Mozart - ein Komponist, seiner Zeit voraus: Das Dissonanzenquartett KV 465

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Hallo zusammen,

ich bin heute durch Zufall auf dieses sehr ergreifende Quartett von "Maestro Amadé" gestoßen, und muss sagen, dass es mir zum einen unglaublich gut gefällt. Was mich jedoch mehr verwundert, ist, dass ich es nicht Mozart sondern eher 100 Jahre später eingeordnet hätte! Mozart war seiner Zeit um Jahre voraus!

Was meint ihr? Und kennt ihr ähnliche Stücke (von Mozart, aber auch von anderen Komponisten), die eine solche Experimentierfreude mit damals noch "unbekannten" Techniken zeigen?

Herzliche Grüße,

Lisztomanie :)
 
Was meint ihr? Und kennt ihr ähnliche Stücke (von Mozart, aber auch von anderen Komponisten), die eine solche Experimentierfreude mit damals noch "unbekannten" Techniken zeigen?
Von Mozart gibt es das parodistisch intendierte "Dorfmusikanten-Sextett" KV 522, wo sich allerlei mitunter mißtönende Überraschungen finden. Hier ein Link mit Noten zum Mitlesen: Mozart: A Musical Joke K522 - YouTube

Eine barocke Schöpfungsgeschichte mit Clustern als Darstellung des Chaos: Rebel -

Wirklich geisterhaft, in etlichen Momenten überlagern die dissonanten Irrlichter die Grundtonart Es-Dur in dem späten Variations-Zyklus von Robert Schumann:
https://www.youtube.com/watch?v=OmWfPgIqMZk

Bitonale Schichtungen und ähnliche Neuerungen, bevor es dafür überhaupt Fachbegriffe gab, tauchen bei Charles Ives bereits in Frühwerken wie den "Variations on America" (1891) für Orgel auf: https://www.youtube.com/watch?v=gNpJJLNI6xg

Abschließend Visionäres aus der Feder jenes Herren, dessen Namen Du Dir ausgeborgt hast - da geht es wirklich geradezu lisztomanisch an die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität, und das zu einer Zeit, als Arnold Schönberg seine ersten völlig tonalen Kompositionsversuche unternahm:
https://www.youtube.com/watch?v=LhUU4leVo6k
https://www.youtube.com/watch?v=dDEBfJxsJZ8
https://www.youtube.com/watch?v=RaIrJoqO1xc
https://www.youtube.com/watch?v=pwQML31VpIw
https://www.youtube.com/watch?v=tYKl41e_hoU
https://www.youtube.com/watch?v=CDNGhXPLxXU

In einigen Fällen gibt's die Beispiele mit Noten zum Verifizieren und Ausloten des Möglichen auch für's Auge...

LG von Rheinkultur
(der jetzt weiter seine gänzlich tonale Strauss-Operette instrumentieren muss...)
 
...ist es wirklich eine so unerhörte Neuigkeit, dass Mozart seine Zeitgenossen weit überragte, oder wussten wir das nicht längst? ... ;);););)
 
Hallo,

Musikgeschichte, so wie alle Geschichte, ist dynamisch dadurch, dass Widersprüche sich auflösen und dass jene Auflösungen neue Widersprüche herausbilden.

So verläuft dies auch mit den ästhetischen Anschauungen.

Es gibt zumeist einen gesellschaftlichen Konsens, welcher aus verschiedenen Gründen sich manifestieren kann; etwa aus theologischen oder aus theoretischen Überlegungen, nicht selten aber auch sind es ideologische Kunstauffassungen, die ein ganzes politisches System stützen sollen, so wie beispielsweise in der UdSSR.

Nicht alle Kunstschaffenden allerdings beugten sich so widerstandslos jenen Versuchen, Musik total zu objektivieren, wodurch sie häufig Hohn und Spott zu erdulden hatten. Dieses war bei den fortschrittlichen Madrigalkomponisten des späten 16. und anfänglichen 17. Jahrhunderts nicht anders als bei der Wiener Schule um Arnold Schönberg ― übrigens ein Vergleich, den ich nicht unabsichtlich gewählt habe, denn bei beiden hat man sich (mit jeweils verschiedenen Absichten) über die überkommenen Grenzen der Tonalität hinweggesetzt, hin zur Chromatik.

Ohne nun die geschichtlichen Verläufe in ihrer Logik skizzieren zu können, will ich mindestens sagen, dass also auch gerade durch diesen steten Widerspruch von herrschenden Verhältnissen und Emanzipation die Geschichte erst ihre Entwicklung erhält und dass sie keine Fortschritte machte, wenn die verhärteten Umstände nicht immer wieder angefochten würden, ob nun mit Erfolg oder ohne.

Dissonanzen und Chromatik sind zu Mozarts Zeit längst keine "unbekannten Techniken" mehr gewesen; sie waren vielmehr, nachdem in der Spätrenaissance etabliert, vom Barock wieder weitestgehend eliminiert worden.

Hör Dir einmal späte Madrigale von Carlo Gesualdo an und achte auch gründlich auf den Notentext: Carlo Gesualdo - Sesto libro di madrigali: VI. "Io parto" e non più dissi - YouTube

Und diese ständige Einpferchung und Freilassung von Tonalität ist ein wichtiger Prozess, der immer wiederkehrt. Die Geschichte verläuft zyklisch.


Herzliche Grüße!
 
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Zum Selberspielen empfiehlt sich Mozarts Fantasie KV 475, deren Tonart c-moll eigenartig schwebend daherkommt zu Beginn.
Als Aufnahme biete ich eine Welte-Mignon-Klavierrolle aus dem Jahre 1906 mit Theodor Leschetizky, der noch Mozarts Sohn Franz Xaver kennengelernt und beim Beethoven-Schüler Carl Czerny studiert hat, der übrigens auch Liszts Lehrer war - in der Mozart-Tradition wurzelnd, wenn man so will:
Theodor Leschetizky plays Mozart Fantasia in C minor K 475 - YouTube

LG von Rheinkultur
 
Bei diesem Thema dürfen die Werke von Carlo Gesualdo nicht fehlen. Und zwar war erstaunlicherweise quasi nahezu sein Gesamtwerk seiner Zeit weit voraus (so weit ich weiß...).
Hier ein paar willkürliche Beispiele:
Gesualdo - Sacrae Cantiones I 17 Tribulationem et dolorem - Score - YouTube
Carlo Gesualdo - Sesto libro di madrigali: XVII. Moro, lasso, al mio duolo - YouTube
O Vos Omnes - Gesualdo - YouTube
Viele weitere lassen sich einfach durch mehr oder weniger zielloses Klicken durch Youtube finden. Man muss sich vor Augen (bzw. Ohren) halten, dass dieser Komponist 1566 bis 1613 lebte, also dieses Jahr seit genau 400 Jahren bereits tot ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist diese Harmonik einfach nur absolut verblüffend und der Zeit unglaublich weit voraus.

Aber auch Johann Sebastian Bach hat sich bei einigen seiner Kompositionen durchaus mal etwas weiter aus dem Fenster gelehnt:
BWV 715 - Allein Gott in der Höh sei Ehr
BWV 729 - In dulco jubilo

Nachtrag: Ich hätte zuerst den Thread komplett lesen sollen anstatt ihn nur zu überfliegen und erst danach meinen Beitrag veröffentlichen. Der Name Gesualdo ist hier ja bereits gefallen, bevor ich ihn genannt habe... nun denn - hörenswert sind seine Werke trotzdem.
 
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Werke vom späten Liszt und von Charles Ives sind sicher sehr gute Beispiele. Wie ist es denn mit Scriabin; ich weiß gar nicht,auf wieviele äußere Einflüsse er zurückgreifen konnte, als sich sein Stil um die 5. Sonate (1907) so radikal wandelte? Sicher lag ein Stilwandel um diese Zeit insgesamt eher in der Luft; Schönbergs op. 11 ist ja 1909 entstanden.

Für mich bleibt jedenfalls Beethovens Große Fuge für Streichquartett das Stück, das so unfassbar weit vom Stil seiner Kompositionszeit (1825/26) entfernt ist (und gleichzeitig so ergreifend), wie kein anderes, das ich kenne.

Ich habe über den Jahreswechsel die (m. E. etwas durchwachsene) Beethoven-Biographie von Cayers gelesen, in der Strawinsky zitiert wird: "this absolutely contemporary piece of music that will be contemporary forever [...] It is pure interval music, this fugue, and I love it beyond any other".

Wie das Werk auf das (von Beethoven ja zu diesem Zeitpunkt schon einiges gewöhnte) zeitgenössische Publikum gewirkt haben muss, kann man aus Rezensionen wie der unten kopierten erahnen. Beachtenswert finde ich dabei auch den letzten, von mir hervorgehobenen Satz.

Zitat von Allgemeine musikalische Zeitung:
Aber den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch. Wenn die Instrumente in den Regionen des Süd- und Nordpols mit ungeheuern Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn jedes derselben anders fugirt und sie sich per transitum irregularem unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, wenn die Spieler, gegen sich selbst misstrauisch, wohl auch nicht ganz rein greifen, freylich, dann ist die babylonische Verwirrung fertig; dann giebt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können, denen bey ihrer hiesigen Anwesenheit in der italienischen Oper nichts wohlgefiel, als das Accordiren der Instrumente in leeren Quinten, und das gemeinsame Präludiren aus allen Tonarten zugleich. Vielleicht wäre so manches nicht hingeschrieben worden, könnte der Meister seine eigenen Schöpfungen auch hören. Doch wollen wir damit nicht voreilig absprechen: vielleicht kommt noch die Zeit, wo das, was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen Formen erkannt wird.

Wie schwer und neu die Große Fuge auch für mit Beethovens Neuerungen schon vertraute Musiker war, kann man auch nur ahnen. Schuppanzigh (durch sein Quartett wurde op. 130 in der ursprünglichen Form aufgeführt) sah seinen zweiten Geiger nach einer Probe so: "Holz schläft jezt ein, das lezte Stück hat ihn caput gemacht"
 
Ich habe gerade noch etwas halbwegs Kurioses (wieder-)entdeckt. Es passt zwar nicht ganz zum Thema, weil Mozart hier seiner Zeit wohl eher hinterher war als voraus, aber im Vergleich mit dem sonstigen Werk von Mozart ist folgendes Stück durchaus auch recht auffällig, sowohl wegen dem Instrument (wenngleich ursprünglich nicht für Kirchenorgel geschrieben), als auch wegen der Fuge(n) - insbesondere die Passage ab Minute 08:13 im Video finde ich unglaublich beeindruckend:

Mozart: Fantasie (Allegro and Andante) for Organ in f, K608 - YouTube
 
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Hallo zusammen...;)

Das ist ja schön, dass die Diskussion hier so rege weitergeführt wird! =D

@ DnoBos: Ich kenne sowohl die Mozart Fantasie als auch Gesualdo! Beides sehr schön! Nur sollte man sich Gesualdo (biographisch bedingt) nicht unbedingt zum Vorbild machen...;)

Herzliche Grüße

Euer Lisztomanie
 

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