Wir können also trollen, daß sich die Balken biegen...
Ich fange an und frage: Ist moderne Musik quantitativ besser?
Ja gut, mach ich mal mit und setz hier einfach blindlings ein wo von ich keine Ahnung habe:
Vor zwei Wochen war an dieser Stelle zu lesen, die neue Musik sei "einsam alt" geworden und die Zeitgenossen der zeitgenössischen klassischen Musik stürben langsam aus. Es war die einleitende Bemerkung zu der Frage, warum das, was Komponisten heutzutage schreiben
Von dem Kollegen Christoph Drösser so umstandslos ans Grab der zeitgenössischen Musik geführt zu werden war doch sehr irritierend, denn es stimmt ja nicht: Zu den vermeintlichen Beerdigungen kommen immer wieder erstaunlich viele Menschen – und vor allem junge!
10.000 waren es bei den gerade zu Ende gegangenen Donaueschinger Musiktagen. Als Simon Rattle im vergangenen Jahr Stockhausens Orchesterwerk
Gruppen aufführte, platzte der riesige Flugzeug-Hangar in Berlin-Tempelhof aus allen Nähten. Und ein Dirigent wie Kent Nagano feiert nicht trotz, sondern wegen seines Beharrens auf Gegenwartsmusik in den symphonischen Abonnementkonzerten große Erfolge. Vom Aussterben der neuen Musik kann keine Rede sein.
Der Blickwinkel, aus dem sich dieses Phantasma immer wieder bildet, ist stets der gleiche. Christoph Drösser gibt ihn zu erkennen, wenn er das "breite Publikum" erwähnt und feststellt, Arnold Schönberg und Karlheinz Stockhausen hätten "nicht den Eingang in die populäre Kultur" gefunden". Es ist der Standpunkt des musikalischen Massengeschmacks, von dem aus definiert wird, was lebt und im Sterben liegt, welche Musik "uns" Lust bereitet und welche "uns" überfordert. Aber ist der Massengeschmack auch ein Maßstab für die Hirnforschung?
Was zählt zur Musik-Grammatik – die Beatles oder auch der späte Beethoven?
Eine zentrale Erkenntnis wird in Drössers Artikel nicht verschwiegen: Unser Hören ist kulturell geprägt. Es gibt keine absoluten Kriterien für das, was das menschliche Gehirn als schön oder "zu schräg" wahrnimmt. Jede Musikkultur von der Polymetrie der zentralafrikanischen Pygmäen bis zum tibetanischen Obertongesang schafft sich dafür ihren eigenen Erfahrungsraum.
Dass das Hören kulturell geprägt ist, gilt folgerichtig auch innerhalb unserer tief greifend pluralistischen und unendlich ausdifferenzierten westlichen Musikkultur mit ihrer Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart im Repertoire der Klassikkonzerte, mit ihren extremen Spielarten des Pop, dem immer stärker werdenden Einfluss der Weltmusik und den vielsträhnig ausgreifenden Komponieransätzen der sogenannten E-Musik-Avantgarde.
Der Musikwissenschaftler Herbert Bruhn wird zu Recht von Drösser mit dem Satz zitiert: "Die Forscher staunen, wie plastisch unser Gehirn ist – es kann sich in die unterschiedlichsten Musikstile ›hineinhören‹ und verändert sich dabei ständig."
Der frühere Kulturdezernent meiner rheinischer Stadt mit bekannter Vergangenheit meinte einmal, als gerade "Die Fledermaus" und "Arabella" auf dem Programm standen: "Der Strauß, sehr beeindruckend!" Na ja, kann passieren, nicht so schlimm.
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Thomas.W70
#2 — 1. November 2009, 12:21 Uhr
Falsche Debatte
Im Grunde ist die Debatte uralt. Schon zu Schönbergs Zeiten argumentierten Kritiker damit, dass das Ohr nicht dazu gemacht sei, die Komplexität von atonalen Kompositionen zu erfassen und der Dirigent Ernest Ansermet hat ein dickes Buch darüber geschrieben, um diese These wissenschaftlich zu belegen.
Claus Spahn hat insoweit vollkommen Recht, eine naturwissenschaftliche Herangehensweise an diese Problematik als obsolet zu erklären, da es zum Wesen der Kunst gehört, das noch nicht bekannte, das unerwartete zu erforschen.
Viele ernsthaft Kunstinteressierte kennen die Erfahrung, dass oft das, was einen bei der ersten Begegnung befremdete oder überforderte, sich im Laufe der Zeit als das wahrhaft interessante und großartige entpuppt, während das, was einem unmittelbar große Befriedigung verschaffte seinen Reiz oft schnell wieder verlor.
Was mir bei der Beschäftigung mit Neuer Musik jedoch viel bedenklicher erscheint, ist, dass diese Musik mir jenseits eines rein professionellen Interesses keinen persönlichen Mehrwert mehr liefert. Was moderne Romane noch bieten, das Kino und immer mehr auch hochklassige TV Serien, das ist der zeitgenössischen Musik weitgehend verloren gegangen. Intellektuelle und handwerkliche Brillanz gehen leider selten mit menschlicher Größe und Reife einher, ja scheinen geradezu in einem antagonistischen Verhältnis zu stehen. So kommt es, dass mir die meisten Produkte zeitgenössischer Musik clever gemacht, doch menschlich völlig uninteressant erscheinen.
Was wir nicht glauben wollen
aber letzten Endes ist es richtig. Zum Beispiel wissen die wenigsten, dass der ursprüngliche Reggae von Bob Marley westenisiert wurde. Normalerweise ist Gesang und Percussion deutlich langsamer, die Rythmen sind andere. Analoges gilt für die erfolgreiche Weltmusik a la Youssou N Dour. Orientalische - auch Pop - Musik klingt für uns ziemlich schräg. Die außereuropäische Musik wird idr nur gehört, wenn sie westlichen Vorstellungen von Gesang und Rhytmus entspricht. Das ist keine Abwertung dieser Musik, sondern ist ankultiviert. Genausowenig können die meisten Leute hier etwas mit indischen, koreanischen oder japanischen Filmen und originärer Literatur anfangen.
Komisch, ...
... ich entdecke in außereuropäischer Musik ein ums andere Mal Elemente, die mir sehr, nun, nicht vertraut aber sehr verständlich vorkommen. Unerträglich wird Weltmusik nur dann, wenn sie nach westlichem Vorbild "verpopt" wird.
Unnütze Angriffungsflächen 1
Na, Ihr Mozart Zitat stammt ja wohl auch nicht von ihm selbst, sondern ist eine Erfindung des Literaturen, der das Drehbuch zu diesem bekannten Film geschrieben hat. Aber das nur nebenbei. Ich finde Ihre Argumentation bzw. Kritik an den "Gehirnforschern" nicht gerade sehr überzeugend. Ich glaube nicht, dass die Gehirnforscher der Meinung sind, je einmal heraus finden zu können, weshalb zum Beispiel opus 106 von Beethoven unser Empfinden so fesselt, ja den ganzen Körper in Aufregung versetzen kann. Oder - auch kein leichtes, süffiges Stück - eine der Madrigale von Gesualdo di Venosa. Nachvollziehen kann ich, dass man am Beispiel unterschiedlicher Musikstücke einen im Gehirn stattfinden Affekt - wie immer auch gemessen - feststellen kann, der Ablehnung genannt wird. Aber hier wird ja nur die Musik als Mittel eines ganz anderen Zwecks genommen, eben um diese breiige Masse in unseren Köpfen auf ihre Wirkungsmechanismen hin zu untersuchen. Nun hat man also - mit Hilfe von mehreren Probanden vermutlich - beim Hören von neuer Musik so einen Affekt festgestellt, während bei anderer Musik dieser nicht eintrat bzw. Zustimmung signalisiert wurde. Was besagt dies? Doch nur, dass beim Hören von Musik unterschiedlicher Art das Gehirn tut, was es immer tut, nämlich unterschiedlich zu reagieren, eine Affektauswahl zu treffen. Das wusste wohl jeder auch schon bisher. Das Interessante für die Gehirnforscher dürfte wohl sein, in welcher Gehirnregion dies geschieht und ähnliches.
Das Mozart-Zitat ist korrekt, zumindest als Anekdote, die lange vor dem Film "Amadeus" existiert hat. Franz Xaver Niemetschek erwähnt sie bereits in seiner Mozart-Biographie von 1798 bzw. 1808.
Quelle ist irgendwie aus der Zeit, ist aber wurscht, mit dem Urheberrecht wollen wir es ja mal auch nimmer so eng nehmen, nicht wahr lieber
@maxe?
LG
Henry