Längeres Stück (sinnvoll) gestalten

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11. Feb. 2007
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Hallo ihr lieben Osterhasen!

Ich sitze seit einigen Wochen an einem etwas längeren Stück, das ich nun allmählich "notenmäßig" kann. Die Feinarbeit hat noch nicht mal oder nur teilweise begonnen, aber trotzdem. Nun ist mir aufgefallen, dass ich natürlich die ersten drei Seiten besonders sicher spiele und nach hinten raus, also die verbleibenden Dreiviertel des Stücks, immer mehr Gefahr laufe, daneben zu greifen oder ganz rauszufliegen. Abgesehen von der höheren Wiederholungszahl der vorderen Abschnitte, die mich diese sicherer spielen lässt, ist es auch die nachlassende Konzentration, die mich hintenraus immer mehr Fehler machen lässt. UND: ich verliere, je tiefer ich in dem Stück drinnen bin, immer mehr den Überblick über die Fortsetzung der Musik (und derweil ist dieses Stück diesbezüglich ziemlich eindeutig!!) Damit antizipiere ich die Bewegungen schlechter, verliere die Klangkontrolle und spiele mehr oder weniger wahrlos vor mich hin. Dieser Punkt ist meinem Empfinden nach der wesentliche. Deshalb meine Frage: wie halte ich im Kopf ein Stück zusammen, auch wenn es viel mehr Entwicklung gibt als in den kurzen "Zweiseitern"? Ich möchte das ganze Stück so selbstverständlich gestaltend spielen wie seinen Anfang. Nach einem guten Viertel verliere ich dann aber den roten Faden.....
Könnt ihr mir helfen? Wie soll ich üben, dass das nicht passiert? Meine KL sehe ich erst nach Ostern wieder und ich möchte das Problemchen gerne noch in meiner vielen freien Zeit über die Feiertage angehen.
Danke, österliche Grüße,
Sesam

P.S. Das sollte ich vielleicht noch hinzufügen: mir geht es nicht um die Frage, wie es überhaupt klingen soll, also um die Interpretation an sich, sondern darum, wie ich diese konsequent bis zum Ende durchhalte. Die Vorstellung wie es klingen soll ist da solange ich nicht spiele, sondern nur drüber nachdenke. Sobald ich aber mit dem Spielen beschäftigt bin, nimmt mich das so in Beschlag, dass ich einerseits gar nicht in voller Entfaltung und Wirkung höre, was ich spiele und ich kann nicht gleichzeitig das hören, was ich gerade spiele und das, was ich klanglich gleich spielen werde. Oje!
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hallo Sesam,

erst einmal: schön wieder von Dir zu lesen. Du standest schon auf meiner Vermißtenliste.

Zu Deinem Problem: Es hat viel mit Sicherheit und Konzentration zu tun. Ich empfehle meinen Schülern immer, die Stücke "von hinten" aufzurollen. So ungewohnt das erst einmal ist, so sprechen doch mehrere Gründe dafür:
  • Je mehr die Konzentration und Kondition im Spielverlauf abnehmen, desto hilfreicher ist der Rückgriff auf die Spielroutine. Wenn du das Stück von hinten aufrollst, wirst Du den Schluß überproportional häufiger spielen (so wie Du zur Zeit den Anfang offensichtlich besser beherrschst).
  • Konzentration läuft in Wellen ab. Jeder Mensch besitzt seine eigene "Konzentrations-Frequenz". Wenn Du ein Stück von vorne anfängst, liegen immer dieselben Teile an den Hoch- bzw. Tiefpunkten der Konzentration. Wenn Du das Stück hingegen von hinten aufzäumst, wandert jede Spielfigur aus einer hohen Konzentrationsphase in eine Phase niedriger Konzentration. In diesen Momenten zeigt sich, wie gut Du Dich auf Deine Finger verlassen kannst.
  • Auch ist es vom Übeprozeß her sinnvoller, wenn das Neue, Unbekannte am Anfang steht, weil Du zu Beginn am aufnahmefähigsten bist. Wenn man erst einmal ein Dutzend Takte oder zwei Seiten gespielt hat, ist der Geist für das Neue schon weitgehend erschöpft.
  • Der Klavierspieler ist von Natur aus bequem. Es kostet viel Überwindung, sich aus bekannten Gefilden in unbekanntes Terrain zu wagen. Angenehmer ist es, wenn Du aus "feindlichem" Gebiet in heimische Gefilde zurückkehrst.
Das wäre die übe-praktische Seite. Das Phänomen der Orientierungslosigkeit erlebe ich selbst immer wieder bei den endlos langen Rondosätzen von Schubert. Hier hilft es nur das Stück auf verschiedenen Ebenen formal und harmonisch zu analysieren. Du brauchst ein Bewußtsein für die grobe (große) Struktur. Das fängt damit an, daß Du weißt wieviele Seiten und Takte das Stück hat. Du benötigst einen Überblick über die musikalischen Abschnitte (was wiederholt sich, wo gibt es Varianten). und wenn du auch harmonsichgenau weißt, was passiert, kannst Du viel dichter am musikalischen Geschehen bleiben.

Zu guter Letzt: Musik ist zwar nur "tönend bewegte Form" (Hanslick), aber wenn es hilft, fülle diese abstrakte Form mit außermusikalischen Inhalten. Erfinde eine Geschichte, einen handfesten Spannungsbogen, der Deine Aufmerksamkeit bis zum letzten Takt fesselt (allerdings nicht so, daß Du darüber die richtigen Töne vergißt. :D)

Das also, was mir zu osternächtlicher Stunde zu diesem Thema einfällt.

Liebe Grüße
Wolfgang
 
Zunächst mal hilft es, die Abschnitte zu markieren, die du nicht so sicher beherrschst. Diese solltest du üben, wenn du noch volle Konzentration hast, und nur diese. Es ist überhaupt nicht nötig, ein Stück immer komplett durchzuspielen.

Das Durchhalten in längeren Stücken ist absolut nicht harmlos und man muß das üben. Am besten fängst du hierzu am Anfang an und nimmst dir ein überschaubares Stück vom Ganzen vor, das du dann langsam und fehlerlos spielst - zweimal. Wenn du feststellen solltest, daß das zu viel für deine Konzentration ist, laß noch ein paar Takte weg, Hauptsache, du hast einen einigermaßen vollständigen Abschnitt. Und es geht hier wirklich um absichern, nicht um große musiklische Leistungen. Also suche dir ein Tempo, in dem du bequem spielen kannst, quasi wie ein Spaziergang.

Vermutlich hast du ja jetzt zwei Aufgaben, den Anfang (und immer mehr von dem, was du beherrschst) komplett durchzuspielen - fehlerfrei und langsam, und im weiteren Teil sicherer zu werden bzw. überhaupt alles spielen zu können. Wenn du merkst, daß du wieder einen Abschnitt fertig hast, spielst du den auch immer wieder zweimal langsam durch, um ihn zu festigen. Die Abschnitte brauchen nicht zusammen zu hängen.

Ganz wichtig ist es, beim Durchspielen der fertigen Teile nicht über die Stränge zu schlagen, sonst übst du neue Fehler ein. Aber was du noch machen kannst: Achte genau darauf, ob es noch Haken oder Fallen gibt und bearbeite diese separat.

Im Laufe der Zeit wirst du immer längere Abschnitte gut durchspielen können, weil du sie einfach noch besser kennenlernst und nicht mehr in einzelnen Noten, sondern in Takten oder in ganzen Phrasen denkst. Du brauchst dann also weniger Konzentration und bekommst vielleicht noch neue Ideen für die Interpretation. Aber paß wie gesagt auf, daß du keine neuen Fehlerquellen einstudierst oder nachlässig spielst. Es ist dann sogar besser, diese Abschnitte ein paar Tage liegen zu lassen und hinterher gibt es vielleicht sogar gute Überaschungen :)
 
Guten Morgen!

@Koelnklavier: das rührt mich aber, dass du mich vermisst hast :kuss: Ich war tatsächlich zuletzt nicht mehr so oft im Forum unterwegs, schlicht aus Zeit- und Computermangel. Aber wenn immer ich konnte, habe ich zumindest mitgelesen.

@ KK und Guendola: Vielen Dank für eure Antworten!! Die Vorschläge, die ihr mir gemacht habt treffen ganz gut das Problem. Vor allem drei der Hinweise helfen mir weiter (die übrigen aber auch!):
1. Das Ausdenken, Assoziieren einer Geschichte, die ich quasi mit der Musik erzähle. Dadurch laufe ich wohl weniger Gefahr den "Interpretationsfaden" zu verlieren
2. Das Denken/Hören in Phrasen und diese ganz bewußt beim "Durchspielen" auch ausdrücken, also analog zum Sprechen Satzzeichen beachten. Das verhindert, dass ich in irgendein zielloses Geleiere verfalle.
3. Hin und wieder eine kleine Analyse wagen, die dann hilft, wichtige Wegmarken im Notentext zu setzen. Das Einteilen in mögliche Abschnitte macht nach "analytischen" Kriterien mehr Sinn als das Einteilen nach rein mengenmäßigen Portionen. Dieser dritte Punkt wird mir persönlich am schwersten fallen, weil ich doch nur so wenig Ahnung davon habe. Allerdings sehe ich da die Rettung nahen, weil meine KL für nach Ostern schon angekündigt hat, sich mit der Form des Stückes zu befassen. Mal sehen, was da kommt. Und fragen kann ich sie ja immer.

Was das Herumdrehen und Durchmischen der Reihenfolge und des "Einstiegstaktes" betrifft, da bin ich schon sehr flexibel und zumindest so diszipliniert, dass ich wirklich wesentlich häufiger die "instabilen" Abschnitte übe, mich also raus aus der Komfortzone bewege.
Naja, ich übe jetzt mal weiter und in ein paar Wochen kann ich euch dann hoffentlich das Ergebnis präsentieren. Ach ja, es geht übrigens um Bach, den 1.Satz des Italienischen Konzerts.

Nach dem Wechsel meiner KL bin ich in den letzten drei Monaten übrigens in vieler Hinsicht weiter gekommen, als in den zwei Jahren vorher. Jedenfalls bin ich in sehr, sehr guten, professionellen Händen, was mich wirklich ganz glücklich macht. Ich "muss" zwar viel mehr üben jetzt und bin gefordert, aber mir kommt es vor, das Klavier überhaupt jetzt erst kennenzulernen. Ach, was bin ich für ein Glückspilz!

LG, Sesam
 

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