Heiligtümer

  • Ersteller des Themas St. Francois de Paola
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Es ist eine merkwürdige Sache, dass viele, die die musikalischen und technischen Mittel hätten, solche ehrfurchtgebietenden Stücke zu spielen voller (zuweilen durchaus unnötiger und spielverderberischer) Demut sich nicht trauen diese Werke anzugehen, während andere durchaus frei von Skrupeln, sich alles zutrauen!
meistens sagt die Logik älterer (syllogistischer) Schule tertium non datur - hier aber gibt es durchaus eine dritte Möglichkeit. Artur Rubinstein beschreibt sie humorvoll: es geht daraus hervor, dass er op.111 schlicht nicht spielen wollte, weil ihm die Triller auf den Keks gingen ("Meister, ich küsse Ihre Füsse, aber bitte nicht diese Triller, wie langweilig ist das" (sinngemäß))
Und so finden sich durchaus weitere "Abstinenzlereien" aus subjektiven Geschmacksgründen (u.v.a. Arrau spielte keinen Rachmaninow aus Aversion gegen dessen Musik)
Mir fällt gerade zu op.111 noch ein: Pogorelich und Michelangeli haben die auch auf ein hohes Podest gestellt und Ehrfurcht proklamiert, der eine will 10, der andere 20 Jahre daran geübt haben (die Werbung teilte das seinerzeit auf den Verpackungen der Tonträger mit... honi soit... ;-) ...) --- op.111 ist eine Klaviersonate, nicht weniger, aber auch nicht mehr: es gibt keinen notwendigen Grund, einen ergriffenen Ehrfurchtstanz ihretwegen aufzuführen. Ich fand übrigens Margulis´ Messungen sehr lehrreich, was die oftmals sehr freien Tempogestaltungen des Variationssatzes betrifft.
 
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Es ist eine merkwürdige Sache, dass viele, die die musikalischen und technischen Mittel hätten, solche ehrfurchtgebietenden Stücke zu spielen voller (zuweilen durchaus unnötiger und spielverderberischer) Demut
Nachsatz: nicht verwunderlich sondern höchst erwartbar. Dunning und Kruger. Aber was ist das Ergebnis? Steckt man planlos in so einem Werk und erkennt warum andere mit mehr Einblick dieses nicht anrühren ist die Folge nur die umso größere Achtung vor dem was man eh schon verehrt und der Leistung derer die es schaffen das schön zu interpretieren. Also wo ist das Problem? Den Zauber kann man keinem erklären der nie versucht hat ein Instrument zu lernen. Aber in einem Konzertsaal zu sitzen und ein Stück sehr gut zu kennen und es dann in allen Facetten präsentiert zu bekommen die möglich sind, da behaupte ich der Genuss ist Unschlagbar.
 
Es gibt so viele Kinder, die sich beim Musizieren überhaupt keine Gedanken über Ehrfurcht, Respekt und Demut machen. Und sie spielen manche Werke, zu denen ihnen die geistige Reife fehlt, intuitiv gut.

Wenn z.B. ein überdurchschnittlich talentierter 9-Jähriger Liszts Liebesträume spielt, könnte man kritisieren, dass ihm die Reife dafür fehlt, weil er noch nicht das Gefühl der Liebe erlebt hat, welches Liszt zur Zeit der Entstehung mit Sicherheit kannte und offenbar für die Musik essenziell hielt. Trotzdem kann die Interpretation überzeugend wirken.

Ich finde, durch die (für mich durchaus nachvollziehbare!) Gedanken, die im Eingangsbeitrag geäußert werden, verlieren wir den intuitiven Zugang zur Musik. Ab einem bestimmten spieltechnischen Niveau und einer bestimmten musikalisch-geistigen Reife wird man doch während des Übens selbst sehr schnell feststellen, ob man dem Gehalt der Musik gewachsen ist oder eben nicht.

Und übrigens spricht auch überhaupt nichts dagegen, ein Stück am Instrument zu üben, um es beim Hören besser verstehen zu können, selbst wenn die eigene Interpretation das Stück verhunzt.
 
Gabs die jemals nicht? Nur hat man jetzt halt die Möglichkeit die ganzen Aufnahmen jederzeit zu hören von einer immensen Anzahl an Interpreten. Ich kann mir nicht vorstellen dass die Pianisten aus der damaligen Zeit auch nur im entferntesten weniger Mittel hatten als heutige.
Von der Entstehung der Hammerklaviersonate bis zur Uraufführung vergingen fast 20 Jahre. Es bedurfte eines Franz Liszt, der schlussendlich die entsprechenden Mittel dazu hatte.
 
Joachim Kaiser sieht das auch entspannt. Nur sich als Dilettant/Amateur in die Öffentlichkeit zu begeben und Konzerte zu geben ist sträflich. Das macht ja auch niemand! Und das spielen unter seines gleichen, im ausgewiesenen(!) dilettantischen Rahmen, ist davon denk ich gefahrlos ausgenommen. Die Öffentlichkeit bleibt den Studierten vorbehalten.

 
Noch ein Gedanke. Der Wunsch sich trotzdem mit großer Literatur zu befassen, liegt darin dass das Ohr eines Musikliebhabers nicht nach den pianistischen Fähigkeiten fragt. Wo also in zig Jahrzehnten immer komplexere Musik gehört wird, wird man kaum langfristig Erfüllung in ein paar einfachen Walzern finden. Möglicherweise ein Grund warum viele Erwachsene aufhören selbst zu spielen, weil ihre musikalischen Ansprüche im selbst spielen nicht mehr befriedigt werden. Anstatt sie auf ihre Grenzen permanent zurück zu stoßen, wäre es viel sinnvoller zu versuchen diese Diskrepanz durch eine kluge Beschäftigung mit dem Werk zu überbrücken. WISSEN dass man das nicht spielen wird wie ein studierter Pianist, tut jeder rational denkende Erwachsene selbst. Aber sich trotzdem damit befassen, und wenn’s im halben Tempo ist, nur besondere Ausschnitte daraus die noch in den Möglichkeiten liegen, mit genug Hirnfutter drumherum, ernst genommen werden in seinem musikalischen Interesse für das Werk, da möchte ich wissen ob dann die Zufriedenheit nicht langfristiger ist als mit der 4. Klavierschule. Und ich kann mir vorstellen dass die Neugierde auf einen Konzertbesuch mit solchen insights größer ist und wenn mich nicht alles täuscht, gibts da derzeit eher zu wenig als zu viel Publikum. Was ist aber gerade im Konzert noch spannend was eine Platte nicht bieten kann? Man kann zugucken wie es „gemacht wird“ und das ist grad für die spannend, die selbst gern rumpfuschen. Wer schaut schon Motorsport und hat keinen Führerschein?

Gäbe es ein Gesetz was Dilettanten die großen Werke verbietet, würde ich noch morgen aufhören zu spielen.

Ergänzung: glücklicherweise denken nicht alle so. Seit einem nocturne mit dem ich wieder angefangen habe, habe ich mir seit 2021 nicht ein einziges Stück was ich übe selbst ausgesucht. Nicht eines. Glücklicherweise war die Auswahl immer so, dass ich mich noch keinen Tag gelangweilt habe zu üben.
 
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Möglicherweise ein Grund warum viele Erwachsene aufhören selbst zu spielen, weil ihre musikalischen Ansprüche im selbst spielen nicht mehr befriedigt werden. Anstatt sie auf ihre Grenzen permanent zurück zu stoßen, wäre es viel sinnvoller zu versuchen diese Diskrepanz durch eine kluge Beschäftigung mit dem Werk zu überbrücken. WISSEN dass man das nicht spielen wird wie ein studierter Pianist, tut jeder rational denkende Erwachsene selbst.
Darin liegt eine große Tragik unserer Zeit!
Das dilettantische Blattspiel, die Freude an der intimen Befassung mit den großen Werken ist selten geworden.
Ich rede wie Kaiser vom vierhändigen Spiel von Sinfonien, von Kammermusik, von der eigenen Beschäftigung mit großen und wichtigen Werken.
Wenn ich daran denke, dass in Göttingen im (vor der Nazizeit!) 20. Jahrhundert die großen Physiker um Einstein und Heisenberg sich abends mit Kammermusik erholten, dann ermißt man vielleicht wie essentiell für die Kultur eines Landes Leute wie @Scarbo, @Carnina, @Debösi , @ChristianN und - noch immer - viele andere sind, die sich als Kenner und Liebhaber mit wertvoller Musik beschäftigen!
 
Eine entscheidende Frage ist übrigens auch, was einem eigentlich selbst heilig ist. Und da steht man im Spannungsfeld zwischen „will ich unbedingt auch mal selbst spielen, weil ich mich erst dadurch so richtig mit dieser Musik verbinden kann“ und „will ich auf keinen Fall spielen, weil ich dadurch mein Heiligtum zerstören könnte“.

Für mich ist z.B. das Concerto grosso in h-moll von Händel schon seit mittlerweile Jahrzehnten etwas ganz Besonderes, v.a. der zweite Satz, der sich für mich von allen anderen Orchesterwerken Händels abhebt. Zurzeit übe ich den Klavierauszug (von Giuseppe Martucci) dieses Stücks und riskiere damit, dass es dadurch entzaubert wird, weil es auf dem Klavier ohnehin nie so klingen wird wie das Original. Aber es ist mir dennoch wichtig, das Stück selbst zu spielen.
 
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Mein Thread scheint interessant für viele zu sein.

Eigentlich würde ich gerne auf 1000 Sachen eingehen. Womit ich anfangen will: Mit 17, als ich auch noch überlegt habe, vielleicht einmal an einer Aufnahmeprüfung für Instrumentalpädagogik, Hauptfach Klavier teilzunehmen, wurde mir ein Stück der von mir genannten Beispiele von meiner Klavierlehrerin mit einer ähnlichen Begründung des "heiligen" oder wie auch immer ausgeredet - und zwar hatte ich ein wenig drüber nachgedacht, Op. 110 zu spielen.
Bis heute überlege ich, ob ich das besser hätte spielen sollen oder nicht. Vielleicht spiele ich das irgendwann.

Was mich aber interessiert, ist, woher diese - warum haben diese Werke diese Aura (oder haben sie angedichtet bekommen) und warum haben eine Waldsteinsonate, eine dritte Chopinballade, Après une lecture de Dante das in diesem Maße nicht?

Unabhängig von jeglicher Mystifizierung diverser Musikstücke gibt es für mich bei vielen dieser Stücke natürlich auch andere Gründe, die nicht zu spielen.
Meine Technik ist definitiv nicht geeignet für einen Gaspard, Liszt h-Moll oder Beethoven Op. 106.

Man könnte meinen, D960 sollte für mich eine am Ende teils schwere, aber lösbare Arbeit in technischer Hinsicht sein.
Das Stück finde ich aber besonders empfindlich. Hier hat ein Forenmitglied eine durchaus achtbare Leistung an D960 gezeigt, an der einiges Gute zu sehen war. Würde ich die so spielen, wäre ich aber überhaupt nicht zufrieden, weil zumindest in meinen Ohren kleine Mängel bei diesem Stück besonders fatal sind.
Noch mehr als falsche Töne meine ich, nicht 100% kontrollierte Dynamik, holprige Läufe, rhythmische Ungenauigkeiten etc. Wenn das da nicht 100% sitzt, leidet das Stück da viel mehr drunter als viele durchaus meisterhafte Werke von Chopin oder Liszt.
Dementsprechend traue ich mich da nicht ran.

Aber je mehr ich eure Beiträge lese, denke ich, warum soll ich mich nicht ein wenig mit der Kunst der Fuge auseinandersetzen. Wenn das Ergebnis nicht vorzeigbar wird, vielleicht lerne ich dann trotzdem noch besser, den Zyklus zu verstehen.
 
und zwar hatte ich ein wenig drüber nachgedacht, Op. 110 zu spielen.
Bis heute überlege ich, ob ich das besser hätte spielen sollen oder nicht. Vielleicht spiele ich das irgendwann.
Warum denn nicht. Mir wurde sie vorgeschlagen mit folgender Ansage: „technisch nicht schwerer als Op.26 eher leichter, der erste Satz leicht, der Rest musikalisch sehr schwer, in der Fuge muss man Einstiegsstellen üben“. Sachlich, nüchtern, angenehm. (Die ich übrigens spiele weil ich daran bestimmte Dinge lernen kann, also eben WEIL ich das nicht kann)

Dass sie Arbeit macht ist klar, aber nicht mehr als andere mittelschwere Sonaten wie Op.26.

Das ist demnach meine Einstellung dazu und mir der gehe ich da auch dran. Wenn sie dich reizt, warum spielst du sie dann nicht? Dass man bei solchen Diskussionen hier aber Hemmungen bekommt kann ich bestens nachvollziehen.
 
Wenn man mal das Spielen beiseite läßt und an das Hören von Klaviermusik denkt: mal so die Goldbergvariationen ein Stück lang beim Frühstück und bis zum Gehen, oder ALLE Beethovensonaten happenweise zur selben Gelegenheit, auch mal mitten im Satz abgestellt, das ist doch sicher nicht in Ordnung, oder?
 

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