"Tonstufe" vs. "Tonteil"?

Ambros_Langleb

Ambros_Langleb

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19. Okt. 2009
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Ich könnte ein bisserl Nachhilfe gut gebrauchen: gibt es in der Harmonielehre Definitionen für »Tonstufe« und »Tonteil« und wo ist der Unterschied?

Zum Hintergrund: ich katze mich im Rahmen eines Editionsprojekts gerade mit der sprachwissenschaftlichen Kommentierung eines spätantiken Traktats zur Musiktheorie ab, was natürlich voraussetzt, dass ich erstmal kapiere, was drinsteht. Inhaltlich bringt der Text gegenüber den vielen bekannten (Augustin, Boethius etc.) gar nichts neues, weist aber einen krassen Fehler auf. Er sagt nämlich, dass eine Oktave, die ja aus Quarte und Quinte zusammengesetzt sei (das tut sie nach antiker Anschauung, weil man auf der achtsaitigen Lyra einen gemeinsamen Grenzton für beide Intervalle ansetzt und weil die Multiplikation der beiden Verhältniszahlen 3:4 und 2:3 letztlich 2:1 gibt), »auf dem Epogdous beruht«. Ein »Epogdous« ist aber eine Relation 9:8 und hat mit der Oktave nichts zu tun.

Nun finde ich in einer musikhistorischen Arbeit aus den 80ern eine Anmerkung, dass mein guter Traktatenschreiber offenbar die griechische Vorlage missverstanden hat, »welche die Konsonanzbildung bei leitereigener Tonfolge beschreibt, nicht ohne die Benennung der primaren Konsonanzen von der achtsaitigen Lyra abzuleiten. Bei ihrer Paraphrase identifiziert [mein Autor aber] die Anordnung der Konsonanzen nach Tonstufen mit einem Aufbau aus Tonteilen«.

Die Arbeit verwendet die beiden Begriffe ohne jede Erklärung, hält sie also für etwas geläufiges. Mein Problem ist v.a. der »Tonteil« (die MGG kennt ihn nicht). Hat jemand von euch eine Idee dazu? Das wäre schön, denn die anderen Herrschaften in dem Unternehmen sind Philosophen und Literaturwissenschaftler, also jedenfalls in diesem Punkt nicht mit viel mehr Ahnung geschlagen als ich, und wenn ich zu den Musikwissenschaftlern gehe, wird mir, so steht zu fürchten, nur Unverstandenes mit Unverständlichem erklärt.
 
Wurde der Text deines Autors im Original auf deutsch verfasst? Für mich klingt es ein wenig danach, als ob ein Übersetzungsprogramm das deutsche Wort "Teilton" nicht gekannt hat und in seiner Verzweifling den ulkigen "Tonteil" daraus gemacht hat. Jedenfalls ergäbe der zitierte Satz dann einen Sinn:

"... die Anordnung der Konsonanzen nach Tonstufen mit einem Aufbau aus Teiltönen."
 
Nein, der ist im Original schon deutsch geschrieben worden. Wenn Du Lust hast, nachzulesen - hier, auf S. 96 (die Klammerbemerkung zu "Tonteil" (moduli) hilft nicht weiter, denn modulus ist "Intervall"):

https://www.jstor.org/stable/930172?seq=1#metadata_info_tab_contents

[Kurios: wenn ich diesen Link einfüge, werden die Zahlen durch *** ersetzt.
Also die Zahl nach "stable" lautet neun-drei-null-eins-sieben-zwei]
 
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Der Link funktioniert nicht, aber ich habe es auch so gefunden. Leider fehlt bei jstor das Quellenverzeichnis, aber ich vermute mal, dass der in der Fußnote zitierte "Richter" Philologe ist und kein Musikwissenschaftler. Man müsste nochmal nachlesen, ob in der zitierten Schrift noch mehr dazu steht. Aber ich halte die Wahrscheinlichkeit für groß, dass es sich um einen Fehler handelt und Teiltöne gemeint sind.
 
Wie wär's mit "Halbton"?
Eine Google-Suche brachte mich auf die "Münchener Allgemeine Musikzeitung". Blättere ein wenig nach oben, bis S. 731 erscheint. Da gibt es die Lehrsätze der Pythagoräer, und dann die der Aristoxenianer. Bei letzteren heißt es: "Eine Quarte besteht genau aus zwei und einem halben Ton." bis dann auf S. 737 gefolgert wird: "... die Quarte fünf, und die Quinte sieben gleich grosse halbe Töne enthält ... Folglich besteht die Oktave aus sechs Tönen von ganz gleicher Grösse."
 
Herzlichen Dank für den Link! Er ist vor allem wissenschaftsgeschichtlich interessant, denn er zeigt, wann man sich so allmählich in die altgriechische Musiktheorie hineinfindet, und das kann ich gut brauchen. In der Sache hilft er nicht weiter, aber das macht nichts, denn ich glaube, nachdem ich in meiner Lektüre jetzt weiter bin, dass der moderne Autor einfach den antiken missverstanden hat. Was kein Wunder ist, denn der drückt sich bewußt hypertroph aus, weil er nicht überzeugen, sondern überwältigen möchte (aber das kennen wir von einer kleinen Schar von Clavio-Schreibern ja auch ... ;) ).
 
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Die Aussage, dass die Oktave "auf dem epogdous" (also auf dem 9:8-Ton, dem idealisierten, d.h. stimmungsunabhängigen Ganztonschritt) beruht, würde ich keinesfalls als "krassen Fehler" ansehen, sondern als etwas schwammige Prosabeschreibung eines schon in der Antike klar verstandenen mathematischen Sachverhalts.

So hat Philolaus im 5. Jh. v. Chr. Oktave, Quinte und Quarte anhand von 9:8-(Ganzton) und diésis-(Viertelton)-Schritten beschrieben. Und fast 1000 Jahre später beschreibt auch Boethius den epogdous als Baustein aller Intervalle.

Der von den Griechen verwendete Ausdruck "diatonisch" drückt ja (denke ich) letztlich genau das aus: "konstruiert durch (Ganz-)Töne": Ausgehend von F führt Quintenschichtung (in eine gemeinsame Oktave rückprojiziert) – bis es ab H nicht weiter ganztönig geht – zu unserer heptatonischen Skala, mit dem 9:8-(Ganz)Ton als Differenz einer reinen Quinte und einer reinen Quarte als Haupteinheit. Stapelt man die reinen Quinten weiter, schneidet man existierende Töne scheinbar "in der Mitte" durch (aber nicht wirklich richtig in der Mitte... und man schießt über das Ziel hinaus... und die Terzen sind auch nicht rein. Will man damit umgehen, muss man an anderen Stellen von den idealen Intervallverhältnissen abweichen).

Literaturtipps:
S. Hagel: "Ancient Greek Musik: A New Technical History" (CUP 2009)
C.M. Atkinson "The Critical Nexus: Tone-System, Mode, and Notation in Early Medieval Music" (OUP, 2009)
 
Lieber @pianovirus,

ich dank dir schön für deine ausführliche Antwort! Es ist mir jetzt fast ein bisserl peinlich, dass du dir soviel Arbeit gemacht hast, denn die Grundbegriffe der antiken Harmonielehre musste ich mir schon vor einiger Zeit zu Gemüte führen, als ich den Macrobius bearbeitet habe. Mir ging es wirklich nur darum, zu verstehen, was ein Musikwissenschaftler unter einen "Tonteil" versteht.

Nun, ich bin jetzt ein wenig weiter mit meinem Autor (Favonius Eulogius) und auf eine Stelle gestoßen, an der er den Epogdous als dem »umbilicus«, den "Nabel" oder das "Scharnier" der Oktave bezeichnet. Und das zeigt wohl, dass man ihn anders verstehen muss, als der von mir angeführte Musikwissenschaftler Richter. Favonius hat wohl gelernt, dass man (ja, seit Philoaos) den Oktavraum nach dem harmonischen und arithmetischen Mittel nach 6 : 8 : 9 : 12 einteilt, sodass, wenn man sich das aufschreibt, man im Zentrum den Epogdous (8:9) sieht. Und das ist es wohl, wass er mit »quibus compositis ... nascitur ... diapason per epogdoum numerum« (»aus deren Kombination [sc. von Quarte und Quinte] entsteht die Oktave mittels des Epogdous«) meint - der E. ist gleichsam das Scharnier der beiden anderen Intervalle.

Richters Verständnis der Stelle wurde sicher dadurch beeinflusst, dass der arme Favonius beständig Intervallberechnung nach Aristoxenos (additiv) und »Pythagoras« (relational) durcheinanderwirft und an anderer Stelle zu glauben scheint (jedenfalls meinen das die beiden italienischen Kommentatoren), dass man Epogdous (auch) als Distanzbezeichnung wie diatessaron und diapente verwenden kann. Womit die Oktave auf neun Töne käme, ein Problem, das er durch Annahme eines gemeinsamen Grenztons der beiden Intervalle (wie bei einem sog. "verbundenen" Tetrachord) hinwegdefiniert.

Das Problem bei all diesen spätantiken Lateinern mit Ausnahme des Boethius ist, dass sie gar kein genuines Interesse an Harmonielehre haben, sondern nur soweit, als sie zur Erklärung eines übergeordneten Themas dient, im Falle von Macrobius und Favonius ist das das Funktionieren der platonischen Sphärenharmonie. Nun war Macrobius einer der fünf ranghöchsten Beamten des römischen Reichs und hatte neben einer guten Bibliothek sicher auch einen griechischen Sklaven oder Freigelassenen, der ihm den Stoff aufbereiten konnte. Favonius dagegen ist ein armer Teufel, der in seiner Jugend Ende der 380er Jahre mal bei Augustin Rhetorik studiert und da vermutlich dessen elementare Musiktheorie verpasst bekommen hat; Griechisch kann er offenkundig nicht, und deswegen gehört er jedenfalls als Musikwissenschaftler zur Kategorie »Männer auf verlorenem Posten«.

Dank Dir schön für den Hinweis auf Hagel, denn werd' ich heute Nachmittag gleich mal aus dem Magazin holen. Bislang habe ich mich mit A. Neubeckers schon etwas angejahrter Einführung in die altgriechische Musik und mit den Beiträgen in St. Sorgner [Hrsg.] Musik in der antiken Philosophie: eine Einführung Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 ganz gut beholfen.

Herzliche Grüße (und schreib doch bitte wieder öfter mal was)!
 
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dass der moderne Autor einfach den antiken missverstanden hat.
Übersetzungen haben grundsätzlich das Problem, daß die Begriffe der einen Sprache sich nicht genau mit den Begriffen der anderen Sprache decken, sondern durch ihren kulturellen Zusammenhang ein wenig voneinander abweichen - und hier liegen noch ein paar Jahrtausende wissenschaftlicher Entwicklung - sowohl in der Musiktheorie als auch Mathematik und Physik - dazwischen.

Und auch heute sind die Begriffe nicht so klar wie man glauben möchte. Naturtonreihe - wohltemperiert - gleichschwebend - gleichstufig etc. tauchen in so manchem Thread zur Klavierstimmung auf; und da wird klar, daß unsere heutigen Begriffe "Ganzton" / "Halbton" jeweils im Zusammenhang zu sehen sind. Und selbst bei den Alten Griechen waren ihre Begriffe je nach Denkrichtung leicht verschieden.

Die Vorstellung der Sphärenharmonie bringt gewiss die Vorstellung von gleichen und ganzzahligen Verhältnissen mit sich. Wenn man nun die Oktave aus 6 Epogdous aufbaut, "schießt man über das Ziel hinaus" wie @pianovirus ausführt. Und zwar recht wenig, gerade mal um ungefähr einen viertel Halbton... Für diesen Überschuß haben wir heutzutage einen griechisch angehauchten Begriff: pythagoräisches Komma (meistens hört man ihn im Zusammenhang mit dem Quintenzirkel, läuft aber mathematisch exakt auf's Gleiche hinaus).

Die oben von mir zitierte Quelle zeigt auf, daß die Alten Griechen bei dieser gleichstufigen Tonleiter ein Problem erkannten: Quarte und Quinte liegen nicht auf dieser Tonleiter. Geht man vom C einen Epogdous zum D (das stimmt auch mit der Vorstellung der Naturtonleiter überein), dann noch einen Epogdous zum E (in der Naturtonleiter ist diese Stufe etwas kleiner - aber das würde dem Ideal der Gleichstufigkeit zuwider sein), dann benötigt man zum F erheblich weniger als einen Epogdous. Diesen Schritt bezeichnet obige Quelle als "halben Ton", und dürfte dem "Tonteil" des ganz oben genannten Autors entsprechen. Die Aristoxenianer vertraten die Auffassung, daß der Epogdous aus exakt zwei gleich großen solchen halben Tönen aufgebaut sei, und damit kommen wir zu "unserer" Oktave von 12 Halbtönen (mit einer geringen Abweichung).

Meine Interpretation des Sachverhaltes kann daneben liegen - ich bin kein Musikwissenschaftler. Aber sie ist in sich schlüssig.

PS: Steckt in Worte "Epogdous" die "Zwei"?
 
PS: Steckt in Worte "Epogdous" die "Zwei"?

Nein, das ist wörtlich ganz simpel "[eins] zur acht [dazu]", genau wie beim Epitrit "eins zur drei".

Diesen Schritt bezeichnet obige Quelle als "halben Ton", und dürfte dem "Tonteil" des ganz oben genannten Autors entsprechen.

Tja, dank Dir schön; aber das zu glauben hab ich mich nicht getraut, denn dem waren die einschlägigen Begriffe wie Leimma und Diesis ja sicher vertraut ...
 
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Dann dürften wir beim Verständnis des "Tonteils" angelangt sein: während die einen von gleichen kleinen Schritten ausgingen, hatten die anderen die Verschiedenheit der Schritte erkannt (die Quarte F teilt die zweite Stufe E und dritte Stufe Fis nicht exakt mittig, entsprechendes gilt auch für die Quinte). Wenn der Unterschied betont werden soll, wird wohl ein anderer Begriff nützlich sein, der eben die Gleichheit nicht in sich birgt - und dazu paßt der "Tonteil".
Also muß ich meine Aussage von oben ein wenig modifizieren: als "Tonteile" werden diese kleinen Intervalle in ihrer Verschiedenartigkeit bezeichnet (auch wenn wir sie heute als Halbtöne zusammenfassen).
Oder doch was anderes? Man kann ganz schön wirr dabei werden...
 

Im Buch von Hagel gibt es ein Kapitel "Fine Tuning", da wird eingangs betont, dass zwei Diskussionsstränge mit gleicher Berechtigung nebeneinander herliefen: Auf der einen Seite geht es um der reinen Intervallverhältnisse und auf der anderen Seite um die aufgrund des pythagoräischen Kommas notwendigen Anpassungen.

Auch wenn ich all diese Aspekte interessant finde, wollte ich noch einmal festhalten, dass die in der Fadeneröffnung von Friedrich zitierte Aussage (Favonius Eulogius), dass die Oktave auf dem Ganzton beruht, m.E. auf der Ebene idealer Intervallverhältnisse zu lesen und dabei, auch wenn etwas schwammig, völlig unproblematisch ist. Nach Friedrichs biographischer Einordnung des Traktatschreibers handelt es sich wohl um keine streng mathematisch gemeinte Aussage und vielleicht sogar um eine relativ unreflektierte Paraphrasierung ähnlicher Zitate älterer Autoren, aber das macht sie ja trotzdem nicht falsch.

Richters Kritik geht also, zumindest was diese Stelle angeht, m.E. an der Sache vorbei. Ob sich die Kritik nun zu Recht auf eine andere Stelle aus dem Traktat bezieht, oder ob nicht vielmehr Richter selbst verschiedene Dinge durcheinanderbringt (wie ja auch Du, Friedrich, ins Spiel bringst) , kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen. Richter hätte sich jedenfalls klarer ausdrücken können und "Tonteil" scheint ein Privatbegriff, der in diesem Kontext weder in der Antike noch in der späteren Rezeption so verwendet wird (?). Zuerst hatte ich vermutet, er meint mit "Ton" die Tonarten (tonoi) und mit "Tonteile" die Teile derjenigen Tetrachorde, aus denen sich eine bestimmte Tonart zusammensetzt. Aber das ist im Kontext der Aussage von Favonius Eulogius fehl am Platz. Naja. Ich zweifle ein wenig daran, ob der Richter-Artikel die Mühe wert ist, ihn einer weiteren Exegese zu unterziehen...
 

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