Wolfgang Weller, WARUM MIT NOTEN KONZERTIEREN ?

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10. Dez. 2010
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WARUM MIT NOTEN KONZERTIEREN?

1. Die schriftliche Überlieferung ist ein wesentliches Element der abendländischen Kunstmusik. Das Auswendiglernen von vielen hundert Musikstücken, die jeweils Minuten bis Stunden dauern können, ist nicht nur zeitraubend, sondern auch, außer zu pädagogischen Zielen, als bloße circensische Leistung weder Mittel zum Zweck noch von irgend einem künstlerischen Wert.

2. Die aktive Gedächtnisleistung beim Reproduzieren kann die Konzentration auf die Gestaltung behindern. Die passive Gedächtnisleistung als bloßes Wieder-Erkennen des früher studierten Notentextes beim Nachlesen läßt hingegen für die Gestaltung genügend Energien frei. Der Künstler kann qualitativ mehr vermitteln.

3. In den letzten 400 Jahren sind mindestens 300.000 Klavierwerke von einigem Anspruch entstanden; mindestens 10% sind von so hohem künstlerischem Wert, daß sie vorgetragen zu werden verdienen. Die Lebensleistung eines auswendig konzertierenden Pianisten übersteigt auch in herausragenden Fällen selten 500 sofort aus dem Gedächtnis abrufbare Einzelstücke. Wer auswendig konzertiert, verzichtet also auf vieles Schöne. Solche Askese ist gerade in dürftiger Zeit fehl am Platze.

4. Auswendigspiel wird aus Gründen der Konvention bzw. einer etwa 150jährigen dubiosen Tradition erwartet - wird es das? Eine gewisse Sensationslust des (inzwischen übrigens fast ausgestorbenen) Bildungsbürgertums mag dazukommen. Aber wird die Musik dadurch besser? Verfolgt man bei auswendig konzertierenden Pianisten den Notentext, ist die Diskrepanz zwischen dem Notierten und dem Gehörten meist ziemlich verblüffend.

5. Die Künstlerschaft ist demnach durch Auswendigspiel stark gefährdet, und der Interpret ist zu einem beschränkten Repertoire gezwungen. Spiel von den Noten hingegen bringt Leistungssteigerung in jeder Hinsicht und vergrößert sowohl Freiheit als auch Sicherheit und Perfektion der Künstler und damit auch den Kunsteindruck beim Zuhörer.

6. Auswendig konzertieren Interpreten, vor allem Pianisten, besonders gern, wenn sie in einer Saison das gleiche Konzertprogramm viele Male wiederholen. Aber im Ernst: welcher ernsthafte Künstler, ernst genommen werden wollende neuzeitliche Künstler, will das schon? Wer zwanzig Mal in einer Saison die Mondscheinsonate gespielt hat, wird sie wohl auswendig können. Aber sollte man sie wirklich zwanzig Mal spielen, interpretieren - und sich dabei zu Tode langweilen?

7. Das Spiel ohne Noten hat dort seinen Platz, wo es keine Noten gibt: bei der freien Phantasie oder Improvisation. Außerdem kann aus pädagogischen Gründen Auswendiglernen nötig werden. Und es spricht natürlich keineswegs etwas dagegen, die eine oder andere Beethoven-Sonate, einige Chopin-Etüden oder etwas aus dem Wohltemperierten Klavier im Gedächtnis zu haben.

8. Franz Liszt hat das Auswendig-Spiel und Auswendig-Dirigieren (“dieses geschieht immer auf Kosten des Werkes!”) noch im Alter verurteilt, wenn es als Selbstzweck oder Sport betrieben wurde. Er forderte es aber dort, wo es seiner Ansicht nach die Komposition erheischte oder der besonderen Begabung des Interpreten entsprach.

9. Die Dichterin Bettina von Arnim tadelte das zu ihrer Zeit (ca. 1840-50) in Mode kommende öffentliche Auswendigspiel einiger Pianisten als Selbstüberheblichkeit. Nach anderthalb Jahrhunderten musikalischer Untugend sollten wir wieder den Respekt vor der Musik unserer großen Meister und ihrer Niederschriften neu lernen. Lernen wir - Notenlesen!

© Wolfgang Weller 1990
aktualisiert 2008-2011
 
Mit ähnlichen Argumenten - zusammengefaßt: Respekt und Achtung vor der Komposition - hat Tzimon Barto sein zeitweises Spiel nach Noten begründet.

(Und für den "nur" Liebhaber sind diese Argumente wahre Labsal: Entheben sie ihn doch der Mühe und des Zeitaufwandes, Kompositionen nicht nur gut zu lernen, sondern auch noch bis zur letzten Note perfekt im Gedächtnis zu verankern, ohne das Gefühl haben zu müssen, nur "halbe Sachen" gemacht zu haben.)

LG

Pennacken
 

Über diesen Satz bin ich auch gestolpert, weil ich ihn im Zusammenhang sehr merkwürdig finde. Darum geht es doch gar nicht! Wenn man ein Stück auswendig kann, kennt man den Notentext in der Regel in- und auswendig, außerdem schaut man natürlich immer wieder in den Notentext hinein.

Ansonsten zitiere ich mal hasenbein und ppetc, die gerade heute in einem anderen Faden folgendes gepostet haben:


Auswendigspielen ist nicht wichtig.

Das ist etwas, was im 19. Jahrhundert im Zuge der Virtuosenwelle als zusätzlicher Poser-Effekt (Heeeey, Leute, ich spiel dieses superschwierige Stück sogar auswendig!) aufgekommen ist und ab da zum Standard wurde (u.a. hierin nachzulesen: http://art-live.de/DISS_PDFVERSION16-Bilder.pdf ).

Natürlich ist es völlig ok und gut, wenn jemand das Stück so gut internalisiert hat (sehr schön im Englischen: "to play by heart" statt "auswendig" - schon der Ausdruck "inwendig" wäre 10x besser als "auswendig"), daß er es ohne Notenhilfe spielen kann - aber es ist natürlich, gerade in einer Wettbewerbssituation, Quatsch, zu verlangen, daß auf Noten als "Netz und doppelter Boden" (mehr sind sie ja nicht, wenn man das Stück kann) verzichtet wird. Entscheidend ist doch nur, was als Musik herauskommt!

Erinnerungslücken oder ein "hoffentlich vergesse ich an der Stelle nicht, richtig abzubiegen" oder ein "hoffentlich vergesse ich nicht, daß an der Stelle der Akkord etwas variiert steht" können ein großes Hindernis bei der Konzentration auf die musikalische Gestaltung sein!

LG,
Hasenbein




Unabhängig davon, was irgendwo steht, ist für mich das "Auswendig-Können"
der Beginn etwaigen Übens - also nicht etwa irgendein "Endzweck", den man
irgendwem irgendwo vorführt - sondern die Grundbedingung, etwas verstehen
zu können, um damit anzufangen, etwas verstehen zu können.


Damit man die Tasten auswendig finden lerne und das nöthige
Noten-Lesen nicht beschwerlich falle, wird man wohl thun, wenn
man das Gelernte fleißig auswendig im Finstern spielet.

Carl Philipp Emanuel Bach ~ Versuch​


CPE ist mein Held - der macht gleich beides: auswendig und blind, um dann
beim Ensemble-Spiel prima vista korrekt hinfetzen zu können. So gehört sich das :D

Mit geflissentlich inwendigen Grüßen

stephan

Beide Standpunkte haben etwas für sich! Ich für mich muss ein Stück auswendig können, um es wirklich verinnerlicht zu haben. Ich schaue mir vor dem Erarbeiten ja bereits den Notentext an und erkenne Strukturen, stelle mir den Klang vor etc.. Ich mache es selbst allerdings nicht so, dass ich VOR dem Üben eines Stückes dieses bereits auswendig kann. Das ergibt sich nämlich in kürzester Zeit während des Übens. Indem ich so übe, dass ich die Strukturen, Klangschichten und Entwicklungen des Stücks höre und wahrnehme, lerne ich sie automatisch auswendig das geschieht von selbst. Ich übe sehr oft auswendig, weil ich mich dann ganz auf das Hören und Fühlen konzentrieren kann.

Aber das muss natürlich nicht jeder so machen.

Im Übrigen kennen natürlich Pianisten nicht nur die Stücke, die sie auswendig spielen, sondern auch andere, die sie z.B. prima vista spielen.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich glaube wenn man ein anspruchsvolles Stück zur Aufführungsreife bringt, kann man es eh auswendig. Was völlig unerwähnt bleibt ist das Umblättern. Ich kann mir kaum was störenderes Vorstellen als einen Pianisten beim einem Soloauftritt, der andauernd umblättern muss.
 
Mir imponieren auch Spieler, die während ihrer Auftritte umblättern können, flitzartig die Takte finden und darauf schauen, die ihnen als "Notiz" in dieser Sekunde dienlich sind, auswendig weiter spielen und wieder schauen und finden ...., währenddessen die Finger ebenweg wie von selbst über die Tastatur fliehen, Musik erklingt, die erklingen soll und muß in diesem Moment und am Ende ein Ganzes enstanden ist und den Zuhöhrer noch erfüllt hat.
Entscheidend ist doch, was am Ende rauskommt.

Kulimanauke
 
Entscheidend ist doch, was am Ende rauskommt.


Liebe Kulimanauke,

Das sehe ich auch so. So wie du es beschreibst, wird ja auch Kammermusik gemacht, bei der der Klavierpartner in der Regel nach Noten spielt. Und Kammermusik ist qualitativ nicht schlechter als Solo. :p

In S. Richter's späten Jahren hat er auch immer nach Noten gespielt und sich dafür einen Umblätterer besorgt. Mit einem IPad geht das heutzutage vielleicht schon ohne. Solisten, die mit Orchester zusammen spielen, verkleinern sich oft die Noten und haben sie in Kniehöhe als Sicherheit stehen. Albrecht Mayer hat so neulich das Oboenkonzert von Strauss gespielt. Geiger machen es z.T. ebenso bei den Partiten von Bach.

Man muss also nicht, man kann. Es ist auch eine Sache der Gewohnheit und Erfahrung.

Trotzdem gefällt es mir anders besser (s.o.). Schauspieler lesen ihren Text auch nicht ab.

Liebe Grüße

chiarina
 
@ Schauspieler lesen ihren Text auch nicht ab.

Liebe Chiarina,

wenn diese auf der Bühne mit den Zetteln laufen würden, würde es mir wahrlich auch nicht gefallen, aber wenn ein Schauspieler (oder ein ander "Vorleser) von einem Zettel vorträgt, muß man auch noch unterscheiden. Es gibt ausgezeichnete Vorleser, weil eben ihre Stimme und Ausdruck darüberhinaus Etwas hören lassen, während das viele Vorleser eben nicht können. Wenn der Kopf ständig auf dem Papier fixiert ist, nützt der beste Text nichts.

Interessant, den Gedanken mit dem Schauspieler hatte ich vorerst beim Schreiben auch ;)

herzlich
Kulimanauke
 
Man muss also nicht, man kann. Es ist auch eine Sache der Gewohnheit und Erfahrung.

So kann mans natürlich auch sagen.

Karl Kraus antwortete auf die Frage, weshalb er denn
ins Buch schaue, wenn er öffentlich Texte spreche, die
er sein Leben lang aus- und inwendig kannte:

"Damit ich das Publikum nicht sehe."

Herzliche Grüße!

stephan
 
Ich selbst mag keine musizierenden Angeber, die stolz ihre Virtuosität über die Musik stellen und mit Effekten nach Anerkennung haschen. Wenn die dann noch zu verstehen geben "und auswendig kann ich es natürlich auch spielen", ist das quasi das i-Tüpfelchen. Eigentlich ist das auch ein anderes Thema, wenn man von einer der Thesen im Eingangszitat absieht, in der behauptet wird, auswendig zu spielen sei generell Angeberei, was natürlich absoluter Quatsch ist.

Jedes Stück, das ich mir erarbeitet habe, musste ich nicht extra auswendig lernen. Wenn ich es so lange geübt habe, dass ich es von der Technik und vom Ausdruck her für mich ausreichend gut spielen kann, ist es bereits in meinem Gedächtnis. Das geht vielen so, wie ich schon mehrfach gelesen habe. Das Ausweniglernen ist dann keine weitere Hürde oder besonderer Fleiß oder Mühe, es hat sich dann längst erledigt.

Und wie auch bereits gesagt wurde: entscheidend ist, was bei der Aufführung musikalisch rauskommt. Ob dann jemand vom Blatt spielt, die Noten als Gedächtnishilfe dort stehen hat, oder ohne Noten aus dem Gedächtnis spielt, ist doch völlig egal. Sollte das Umblättern dann Beeinträchtigungen mit sich bringen, z. B. das es vernehmbare Geräusche hinterlässt oder der selbst umblätternde Pianist Noten weglassen muss, bevorzuge ich in diesem Fall natürlich das auswendige Spiel, weil dann für mich musikalisch auch nicht mehr das Optimum rauskommt.
 

Ich selbst mag keine musizierenden Angeber, die stolz ihre Virtuosität über die Musik stellen und mit Effekten nach Anerkennung haschen. Wenn die dann noch zu verstehen geben "und auswendig kann ich es natürlich auch spielen", ist das quasi das i-Tüpfelchen.


Das Blöde ist, dass es oft genau umgekehrt ist. :p Besonders wenn man Leuten vorspielt, die sonst eher nicht in solche Konzerte gehen. Da hat man seiner Meinung nach ganz schön gespielt und eine lebendige musikalische Geschichte erzählt, worüber wird staunend als Erstes gesprochen: "Boah, auswendig!!!!!!!!!!!!!!!! Wie kann man sich bloß die ganzen Noten merken???".....................................................:???: (natürlich meinen es die Leute nicht böse)

Als Zweites dann: "Boah, wie kann man bloß so schnell die Finger bewegen?" :???:

:(

Liebe Grüße

chiarina
 
Mein KL meint immer, er hänge auch vom "Typ" ab, ob eher ohne oder mit Noten gespielt wird. Können solle man möglichst beides, wobei die Affinität zu einen oder anderen Spielweise aber erhalten bleibe. Es gäbe den "Typen", der schnell auswendig lernt und den Blick in die Noten eher als hinderlich ansieht, und dann den, der ohne Noten ziemlich "alt" aussieht. Für die Qualität des Spiels sei das aber kein Maßstab..... Meine bescheidenen Beobachtungen bestätigen das. Daher halte ich auch nichts davon, beide "Methoden" gegeneinander "auszuspielen".
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Können solle man möglichst beides, wobei die Affinität zu einen oder anderen Spielweise aber erhalten bleibe.

Lieber gubu,

wobei natürlich an Musikhochschulen bei Aufnahmeprüfungen, in den entsprechenden Examen und Vorspielen die auswendige Spielweise gefordert ist. Und wenn man das dann jahrelang so gemacht hat oder machen musste, ist man es meistens gewohnt und weiß damit umzugehen. Also habe ich solistisch immer auswendig gespielt (wenn man das Ziel eines Musikstudiums hat, spielt man auch in der Jugend schon immer auswendig) und kammermusikalisch immer nach Noten. Die Situation hat es sozusagen erfordert und Affinitäten hatten da nichts zu suchen. :p

Bei Laien ist das natürlich etwas ganz anderes. Und was Profis machen, ist mir eigentlich auch egal, Hauptsache das Endergebnis stimmt. Deshalb bin ich auch absolut der Meinung, beides nicht gegeneinander auszuspielen.

Liebe Grüße

chiarina
 
Mein KL mit jahrzehntelanger Erfahrung als Hochschullehrer, Solist und Kammermusiker meint immer, er hänge auch vom "Typ" ab, ob eher ohne oder mit Noten gespielt wird. Können solle man möglichst beides, wobei die Affinität zu einen oder anderen Spielweise aber erhalten bleibe. Es gäbe den "Typen", der schnell auswendig lernt und den Blick in die Noten eher als hinderlich ansieht, und dann den, der ohne Noten ziemlich "alt" aussieht. Für die Qualität des Spiels sei das aber kein Maßstab..... Meine bescheidenen Beobachtungen bestätigen das. Daher halte ich auch nichts davon, beide "Methoden" gegeneinander "auszuspielen".[/QUOTE



hier ein Beitrag; Jean Muller: "Als Interpret hat man Verantwortung und kann nicht alles auf den Notentext abwälzen"
 
Trotzdem gefällt es mir anders besser (s.o.). Schauspieler lesen ihren Text auch nicht ab.

Der Vergleich hinkt aber ein bisschen. Denn die Arbeit eines Schauspieler ist für Ohren und Augen. Den Text abzulesen würde unmittelbar die Qualität der Darbietung beeinträchtigen. Beim Musiker hingegen ist das nicht so. Denn Musik ist nur für die Ohren.

Grüße von
Fips
 
Wär eine schöne Idee für Regietheater-Regisseure:
eine Oper als Opernprobe zu inszenieren.

Die Sänger stehen in zerknautschten Jeans und zerfledderten T-Shirts
auf der Bühne - mit dem Klavierauszug vor der Nase. Sie singen aus ihren Noten
und deuten nur zwischendurch kleine Gesten an.

Hin und wieder springt der Regisseur (schwarzgekleidet) auf und führt bestimmte Personen zueinander.

Bayreuth 2013?
 
Der Vergleich hinkt aber ein bisschen. Denn die Arbeit eines Schauspieler ist für Ohren und Augen. Den Text abzulesen würde unmittelbar die Qualität der Darbietung beeinträchtigen. Beim Musiker hingegen ist das nicht so. Denn Musik ist nur für die Ohren.

Lieber Fips,

ja, das stimmt. Ein Schauspieler arbeitet ja mit Körpersprache, Gestik und szenische Darstellung. Insofern hinkt der Vergleich tatsächlich. Allerdings sind die Augen beim Live-Konzert durchaus mit dabei (es sei denn, man schließt die Augen). Ganz besonders bei einem Klavierabend, bei dem die Aufmerksamkeit nur auf eine Person gerichtet ist. Auch ein Pianist hat eine Körpersprache und die sollte mit dem Gehörten übereinstimmen.

Liebe Grüße

chiarina
 

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