich einigermaßen kompatibel zu seiner Umwelt zu verhalten. Darüber funktioniert die Vermittlung von Werten durch die Gesellschaft und deren Akzeptanz durch das Individuum, unabhängig davon, welche Werte das in einer konkreten Gesellschaft jeweils sind.

Wenn ich nämlich positiv und wertschätzend auf die Menschen (und auf mich) zugehe, werde ich viele angenehme Erfahrungen machen und viel zurückbekommen.
Das ist gewiss ein guter Ansatz!
 
Ich kenne mich mit Kant leider nicht gut aus: könnte man auch den Umkehrschluss wagen, dass der Mensch, wenn er in seinem Leben vor allem "Tugend" erlebt, automatisch "moralisch gut" wird (wie auch immer die Begriffe in den Anführungszeichen definiert werden)?
Ich würde auch vermuten, wer von klein auf gut behandelt wird und gute Erfahrungen mit anderen Menschen machen kann, neigt eher dazu, auch seinerseits andere gut zu behandeln, ohne deswegen erst innere Widerstände überwinden zu müssen; wer hingegen viel Selbst- und Fremdzwang erlebt wird dadurch auch zu einem entsprechenden Charakter geformt. Und wie man in den Wald hineinruft schallt es (meist) auch wieder zurück. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Wäre ja auch sonderbar, wenn Lebenserfahrung nicht prägen und keine Spuren hinterlassen würde. Und Tugenden sind angeblich ja auch nicht zuletzt eine Sache des (Aus-)Übens und Wiederholens ;-) . Bei Kant steht die Sache aber wohl noch etwas anders:

Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an.- Das erste folgt daraus, daß sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleich wohl sich ihm beständig zu nähern aber dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen affizierten Natur des Menschen, unter deren Einfluß die Tugend, mit ihren einmal für allemal genommenen Maximen, niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt; weil sittliche Maximen nicht so, wie technische, auf Gewohnheit gegründet werden können (...) sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde, das Subjekt damit die Freiheit in Nehmung seiner Maximen einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist. (I. Kant: Die Metaphysik der Sitten)

Anders gesagt: "automatisch"/aus zwangloser Gewohnheit oder gar aus blinder und knechtischer Neigung in einer bestimmten Weise handeln ist nach Kant leider etwas anderes als "moralisch gut" und auch als "frei/freiwillig", auch wenn die Handlung selbst noch so wünschenswert ist. Es muss schon auch die 'richtige' Motivation des Willens hinzukommen ("aus Pflicht"). Alles andere wäre auch kein besonderer moralischer Verdienst (man muss sich das wie so vieles ja auch erst einmal mühsam erarbeiten, nicht wahr ... ;-) ). Kants Ethik wird ja auch nicht umsonst manchmal als "deontologische Ethik" bezeichnet und von konsequentialistischen Ethiken wie auch von Tugendethiken - der aristotelischen etwa, oder moderner: zB der von Philippa Foot ("natural goodness") oder Martha Nussbaum - unterschieden. Ein weites Feld. :003:
 
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Darüber hat sich schon vor über 50 Jahren mein Vater mit dem Dorfpastor gestritten.

Na, welchem Predigerseminar war denn der entsprungen; sicherlich keinem das der brandenburgisch-bayreuthisch-ansbachischen Kirchenordnung unterlag. Sonst hätte er an solch neosokratischen Firlefanz keinen Gedanken verschwendet und es wäre sonnenklar für ihn gewesen, dass dem Menschn das erbsündenhaft Böse nur durch Auswendiglernen der fünf Hauptstücke des lutherischen Katechismus plus der wichtigsten vierzig Kirchenlieder auszutreiben sei. Dem Menschen gebührt eindeutig ein Ehrenplatz im Lexikon der Männer auf verlornem Posten. Und wegen seines Versagens muss man dem Werke jetzt eigens wegen dir einen Supplementband hinzufügen. ;)
 
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es wäre sonnenklar für ihn gewesen, dass dem Menschn das erbsündenhaft Böse nur durch Auswendiglernen der fünf Hauptstücke des lutherischen Katechismus plus der wichtigsten vierzig Kirchenlieder auszutreiben sei.

Wenn mich meine sehr blasse Erinnerung nicht trügt, ging seine Argumentation auch eher in diese Richtung. Gerade deswegen fühlte sich mein Vater herausgefordert, kräftig dagegenzuhalten, zumal er ihn ohnehin nicht mochte (womit er aus guten Gründen nicht allein war)…. :003:
 
Es ging um Erziehungsmethoden. Aufhänger: Ein Artikel der ZEIT über eine uns unbekannte Musikschule. Um den Begriff der "Schwarzen Pädagogik". Darum, was URSPRÜNGLICH "Schwarze Pädagogik" genannt wurde (die aufklärerische, einige Protagonisten wurden beispielhaft genannt) und ein bisschen auch um Kritik der Pädagogik als akademisches Fach.

Wer véritablement über Kantsche Philosophie diskutieren möchte, möge dies bitte nicht mit bis aufs Wort identischen Versatzstücken aus Wikipedia et al. tun (ohne die Quelle zu benennen schon gar nicht), und vielleicht auch nicht in diesem Thread* und erst recht nicht auf Grundlage von Tertiärliteratur.

  • Fachdidaktisch hätte ich zunächst den Tipp parat, nicht schon zum propädeutischen Einstieg abgepinnte Einzelzitate aufeinander zu beziehen und alles fröhlich zu vermengen.
  • Zweiter Tipp: Nicht gleich das ganz dicke Brett zu bohren versuchen (KrV, KdU, KpV, MdS),
  • sondern zwecks Einlesens in die sperrige Sprache und in das ungewohnte Wording die Grundlegung und die Prolegomena zu wählen.

* Es gibt nämlich schon einen, wo man solche Ambitionen ausagieren kann: https://www.clavio.de/threads/philosophie-eine-hommage.20283/
 

Hier wurde ja von jemandem das Buch " Burn out Kids" von M. Schulte - Markwort empfohlen. Zum Instrumentalunterricht steht hier sinngemäß, dass die hohe Anforderung von 10 Minuten üben pro Tag hochbegabten Kindern vorbehalten sein soll und wörtlich " sonst aber reicht es völlig aus, dass ein Kind sich soviel mit seinem Instrument beschäftigt, wie es mag, oft reichen auch die Stunden beim Musiklehrer aus"..... Ohne Worte! Davor habe ich M. Winterhoff gelesen und seine zwar plakativ Sicht der Dinge spiegelt eher meine eigenen Beobachtungen zu heutigen Kindern und Jugendlichen, auch sein Ansatz gefällt mir.
 
Es ging um Erziehungsmethoden. Aufhänger: Ein Artikel der ZEIT über eine uns unbekannte Musikschule. Um den Begriff der "Schwarzen Pädagogik". Darum, was URSPRÜNGLICH "Schwarze Pädagogik" genannt wurde (die aufklärerische, einige Protagonisten wurden beispielhaft genannt) und ein bisschen auch um Kritik der Pädagogik als akademisches Fach.
Richtig. Und vielleicht ist für den einen oder anderen nun auch nachvollziehbarer, warum das so genannt wurde und auch eine "freiwillige Unterwerfung" unter eine vernünftige Instanz in sich selbst - die ja auch zur Debatte stand - so freiheitlich dann womöglich auch nicht unbedingt ist (auch Selbstzwang ist Zwang) bzw. durchaus auch eine bedenkliche Schattenseite haben kann. Bei Kant, der ja ein sehr systematischer Denker war, ist das sicher auch vor dem Hintergrund seiner theoretischen und praktischen Philosophie zu sehen, die in diesem Kontext natürlich nur kurz und bruchstückhaft angerissen werden kann. Vielleicht missdeute ich Kant da ja aber auch? Wer dazu inhaltliche Anmerkungen, Richtigstellungen oder Einwände hat - was allerdings mühsam ist - gerne; auf den wohlfeilen Rest möchte ich eigentlich nicht weiter eingehen. Ein Forumsbeitrag ist keine Abhandlung, die akademischen Standards genügt, und muss es auch nicht sein.
 
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Nun denn, bleiben wir bei Kant und betrachten wir dort den "Sinn" und das Problem einer "freiwilligen" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst eben näher. Du selbst hast ja bereits eine in dem Zusammenhang einschlägige Stelle zitiert:

"Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beyden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang."

Genau darauf läuft die "freiwillige" Unterwerfung unter eine vernünftige Instanz in sich selbst hier nämlich hinaus: auf Selbstzwang, oder wenn man so will: auf ein Verinnerlichen des Zwangs. Nach Kant ist der Mensch ja radikal zweigeteilt: sofern er einerseits annehmen kann, ein intelligibles Vernunftwesen zu sein, hat er die bemerkenswerte Fähigkeit, "unabhängig von [den] Naturursachen [...] etwas hervorzubringen [...], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen" (KrV A534/B562), in diesem Fall: in freier Spontanität Regeln und Gesetze allein aus sich selbst hervorbringen und in diesem Sinn sein eigener Urheber sein, reine Verstandesbegriffe bzw. Begriffsregeln etwa ;-) , aber auch solche, die sich auf das moralische Sollen beziehen (Kategorischer Imperativ). Hier gilt: „Das Vermögen, die Motive des Wollens schlechthin selbst hervorzubringen, ist die Freiheit“ (Kant, N5438). Der ganze empirische oder natürliche Rest hingegen, der eher nach Lust oder gar nach Glück strebt, ist dabei zufälligen, nicht selbst geschaffenen, vernunftmäßig und natürlich auch moralisch indifferenten Anreizen und Antrieben verfallen, die ohne sein Zutun in ihm auftauchen von denen er sich nur zu gern mitreißen lässt. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir mögen nach Kant gleichermaßen erhabene Größen sein. Auf Erden, in der Erscheinungswelt hingegen, sofern sie sich erkennen lässt, hat die freie Selbstbestimmung keinen Ort, denn das Naturgesetz „leidet keinen Abbruch“ (KrV B 564), ist folglich „Freiheit nicht zur retten“ und auch nicht empirisch nachweisbar. Die generell suspekte, weil zutiefst unvernünftige menschliche Natur muss daher überwunden, unterworfen und beherrscht werden - zumindest überall dort, wo sie der Forderung der Vernunft widerspricht. Und ist Freiheit allein auf dieser Seite zu finden, ist die Kehr- und Schattenseite der Medaille hier entsprechend Unfreiheit und Zwang. Eigentlich auch logisch: zu einem Zwang gehören zwei Seiten, eine, die zwingt, und eine, die gezwungen wird. Von Freiwilligkeit kann da zumindest im Hinblick auf letztere wohl kaum die Rede sein; andernfalls wäre kein Zwang nötig. Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt o.s.ä. ...

Mit was für einer Autorität aber haben wir es hier andererseits im Grunde zu tun, unter deren gesetzmäßigen Zwang sich unterworfen werden soll? Kantische reine oder reine praktische Vernunft ist eine überlebensgroße Instanz, die im Grunde nicht von dieser Welt ist, im wahrsten Sinn des Wortes ab-solut losgelöst und unabhängig von allen sinnlichen Antrieben, vom „empirischen Charakter“ der individuellen Person, ihrer Lebensgeschichte und ihrer konkreten Lebenssituation. Im günstigsten Fall ist sie eine den Alltagsverstand übersteigende philosophische Abstraktion; im schlimmsten Fall erstarrt sie zu einer rigiden, puristischen welt- und lebensfremden Doktrin. Das hatte bereits Kants Königsberger Zeitgenosse Johann Georg Hamann kritisiert, ist also nun nicht so neu. Im heutigen psychologischen Jargon könnte man wahrscheinlich auch von einer „Überkompensation“ sprechen: Dem Gespenst seiner naturbedingten Unfreiheit, Ausgesetztheit und Schwäche begegnet der Mensch hier mit der Stilisierung zu einem über alle irdischen Bedingtheiten erhabenen, zur absoluten Unbedingtheit überhöhten „reinen“ Vernunftwesen. Der Preis dafür ist womöglich hoch: diese Form von Herrschaft als Selbst-Beherrschung muss mit hohem Energieaufwand bewacht und gesichert werden und ist potentiellen Bedrohungen ausgesetzt, eine prekäre Situation. "Zwischen Vernunft und der von ihr beherrschten äußeren und inneren Natur besteht eine Angstspannung“ (Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 18). Ist wirklich so frei, wer sich auf diese angestrengte Weise laufend selbst gegen sich selbst behaupten und verteidigen muss? Wohl bekomms.
Zu dieser ganzen Thematik möchte ich allen sehr ein Buch ans Herz legen!

Lasst Euch nicht von der sehr zwanglosen und humorvollen Sprache des Autors irritieren oder abschrecken - der Inhalt ist wirklich profund, und Kants Grundsätze kommen auch zu Ehren! Eins der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe!

https://www.amazon.de/Everything-Fu...qid=1584114918&sourceid=Mozilla-search&sr=8-2
 
[...]Ich handle also so, wie ich behandelt werden möchte und das geht in 99% aller Fälle gut aus. Ob der Mensch von Natur aus tatsächlich gut oder böse ist, ist dann für mich nicht wirklich relevant. [...]

Hi Chiarina,

ein interessanter und spannender Punkt. Aber ich glaube, dies ist auch individuell Lebens-Umfeld-abhängig.

Wer sich, wie ich, unter Gelichter und in der hannoverschen Halbwelt aufhält, :-D:teufel::-Dund dennoch Kultur und humanistische Ansätze wie Deinen lebt, könnte evtl. mal derbe enttäuscht werden, das möchte ich mit dem „Möchte“ aus Deinem Beitrag begründen:

Es gibt nämlich Zeitgenossen, die machen den ERSTEN Schritt, fragen dabei NICHT danach, was man „möchte“, und durchkreuzen die hehren Ideen ….z.B. mittels Drohungen, der Faust oder dem Messer. Oder gar mit ungehobeltem frechen anderweitigen Verhalten. Bist Du dann immer noch freundlich ( denn so möchtest Du ja behandelt werden ) ?

Wer macht den ersten Schritt...: Da mir dies zu kompliziert ist, habe ich – ich erwähnte es früher mal – eine abgewandelte Philosophie für mich angesetzt. Auch sie funktioniert, sagen wir, zu 80 %:

  1. ) Wenn ICH auf jemanden zugehe, ist es zu 80 % freundlich, zu 15 % indifferent bis neutral, und zu 5 % unfreundlich bzw. „härter“, letzteres, wenn ich aus best. Gründen die Initiative übernehmen MUSS.

    2. ) Wenn der oder die andere(n) den „ersten Schritt“ machen / macht, behandele ich sie genau so, wie sie mich behandeln, wenn möglich. Das ist im Normalfall freundlich, zu 90 % ca., allerdings sind mir auch bedrohliche Situationen, Frechheit oder Hass nicht fremd. Dann reagiere ich entsprechend.
Wenn gar nix geht, ( 20 % ) bleib ich zu Hause, rauche eine und trink 'nen schönen Rum. :super::super::super:

Herzliche Grüße vom Olli !!:drink:
 
Vielleicht missdeute ich Kant da ja aber auch?

Ja, tust Du. :001: Deshalb habe ich auch so angespitzt reagiert. :001:

freiheitlich dann womöglich auch nicht unbedingt ist (auch Selbstzwang ist Zwang) bzw. durchaus auch eine bedenkliche Schattenseite haben kann

Nein, keine Schattenseite. Wie Du sagst: "System". Kant war philosophiehistorisch der drittletzte (eingefleischte Kantianer sagen: der letzte) Systemphilosoph. In diesem seinem Gesamtsystem wäre Selbstzwang, wie Du schreibst, entweder pathologisch (Zwangsstörung) oder ein Paradoxon (ähnlich der Vorstellung, man könne sich selbst am Haarschopf aus einem Sumpf ziehen). :001:

Mir fällt spontan kein anderes philosophisches Gesamtsystem ein, das der Freiheit / Freiwilligkeit eine so zentrale Bedeutung beimisst. Wenn man Kant kritisieren will, muss man seinen Freiheitsbegriff in Abrede stellen, der völlig bei Kant korrekterweise nur als "Postulat" rangiert. :001:
 
Hier wurde ja von jemandem das Buch " Burn out Kids" von M. Schulte - Markwort empfohlen. Zum Instrumentalunterricht steht hier sinngemäß, dass die hohe Anforderung von 10 Minuten üben pro Tag hochbegabten Kindern vorbehalten sein soll und wörtlich " sonst aber reicht es völlig aus, dass ein Kind sich soviel mit seinem Instrument beschäftigt, wie es mag, oft reichen auch die Stunden beim Musiklehrer aus"..... Ohne Worte! Davor habe ich M. Winterhoff gelesen und seine zwar plakativ Sicht der Dinge spiegelt eher meine eigenen Beobachtungen zu heutigen Kindern und Jugendlichen, auch sein Ansatz gefällt mir.

Liebe trialogo,

ich kannte M. Schulte-Markwort bisher nicht und habe auch das Buch nicht gelesen. Es hat mich aber sehr verwundert, was in seinem Buch nach deinen Worten über Instrumentalunterricht steht. Deshalb habe ich etliche Interviews mit ihm, einem deutschen Kinder- und Jugendpsychiater, Leiter einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche und Unversitätsprofessor, gelesen, z.B.

https://www.zeit.de/2014/14/schueler-burnout-jugendpsychiater/komplettansicht

https://www.deutschlandfunk.de/stre...chsene-den.680.de.html?dram:article_id=409299

https://www.watson.de/leben/intervi...-kita-kindern-ein-kinderpsychiater-klaert-auf .

Die gefallen mir sehr und seine Ansichten finde ich sehr vernünftig. Kann es sein, dass sich die o.g. Aussage über den Instrumentalunterricht auf kranke Kinder, auf Kinder, die Depressionen oder ein Erschöpfungssyndrom haben, bezieht? Das wäre für mich verständlich, würde auch zu dem passen, was ich über ihn gelesen habe, und wäre auch in Bezug auf den Titel des Buchs verständlich, bei dem es ja um Burn-Out geht.

Was die vielen Erziehungsratgeber angeht, die teils sehr unterschiedliche Ansichten vertreten - auch Winterhoff gehört dazu -, so tragen sie häufig einen wahren Kern in sich, der auf Beobachtung und Empirie beruht. Dieser Kern wird aber von den Autoren unterschiedlich gewichtet und das hat sehr viel damit zu tun, wohin sie gucken und welche Schlüsse sie aus ihren Beobachtungen ziehen. Und das hat wiederum sehr viel mit ihrer eigenen Geschichte zu tun, mit dem, welche Haltung sie einnehmen und welche "Brille" sie bei ihren Beobachtungen aufsetzen. Und die Beobachtungen haben sehr viel mit den eigenen sozialen, emotionalen und pädagogischen Fähigkeiten zu tun: ein Mensch, der unklar redet und handelt und von Kindern ein eher negatives Bild hat (Tyrannen ....), wird viele negative Erfahrungen mit Kindern machen. Das liegt aber wesentlich nicht an den Kindern, sondern an ihm.

Liebe Grüße

chiarina
 
Mir fällt spontan kein anderes philosophisches Gesamtsystem ein, das der Freiheit / Freiwilligkeit eine so zentrale Bedeutung beimisst.
Stimmt schon, das wollte ich damit ja auch keineswegs in Abrede stellen! So gesehen doch seltsam, dass er an dieser Stelle tatsächlich von "Selbstzwang" spricht, nicht. Nur ist Kants Freiheitsbegriff im Rahmen seines Systems damit ja auch ein spezieller. Wie Du sagtest: Freiheit ist - wie Unsterblichkeit oder das Dasein Gottes - demnach ein Postulat. Und zwar wenn ich mich recht entsinne ein Postulat der Vernunft, eines Vermögens also, den Bereich der Sinne, der Natur zu übersteigen. Als praktische ist die Vernunft dementsprechend nach Kant eine Fähigkeit, sein Handeln unabhängig von sogenannten "sinnlichen" Bestimmungsgründen, Trieben, Bedürfnissen, Empfindungen, Leidenschaften, ... zu bestimmen nach dem Vernunftfaktum eines Sittengesetzes, das bei Kant ja nicht grundlos auch die Form eines Imperativs hat. Was - wie auch der gestrenge Ausdruck "Pflicht" - dem Umstand geschuldet ist, dass der bekanntlich aus krummem Holze geschnitzte Mensch nun einmal kein reines Vernunftwesen, sondern auch noch vieles andere und damit auch höchst unrein ist.

Diesem Imperativ zu gehorchen, sich ihm zu unterwerfen, das bedeutet, ihm alle Antriebe unterzuordnen, die nicht in diesem Sinne vernünftig und damit nach Kant überhaupt freiheitsfähig sind - die aber dennoch genauso Teil unserer selbst sind. Das "Andere der Vernunft" (Böhme) eben. Und von dieser Seite aus betrachtet mag die Sache mit der Freiheit und Freiwilligkeit dann doch auch ganz anders aussehen. An dieser Stelle bewegen wir uns natürlich zugegebenermaßen außerhalb des imposanten Kantschen Denksystems und betrachten es gewissermaßen von außen. Falsch muss es darum ja nicht gleich sein, eher wohl eine Frage der jeweiligen Perspektive. Oder ums so zu sagen: "pure Vernunft darf niemals siegen" (Tocotronic) :003:.

Aber mag sein, das sprengt auch etwas den Rahmen dieses Threads, in dem es um Kindererziehung, schwarze und sonstige Pädagogik gehen soll. Bzw. darum, ob egal ist, wenn Fritzi "flennt" ;-) .
 
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