Unterricht mit jungen Kindern mit geringer Aufmerksamkeitsdauer

Ihr macht die Kinder nicht stark, indem Ihr sie in Watte packt. Fordert sie, wenn Ihr sie fördern wollt! Ein Kind spürt es, ob es stolz sein darf auf seine Leistung, oder ob Mama, Papa, Lehrer die Hürden soweit herabgeschraubt haben, daß auch ja keiner verliert.
Liebe Cheval blanc,

grundsätzlich stimme ich dir zu, verstehe allerdings nicht, warum dein flammender Appell an dieser Stelle erfolgt. Hast du den Eindruck, dass die in den letzten Beiträgen beschriebene audiomotorische Herangehensweise zu wenig fordernd ist? Dass Kinder dabei in Watte gepackt werden? Dass eine spielerische Herangehensweise Kinder unterfordert? Wer ist "ihr"?

Falls es so sein sollte: ich hatte gehofft, mit meinem letzten Beitrag diesbezügliche Zweifel ausgeräumt zu haben. Vielleicht tun es ein paar weitere Infos zur Unterrichtsmethodik - ihr seid ja keine Pädagogen, so weit ich weiß.

1. Das Spiel ist für Kinder eine wichtige, aber selbstverständlich nicht die einzige Art der Wissensvermittlung. Sie wurde hier priorisiert aufgrund Tastatulas Frage. Anselm Ernst nennt in seinem sehr empfehlenswerten Buch "Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht" folgende Methoden, über die ich früher schon geschrieben habe:
  • Erarbeitendes Verfahren
  • Modell-Methode
  • Darstellendes Verfahren
  • Aufgebendes Verfahren
  • Entdeckenlassendes Verfahren
  • Dialog-Methode
Unterricht sollte in der Interaktion von Lehrer und Schüler also vielfältig sein und verschiedene Aktionsformen anbieten. Wie bei der Auswahl von Spielen zu verschiedenen Themen sollte der "Topf" an Möglichkeiten so voll wie möglich sein. Je mehr Wissen, methodisches Handwerkszeug, Erfahrung und Reflexionsfähigkeit, desto mehr Möglichkeiten an Einflussnahme auf den Unterricht. Der Pott ist voll, der Lehrer muss nur zugreifen. Das kommt allen zugute.

2. Das Spiel selbst ist alles andere als unverbindlich. Kinder erfinden Spiele am liebsten selbst und sind dabei streng auf die Einhaltung der von ihnen festgelegten Regeln bedacht. Gleichzeitig variieren sie Spiele ständig und stellen sich damit immer wieder neuen Herausforderungen (Lernen).

3. Meiner Meinung nach sollte Förderung und Forderung sich vor allem auf Unterrichtsinhalte beziehen anstatt auf hier erwähnte Gesellschaftsspiele. In Bezug auf die hier angesprochene Einführung der Notation und das Erlernen des Notenlesens sind z.B. folgende Punkte wichtig:
  • Erfinden eigener Klanggeschichten, Aufschreiben derselben in graphischer Notation, über die u.a. die Parameter hoch-tief in der Schreibrichtung von links nach rechts sichtbar gemacht werden.
  • Erlernen des relativen Notenlesen (Noten werden in ihren Abständen zueinander gelesen sowie in ihrer Struktur und musikalischen Gestalt als Ganzheit erfasst. Dazu reichen ein paar einfach zu merkende Orientierungsnoten. Folge des relativen Notenlesens ist ein flüssiges Spiel, in dem der Zusammenhang und musikalische Sinn der Töne im Vordergrund steht. Ganz im Gegenteil zum Buchstabieren einzelner Noten, das zum stockenden Buchstabieren der Töne führt.)
  • Natürlich werden nach und nach auch die visuelle Entsprechung aller Töne (absolutes Notenlesen) gelernt. Dazu gibt es eine Vielzahl an Materialien, seien es Kartenspiele, Würfelspiele, Apps, Notenwitze, ... . Am schönsten ist aber immer die Verbindung zu großer Literatur, wie kürzlich hier erzählt. Mir ist es ein großes Anliegen, Schüler schon ganz am Anfang in die aufregende Welt der großen Klavierliteratur hineinschnuppern zu lassen. Das motiviert sehr! Beispiel: Das Kind hat gerade gelernt, wie eine Vierschlagnote aussieht? Schau mal hier (Waldsteinsonate), na, wieviel ganze Noten findest du denn auf dieser Seite? Und wieviel g's stehen in diesem Takt? - Das macht neugierig und führt immer zu weiteren Fragen, die wiederum in ein Gespräch über Beethoven oder Kompositionen münden können und darüber, wie es denn klingt, was da steht. Was ich dann vorspiele und zu weiteren leuchtenden Augen und Begeisterung führt.
Das nenne ich Förderung und Forderung und bezieht sich auf das, was gelehrt und gelernt wird!
  • Aufschreiben der bisher gespielten Lieder nach Gehör, Vertonen und Aufschreiben von Texten und selbst erfundenen Melodien. Das Aufschreiben von Liedern/Improvisationen ist sehr anspruchsvoll und geht immer parallel mit anderen Lernerfahrungen. Wenn ein Schüler beispielsweise den Unterschied zwischen Puls, Metrum und Rhythmus nicht kennt, wird er beim Aufschreiben Schwierigkeiten haben. Verständnisschwierigkeiten oder Wissenslücken offenbaren sich sofort.
4.
Hehe... mir ist völlig klar, dass man als Kind "spielerisch" es verdammt weit bringen kann, sogar auf Schulmusikniveau (wo viele Studenten dann viel "nachholen", was das gewesene Kind schon mitbringt) gar keine Frage.
Das Problem ist, dass Fehler am Anfang des Klavierspielen-Lernens manchmal leider die Ewigkeit überdauern. Alte Gewohnheiten, falsche Herangehensweisen lassen sich nicht verlernen und stehen Neuem oft entgegen. Die Qualität des Anfangsunterrichts steht im direkten Zusammenhang mit dem Spiel der späteren Jahre. Ich unterrichte auch Profis und bereite auf Aufnahmeprüfungen vor - das sind alles Leute, die sehr gut spielen können. Dieser Zusammenhang der ersten und momentanen/letzten Schritte am Klavier ist extrem, so dass Schüler Geduld, Herz und nicht wenig Frustrationstoleranz brauchen, um neue Grundlagen zu legen, auf denen es sich fröhlich aufbauen lässt.
Wahrscheinlich aber ist das eine Charakterfrage des Kinds... sich in ein Musikstück versenken, die historischen Zusammenhänge sehen zu wollen

Ich war ein ernsthaftes Kind und wollte vieles "richtig" wissen. Vermutlich deswegen (und auch aus eigener Anschauung bei anderen Kindern) habe ich etwas Vorbehalte.

Die Verwendung von Spielen im Unterricht steht dem aber doch nicht entgegen! Im Gegenteil ergänzt es sich! Kinder wollen vieles "richtig wissen", denken wir an die Tausenden "Warum-Fragen" dreijähriger Kinder.

Deine Frage, wann Schüler aufhören, Unterricht zu nehmen, lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten. Grundsätzlich ist die Pubertät anfällig dafür, denn die Prioritäten und Interessen ändern sich. Aber auch hier hat der Lehrer in Zusammenarbeit mit Schüler und Eltern eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Was das Studium angeht, darf meiner Meinung nach der Schüler durchaus mal ohne Unterricht sein - Ziel des Unterrichts ist ja auch Selbständigkeit, der Lehrer sollte sich langfristig überflüssig machen.

Abschließend deine Frage nach der Kunst: Im Anfängerunterricht kann man nicht von Kunst sprechen. Generell tue ich mich mit dem Begriff schwer, auch bei meinem eigenen Spiel. Aber künstlerisch agieren, das kann man schon. Es ist selbstverständlich eines der Ziele von Instrumentalunterricht, das Schöpferische, Künstlerische und Kreative zu fördern und seine persönliche Klang- und Ausdruckssprache zu finden. Wenn ein Anfänger eine Melodie erfindet und aufschreibt (op. 1), die ihm gefällt, ist der erste Schritt in diese Richtung getan.

Liebe Grüße

chiarina
 
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Ich denke, diesen Gegensatz aus spielerischer Herangehensweise und ernsthaftem Musizieren gibt es nicht.

Das Gehirn liebt es, wenn es Informationen auf unterschiedliche Kanäle bekommt. Es liebt es, wenn abstrakte Infos visualisiert bekommt.
In dem Sinn ist eine spielerischer Herangehensweise einfach eine Art zu lernen, die darauf Rücksicht nimmt, wie das Gehirn am Besten lernt.

Auch Erwachsene, die etwas verstehen wollen oder müssen, versuchen die Dinge zu visualisieren. Sie malen sie auf, sie markieren Zusammenhänge farbig, Oder sie setzen sich ans Klavier und probierten es aus.

Ob ein Lehrer die Musik und den Schüler ernst nimmt, erkennt man an anderen Dingen.

Daran, dass er Fehler geduldig und freundlich, aber konsequent korrigiert. Daran dass er vorbereitet ist und das auch vom Schüler erwartet. An der Art, wie er etwas vorspielt, wenn er im Unterricht etwas vorspielt. Daran, dass er den Schüler ernst nimmt und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkt.

Das eine ist die Methodik, die gerne Rücksicht auf das lernende Gehirn nehmen darf (und jeder Mensch ist da ein wenig anders). Das andere ist eine innere Haltung. die man aus der Methodik nicht ablesen kann.
 
Das Problem ist, dass Fehler am Anfang des Klavierspielen-Lernens manchmal leider die Ewigkeit überdauern. Alte Gewohnheiten, falsche Herangehensweisen lassen sich nicht verlernen und stehen Neuem oft entgegen. Die Qualität des Anfangsunterrichts steht im direkten Zusammenhang mit dem Spiel der späteren Jahre. Ich unterrichte auch Profis und bereite auf Aufnahmeprüfungen vor - das sind alles Leute, die sehr gut spielen können. Dieser Zusammenhang der ersten und momentanen/letzten Schritte am Klavier ist extrem, so dass Schüler Geduld, Herz und nicht wenig Frustrationstoleranz brauchen, um neue Grundlagen zu legen, auf denen es sich fröhlich aufbauen lässt.

Dieser Absatz lässt sich 1:1 auf das gesamte Schulsystem und den Sport übertragen. Es ist eben ein Grundsatz, dass Umlernen schwieriger ist als neu Lernen und bei automatisierten Bewegungsabläufen fällt das ganz besonders ins Gewicht!
 
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