Genies vs. Handwerker

Interessanter Faden!

@Walter: Denselben Gedanken, wie man als Klavierlehrer reagiert bzw. reagieren sollte, wenn man erkennt, einen Genie vor sich zu haben, hatte ich auch gehabt, als ich die vorherigen Beiträge durchgelesen habe.

Wenn ein Klavierschüler zu mir in die Klavierstunde kommen würde und spielen würde wie Glenn Gould - dann würde er doch einiges von mir zu hören bekommen - nachdem ich mich von dem Herzanfall wieder erholt hätte

Ja, das würde mich schon sehr stark interessieren - was würde denn ein Klavierschüler von dir zu hören bekommen, wenn er wie Glenn Gould spielen würde, was Technik, Artikulation, Ausdruck und last but not least, Perfektion angeht?


Ich frage mich hauptsächlich, ob die Art zu unterrichten, wie sie allgemein praktiziert wird, eigentlich jemals jemanden zu einem "richtigen Pianisten" gemacht hat :rolleyes:

Ob man nicht völlig anders unterrichten sollte.

Wie ist denn die Art zu unterrichten, wie sie allgemein praktiziert wird? Diese Art kenne ich nicht, da ich lediglich bei 2 voneinander total verschiedenen Klavierlehrerinnen Unterricht hatte (allerdings lagen auch 25 Jahre Zeit dazwischen).

Und: kann man wirklich jemanden zu einem "richtigen Pianisten" machen?
Ich dachte bisher immer, richtige Überflieger haben verschiedene Lehrer, die die Pianistenlaufbahn begleiten, vielleicht hier und da sachte lenken, aber niemals versuchen, den Pianistenaspiranten "umzukrempeln". Eher, ihn/sie auf dem Weg der Findung einer eigenen Interpretation zu stärken?

Im übrigen, wenn es schon Kaderschmieden für angehende Pianisten (und andere Berufsmusiker) gibt, dann sind sie m.E. zu finden
a) in Musikspezialschulen, die zum Abi führen, aber bereits in der Schulzeit verstärkt Musik haben (zum Beispiel Schule "Belvedere" in meiner Heimatstadt Weimar, da werden fast alle Berufsmusiker, gefolgt von
b) Musikhochschulen, mit Dozenten von Reputation (d.h. unter ihren Händen sind schon einige Musiker "was geworden").

Vielleicht kann man ja mal die Unterrichtsmethodik dieser Dozenten versuchen zu ergründen; wobei immer noch die Frage ist, ob Musikstudenten mit grossen Plänen und grossem Talent vielleicht eine andere Lehrmethode brauchen als Amateurmusiker (ich gehe davon aus, dass dies der Fall ist)?
 
Ja, das würde mich schon sehr stark interessieren - was würde denn ein Klavierschüler von dir zu hören bekommen, wenn er wie Glenn Gould spielen würde, was Technik, Artikulation, Ausdruck und last but not least, Perfektion angeht?

Witziger Gedanke :)

Also wenn tatsächlich jemand genau so spielen würde wie Glenn Gould, dann würde ich mich (und ihn) fragen, was er eigentlich bei mir lernen will. Er spielt dann ja mit völliger Überzeugung, also nicht wie jemand, der auf der Suche ist. Ich würde ihm klarmachen, daß er bei mir nicht an der richtigen Adresse ist :)

Nun, angenommen, er wäre sich halt doch unsicher, er wäre unzufrieden mit seinem eigenen Spiel - dann würde ich ihm als erstes versuchen begreiflich zu machen, daß es in jedem Stück wichtigere und unwichtigere Stellen gibt. Solche, wo maximaler Ausdruck erforderlich ist, aber auch solche, wo die Musik einfach nur so munter vor sich hin plätschert. Das ist zum Beispiel eine Sache, die mir an Goulds Spiel immer wieder auffällt: er spielt unter Dauerhochdruck, egal ob gerade eine wichtige Fugen-Engführung stattfindet oder eine simple Sechterkadenz. Zu derm 3. Satz Mondscheinsonate würde ich ihn (den Schüler mit dem Gouldschen Spielstil) einfach mal einige Stellen sehr viel langsamer spielen lassen um zu zeigen, welche Details durch das schreckliche Tempo alle verlorengehen. Gut, wenn ihm das Tempo dann wichtiger ist als die Details, dann bin ich auch nicht der richtige Lehrer für ihn.

Zur Technik und zur Präzision: ich würde ihn wahrscheinlich fragen, ob er sich wirklich wohl fühlt so wie er am Klavier sitzt. Für mich sieht es nicht so aus.
Ein Großteil der Verspannungen sind offensichtlich auf eine übertriebene Pedanterie zurückzuführen, und ich würde mich hüten, über Präzision zu reden. Das hieße in diesem Fall nur Öl ins Feuer gießen.

Und ich würde ihm vorschlagen, Brahms Intermezzi zu üben :rolleyes:
 
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Ein kurzer Gedanke zum Thema Genie vs. Durchschnitt. Der Spruch kam grad zufällig auf meiner personalisierten Google-Seite mit Zitat-des-Tages-Funktion:
"Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert." Oscar Wilde

Find ich schön gesagt. Eins ohne das andere geht nicht.

Ob vermutetes Genie oder nicht, ob Klavier- oder Matheunterricht: Ich finde, das Entscheidende bei jeder Form des Unterrichts sollte sein, dass man den ganz persönlichen Zugang des Schülers zum Thema findet und fördert. Das ist mMn die einzige Möglichkeit, aus jedem das Bestmögliche herauszuholen. Standardisierte Lehrverfahren produzieren nie etwas Außergewöhnliches, sondern holen nur das Minimum heraus. Das mag jemandem reichen, der mit Unterricht nur Geld verdienen will. Sobald man aber das Ziel hat, jemandem tatsächlich etwas zu lehren, muss man andere Wege gehen und auch bereit sein, von seinen Schülern zu lernen. Sprich: Das eigene Ego samt Überzeugungen zurückstellen und sich auf die Erfahrung einlassen. Das wäre für so manchen meiner ehemaligen Lehrer sehr heilsam gewesen.
 
Nun, angenommen, er wäre sich halt doch unsicher, er wäre unzufrieden mit seinem eigenen Spiel - dann würde ich ihm als erstes versuchen begreiflich zu machen, ...

Dann würdest du ja seinen kompletten individuellen Stil zerstören. Goulds Interpretationen von Bach leben von der Artikulation und von dem "Dauerhochdruck", was meinst du warum seine Interprationen von Bach mehr verständlicher sind, als von anderen Künstlern? Er versachlicht die ganze Musik, er bringt mehr Vernunft statt Gefühle rein. Aber genau das ist sein Stil! Warum sollte man diesen verändern wollen?
 

Das hab ich getan, aber ich muss ja nicht gleich den ganzen Thread zitieren. Die Antwort war auch nicht gegen Haydnspaß persönlich gerichtet, sondern bezieht sich mehr auf Unterrichtsmethoden.

Denn das ist ja gerade das Problem für euch Lehrer: Ihr dürft den Schüler nicht in ein Korsett zwängen, sondern müsst dem Schüler ermöglichen, seine Kreativität zu entfalten!

An öffentlichen Schulen vermisse ich sowas sehr (damit mein ich Gymnasien, Realschulen, usw...). Der Schüler muss zwangsläufig ein Stoffgebiet können, für eigene Interessen in einem Fach bleibt ihm dann keine Möglichkeit diesen nachzugehen.

Vielleicht ist das ein Grund, wieso mein Lehrer mich daran hindern will, Aufnahmen von den Stücken, die ich zur Zeit spiele, zu hören und dass er mir nichts vorspielt oder bezüglich der Musikalität der Stücke eingeht.
 
Vielleicht ist das ein Grund, wieso mein Lehrer mich daran hindern will, Aufnahmen von den Stücken, die ich zur Zeit spiele, zu hören und dass er mir nichts vorspielt oder bezüglich der Musikalität der Stücke eingeht.
Ubik, du wiedersprichst dir doch selbst. Dein Ziel - eine eigene Interpretation zu finden- wiederpricht doch deiner Methode dorthin.
Wie willst du denn eine eigene Interpretation zustande bringen, wenn du dir während dem Einüben andere Aufnahmen anhörst, die dich dazu verleiten, bestimmte Dinge anderer Pianisten zu übernehmen?

Meine Lehrerin macht das - mit Ausnahme der Tatsache, dass sie auch auf die Musikalität eingeht- übrigens genau so. Eben weil sie will, dass ich lerne, ein Stück selbst zu interpretieren.
 
Wie willst du denn eine eigene Interpretation zustande bringen, wenn du dir während dem Einüben andere Aufnahmen anhörst, die dich dazu verleiten, bestimmte Dinge anderer Pianisten zu übernehmen?

Wieso? Ich übernehme es nicht genauso, ich hol mir nur die besten Sachen raus und vermische sie. So eine Art Zusammenstellung von Andras Schiff, Glenn Gould (den eher weniger), Claudio Arrau und Cziffra :D
 
Finde ich auch völlig legitim, sich andere Aufnahmen anzuhören!

Dieses "Selbst zu einer Interpretation finden" geht doch wieder in diese
Naturgenie-Richtung. Ich finde, man sollte so viel wie möglich von anderen
übernehmen - und wenn man dann mal 20+ Jahre spielt, dann sollte man
genug gereift sein, ohne Referenzaufnahmen auszukommen.

Btw: Wenn ich zumindest ein Stück mal einige Zeit nicht spiele und höre,
dann vergesse ich sowieso mehr oder weniger eine Referenzaufnahme.
 
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Finde ich auch völlig legitim, sich andere Aufnahmen anzuhören!

Diese "Selbst zu einer Interpretation findet" geht doch wieder in diese
Naturgenie-Richtung.

:)

Ich finde auch, es geht zu weit, wenn der Lehrer dem Schüler verbietet, sich Aufnahmen anzuhören. Es ist zwar im Prinzip besser, ein neues Stück erstmal unbeinflußt von Plattenaufnahmen einzustudieren, weil man sich dann wirklich alles selber erarbeiten muß (Rhythmus, Artikulation, Agogik, Pedal etc.)
Wenn die erste Erarbeitungsphase überwunden ist, kann der Vergleich mit anderen Aufnahmen aber sehr anregend und hilfreich sein. Noch mehr irritiert es mich, daß ubiks Lehrer auch über die Interpretation garnicht reden will. Oder hab ich da was mißverstanden?
 

Kurz noch meine Definition von "Genie": Das ist für mich jemand, der wesentlich weniger Zeit als der Durchschnittsmesch benötigt um etwas zu begreifen und umzusetzen. Dazu kommt vermutlich auch noch eine gehörige Portion eigenständigen Denkens. Das heißt im Klartext, daß bei gleichen Voraussetzungen ein Genie schneller zum Ziel kommt als der Durchschnitt. Vielleicht beneidenswert aber nicht erlernbar.

Das hat mit meinem Beitrag allerdings nicht viel zu tun, dort steht "Genie" in Anführungszeichen, weil ich mich lediglich auf die vorherigen Beiträge bezogen hatte, wo das Wort bereits verwendet wurde.

Den Exkurs über Jugend Musiziert fand ich auch interessant. Da wird mal wieder sichtbar, daß es genau zwei Klassen von fähigen Musikern gibt: Die "Macher" und die "Nachmacher". Der Nachmacher setzt den heutigen Wissensstand optimal um, der Macher erweitert den Wissensstand. Beide haben ihre feste Rolle, denn nur der Nachmacher ist in der Lage, ein breites Publikum zu erreichen und ohne den Macher hätte die Musik keine lebendige Zukunft.

Und um noch mal auf den Klavierunterricht zurückzukommen: Wer zum Ziel hat, sich selbst zu hause zu erfreuen, der kann natürlich so spielen wie er will und sich alle Freiheiten herausnehmen, die ihm gefallen. Wer aber vor Publikum bestehen will, der kommt ohne ein Mindestmaß an Handwerklichen Fähigkeiten nicht aus, auch wenn er später nur mit Hammer und Meißel spielen will. Denn ohne Grundausrüstung muß er entweder tatsächlich genial sein oder ein unverschämtes Glück haben, um das zu erreichen, was er gerne musikalisch ausdrücken möchte. In gewissem Maße trifft das sogar auf den Heimspieler zu, aber der wird vieles mit Phantasie ausgleichen, was man vom Publikum eher nicht erwarten sollte.
 
eigene und fremde Interpretationen

Ein etwas anderer Aspekt:

Hubert Giesen berichtet von einem Unterricht, bei dem verlangt wurde, die Interpretation des Lehrers zu übernehmen, bevor eine eigene Interpretation erlaubt wurde.

Grund: wer die eigene Interpretation sofort in den Vordergrund stellt oder stellen darf, spielt möglicherweise einfach nur so wie er es eben kann und nicht so, wie er wirklich will.

Wer handwerklich in der Lage ist, eine fremde Interpretation zu übernehmen, kann auch eine eigene Interpretation ausdrücken.

Finde ich bemerkenswert.

Walter
 
Fadentitel auf Wunsch des Erstellers geändert.
 
@ Walter: interessanter Gedanke - dass man erst wenn man in der Lage ist, eine fremde Interpretation übernehmen zu können, auch eine eigene Interpretation glaubhaft ausdrücken kann.

Dies erinnert mich an eine Zeitzeugenaussage über die Art, wie Chopin Klavier spielte. Sinngemäss wurde gesagt, dass Chopin ein Stück mehrfach hintereinander sehr unterschiedlich interpretieren konnte, aber jedesmal absolut überzeugend.

Zum Thema-Titel "Genies<->Handwerker" möchte ich nur anmerken, dass Genies durch die Bank erstmal ihr Handwerk beherrschen, und dass es nicht heissen kann Genie oder Handwerker, sondern dass Klavierspiel-Genies eben auch geniale Handwerker sind. Die Kunst ist nicht im luftleeren Raum, sondern nur durch solide Technik möglich.

Weiterhin, das Wichtigste, was m.E. ein Genie ausmacht, ist, dass ein Genie vor allem aus sich selber schöpfen kann. Zum Beispiel das Erfinden einer ganz neuen Klaviertechnik wie bei Chopin, aus sich heraus. Diese Kreativität ist es, was ein Genie von einem "Fleissarbeiter" unterscheidet.
 

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