Also ich versuch mal ein paar Sachen anzudeuten... nur die Stimmung betreffend, Intonationsfragen lass ich völlig raus.
1. Chöre. Da sind (je nach Bereich) 2 oder 3 Saiten zu stimmen. Die Vorstellung, dass man sie alle einfach auf die selbe Frequenz stimmt, ist naiv. Das sind reale, nicht ideale Saiten, die immer nur mit einem gewissen Grad an Präzision auf dieselbe Grundfrequenz gestimmt werden KÖNNEN. Selbst 0.01 Hz Unterschied zwischen 2 Saiten würden gehört - nämlich als Schwebung, die dann eben eine Periode von 100s hätte. Nun sind es außerdem in einem großen Bereich drei, nicht zwei Saiten. Also noch mehr Komplexität, dazu gehören schon jeweils drei minimale, paarweise Schwebungen. Und dazu kommt noch, dass jede einzelne Saite ihr minimal anderes Obertonspektrum und ihre andere Inharmonizität hat - einfach deshalb, weil es reale Saiten an real verschiedenen Orten des Klaviers sind, die von real verschiedenen Hämmern angeschlagen werden. Da ist dann auch Schluss mit der Mathematik, und der Stimmer muss - Stimmgerät hin oder her - HÖREN wie der Chor klingt. Das langsame Öffnen etc., das Klaviermacher beschreibt, ist nur eine Weise, darüber zu sprechen.
2. Temperatur. Die Diatonik des modernen Klaviers stellt ein schlechterdings unlösbares Problem des Stimmens von Intervallen in der 12-tönigen Skala dar, das unendlich viele "Lösungen" zulässt. Die Vorstellung, dass man exakt gleichschwebend und ohne Oktavspreizung stimmen würde, ist ebenfalls naiv und würde außerdem schrecklich klingen - wegen der Inharmonizität der Saiten, aber auch weil es extrem langweilig wird, wenn alle Terzen, Quarten, Sekunden usw. jeweils EXAKT gleichschwebend klingen würden. Auch wenn man in ein modernes Klavier keine mitteltönige oder sonstwie alte Stimmung legt, legt man doch jeweils eine spezifische Temperatur (d.h. ein je eigenes Schwebungsmuster) auf die Tonskala, das die/der jeweilige Stimmerin (a) als schön oder (b) als praktisch zu legen oder (c) als stabil - oder in der Tat eine Kombination aus allem - empfindet und kennt. Hier ist wieder eine unübersteigbare Grenze eines "algorithmischen" oder rein technischen (Stimmgerät) Ansatzes und Kunst und Erfahrung beginnen.
Als jemand, der solche Dinge gut hört, aber nicht selbst machen kann (den einen gescheiterten Versuch in meiner Jugend beschweige ich beschämt), beneide ich die Klavierstimmer/innen sehr um diese Kunst und Erfahrung.