Genies vs. Handwerker

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22. Feb. 2007
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Folgende Bemerkung von Klavigen im Thread "Pianisten auf Excstasy":

Diese Aufführung stellt für mich ein Ärgernis dar, welches ich sicher nie mehr anhöre. Es schmälert nicht seine sonstigen Verdienste, sondern zeigt, dass auch Genies partiell mal irren.

hat mich zur Eröffnung dieses neuen Thread über "Geniekult - Geniewahn" inspiriert.

Ich wundere mich nämlich sehr oft darüber, daß die Top-Pianisten anscheinend nach völlig anderen Kriterien beurteilt werden als "normale" Klavierspieler. Wenn ein Klavierschüler zu mir in die Klavierstunde kommen würde und spielen würde wie Glenn Gould - dann würde er doch einiges von mir zu hören bekommen - nachdem ich mich von dem Herzanfall wieder erholt hätte :D

Daher meine Frage (vor allem an die Kollegen, die Meinung der Klavierschüler würde mich aber auch interessieren):

welche Relation gibt es zwischen dem Klavierspiel der Pianisten-"Genies" und den musikalischen und pianistischen Überzeugungen der Klavierlehrer, also dem, was man den Schülern beibringt und von ihnen erwartet.

Genies können sich alles erlauben - Klavierschüler werden ins Korsett gepresst und stranguliert...?

Mir scheint sich da ein Abgrund aufzutun, der kaum zu überbrücken ist.
 
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Ich denke, jeder, der heutzutage als genie bezeichnet wird, hat ja erst einmal beweisen müssen, dass er auch das "standard-spielen" beherrscht.
Erst dann kann jemand zu experimentieren und forschen beginnen und sich auch erlauben, auf sehr skurrile und ungewöhnliche Art die Kunst darzubieten.

Ich sehe das ncoh stärker in der Literatur. Da gab es Zeiterscheinungen wo ich mich frage, warum das überhaupt überliefert wird. Ich denke da stark an den Dadaismus aus den 1920er und 30er jahren des letzten jahrhunderts. Da denkt man sich, das könnte man doch auch selber... ;)
Aber diese Künstler haben ja vorher bewiesen, dass sie das "normale" schreiben (weiß nicht wie ich es nennen soll) beherrschen.

hoffe das passte jetzt irgendwie dazu :)
 
Wohlgemerkt: es gibt viele, die sehr zurecht dort gelandet sind, wo sie stehen.

Das wollte ich ja überhaupt nicht infragestellen. Ich frage mich hauptsächlich, ob die Art zu unterrichten, wie sie allgemein praktiziert wird, eigentlich jemals jemanden zu einem "richtigen Pianisten" gemacht hat :rolleyes:

Ob man nicht völlig anders unterrichten sollte.
 
Lieber Haydnspass!
da sollte man vielleicht nicht so verallgemeinern. es gibt doch auch bei den KL solche und solche. dabei denk ich mal unbescheiden an Neuhaus, der war doch wohl in der Lage auch "Genie" zu produzieren. denke dabei an S.Richter. allerdings schreibt er sinngemaess: Ausbildung ist auch bei diesen aussergewoehnlich begabten Leuten notwendig, die Umsetzung ist aber ein procedere, das qua von selbst laeuft. vielleicht hast Du ja auch solche hochbegabte Schueler, aber bitte nicht mit Wagner:mad:, den Spielcharakter allzu frueh verderben.
es lebe die Mittelmaessigkeit und damit die Normalitaet
einen schoenen Sonntag liebe Gruesse
Sigurd
 
Vielleicht sollte man Schülern mehr Freiraum zugestehen. Speziell aber unter der Voraussetzung, dass ein Schüler das auch möchte. Viele (Menschen in sämtlichen Lebensbereichen) sind ja durchaus froh, sich an festen Regelwerken und Rahmen zu orientieren. Aber dann trifft man doch hin und wieder mal den talentierten Freigeist, der ausbrechen möchte. Das sollte man diesen Leuten auch erlauben. Ich glaube nämlich, dass dieses zwanghafte Im-Zaum-Halten bei den Menschen, die nach Grenzüberschreitungen streben, viel kaputt machen kann. Sie allerdings in ihrer ungewöhnlichen Entwicklung allein zu lassen und als Freak abzustempeln, halte ich auch für falsch. Ich glaube, dass dann doch einigen die charakterliche Stärke fehlt, ihr Ding durchzuziehen. Allerdings bedeutet das natürlich für einen Lehrer, dass er mal über den eigenen Schatten springen muss, die eigenen Überzeugungen hinten anstellen muss und sich auf eine neue Sichtweise einlassen muss. Also prinzipiell ein eher unbequemes Unterfangen.

Dass "anerkannte" Genies das geworden sind, was sie sind, und dass sie für Dinge, die im alltäglichen Geschehen absurd wirken, gar verehrt werden, ist wahrscheinlich eine Mischung aus dem Glück, sich in Umständen bewegt zu haben, die zu einer gewissen Machtposition geführt haben, und aus der Tatsache, dass sie einen Weg gefunden haben, sich samt ihrer Vorstellungen durchzusetzen und das auch psychisch durchgehalten haben.

Zu den Bewertungskriterien und ihrer Gerechtigkeit: Wenn ein Glenn Gould spielt, wie er eben spielt, dann hat er vermutlich seine Gründe und einen ausreichenden theoretischen Background, der begründet, warum es sich eben NICHT an den Standard hält. Bei einem mittelmäßig gebildeten Schüler regt sich aber schnell der Verdacht, dass es purer Zufall ist und er nicht begründen kann, warum er sich nicht an die Spielregeln hält, es liegt vielleicht auch der Verdacht nahe, dass er nur deswegen anders spielt, weil er es in der Standard-Variante einfach nicht kann. Vielleicht macht das noch einen Unterschied.
 
Neuhaus, der war doch wohl in der Lage auch "Genie" zu produzieren. denke dabei an S.Richter

Ich glaube eigentlich nicht, daß Genie von Lehrern "produziert" wird. "Genie" ist etwas, was bereits vorhanden ist als Teil der Persönlichkeit, der Lehrer kann höchstens noch ein bißchen daran herumfeilen. Die Gefahr, daß Genie durch herumfeilen beschädigt wird, darf man aber nicht unterschätzen.

vielleicht hast Du ja auch solche hochbegabte Schueler,

hahaha, schön wärs :)

aber bitte nicht mit Wagner:mad:, den Spielcharakter allzu frueh verderben.

Ich bin eh kein Freund von Transkriptionen (mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen) und Originalwerke für Klavier gibt es von Wagner glücklicherweise fast keine.

es lebe die Mittelmaessigkeit und damit die Normalitaet

Das will ich jetzt aber überhört haben :shock:
 
Der Begriff "Genie" ist zu einem Marketing-Schlagwort geworden - mit dem unausgesprochenen Gebot: Kritik ist von nun ab vreboten! Pianisten wie Glenn Gould mögen ihre Meriten haben, aber man sollte auch den Mut haben zu sagen, daß er auch Kompositionen (und Komponisten) exekutiert hat. Dies mit seiner "Genialität" zu entschuldigen, halte ich für unangebracht (man könnte auch sagen "Götzenkult").

Insofern akzeptiere ich eher, wenn jemand bei Tönen daneben langt, als wenn jemand sich im Ton vergreift. Will sagen: Exaltiertheiten und "genialische" Schlampereien sind nicht extraordinär, sondern nur extra ordinär.

Vielleicht denke ich ja zu sehr handwerklich. Erst einmal sollte es darum gehen, die Erfordernisse des Notentextes (samt dem, was zwischen den Zeilen steht) zu realisieren. Wenn ich dazu in der Lage bin, steht es mir frei, die interpretatorischen Freiräume (die jede Komposition dem Spieler einräumt) plausibel (!) auszugestalten. Das gilt für Barenboim, Gould, Grimaud, Lang Lang genauso wie für jeden meiner Schüler. (Und was die Marketing-Abteilungen schreiben, interessiert mich herzlich wenig.)
 
dabei denk ich mal unbescheiden an Neuhaus, der war doch wohl in der Lage auch "Genie" zu produzieren. denke dabei an S.Richter.
Dabei sagt er doch selbst - oder Richter hat das gesagt- dass die Pausen, die Stille in der Musik, das Einzige war, was er Richter beibringen konnte.
 
Das wollte ich ja überhaupt nicht infragestellen. Ich frage mich hauptsächlich, ob die Art zu unterrichten, wie sie allgemein praktiziert wird, eigentlich jemals jemanden zu einem "richtigen Pianisten" gemacht hat :rolleyes:

Ob man nicht völlig anders unterrichten sollte.

Ob jemand ein "richtiger Pianist" wird, liegt nicht am Lehrer. Heinrich Neuhaus schreibt:

"Ich sagte schon, daß ich Richter gegenüber im Unterricht meist eine Politik >wohlwollender Neutralität< (durchaus keiner passiven) betrieb. Er zeigte von Jugend an ein so ausgezeichnetes Verständnis für Musik, er behielt so viel in seinem Kopf und verfügte dabei über eine so wundervolle natürliche Klavierbegabung, daß man nach dem Sprichwort handeln konnte: Einen Gelehrten zu lehren, heißt, ihn zu verderben. (Fußnote: Ein Beispiel aus der höchsten Sphäre: Liszt weigerte sich, den ganz junden Rubinstein zu unterrichten, weil er sofort seine gigantische Begabung erkannte, dagegen beschäftige er sich gerne mit wesentlich weniger begabten Pianisten.)

Zitat aus "Die Kunst des Klavierspiels" Seite 148.

Genies brauchen keinen Unterricht. Wolltest Du nur diese unterrichten, wärest du arbeitslos, Haydnspass :D
 
Genies brauchen keinen Unterricht. Wolltest Du nur diese unterrichten, wärest du arbeitslos, Haydnspass :D

Ja aber genau an dem Punkt wirds jetzt interessant! :)

Nämlich da, nach welcher Methode man die "Normalschüler" unterrichten soll. Und mir wird heute, im Verlauf dieser Diskussion, immer mehr klar, was eigentlich dahintersteckt, daß z.B. bei "Jugend musiziert" immer die braven Strebertypen gewinnen während genau diese Sorte Klavierspieler im späteren wirklichen (Konzert-)Leben überhaupt nicht gefragt ist. Da will man dann schon den Wahnsinn hautnah miterleben. Alles, was der normale Klavierschüler in seinem Unterricht lernt, interessiert dann nicht mehr die Bohne. Dann soll schon die Sau rausgelassen werden.

Auf welcher Seite steht man in diesem Zirkus als Lehrer...?
Auf welches Ziel hin soll man die Schüler unterrichten?
Ist Perfektion wirklich ein anzustrebendes Ziel - oder sollte man nicht besser lehren, was die Komponisten mit ihren Werken ausdrücken wollten. Perfektion ist da das letzte und langweiligste, was mir in diesem Zusammenhang einfällt.

ups, mir fällt gerade auf, daß sich jemand aus dem Forum fälschlicherweise angesprochen fühlen könnte. Ich rede hier aber ganz allgemein und alle Forumsteilnehmer sind ausdrücklich nicht gemeint :)
 
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Naja, ich behaupte mal, die Genies können auch so spielen, wie von dem "Normalschüler" verlangt wird.
Doch du hast natürlich Recht mit der Beobachtung, dass ein berühmter Pianist mehr bieten muss. Denn was bringt eine Interpretation, die zwar gut ist, aber sich von anderen Top-Interpretationen kaum unterscheidet?
Das ist doch wie in der Komposition, wenn jemand eine Beethoven-ähnliche Sinfonie komponiert, die stilistisch sicher ist und gut klingt, interessiert das auch niemanden.
Wenn ich mir eine neue Interpretation anschaffe, muss sie mir etwas bieten, was die bisherigen von Pollini, Richter, etc. noch nicht haben bieten können ;)
 

"Mir scheint sich da ein Abgrund aufzutun..."
Zwischen einem Genie und einem durchschnittlichen Klavierlehrer tun sich bestimmt Abgründe auf, Haydnspaß...

Die Frage ist weniger, ob Genies alles dürfen und weniger Begabte gar nichts, sondern ob ein Lehrer immer und ständig auf der eigenen Sichtweise beharren muß. Manche Lehrer tun das, manche nicht. Da ist aber immer zu unterscheiden, ob ein Schüler mit einem Mindestmaß an Können eigene Vorstellungen verwirklicht oder ob er so spielt, wie er spielt, weil er's besser noch nicht kann. Wenn man z.B. einem Schüler sagt, ein Satz müsse ein gewisses Mindesttempo haben, und ihm eine Metronom-Angabe vorschreibt, dann preßt man ihn nicht in ein Korsett und stranguliert ihn, sondern steckt ihm ein Übeziel. Das scheint mir ein großer Unterschied zu sein.

Es gibt immer Besserwisser, die immer kommentieren müssen, warum man etwas nur so und nicht anders spielen dürfe. Das sind aber eher armselige Kreaturen, die anders keine Profilierungsmöglichkeit finden. Ein Lehrer sollte klug genug sein zu unterscheiden, wann er auf einer Sache beharren muß und wann er die Zügel lösen kann.

Ansonsten betrachtet man selbstverständlich das Spiel der Genies anders als das der Schüler doch schon allein deswegen, weil man dem Genie, auf das man keinen Zugriff hat, gar nichts vorschreiben kann. Wenn Gould z.B. den dritten Satz des Italienischen Konzerts in einem Tempo herunterrasselt, daß einem Hören und Sehen vergehen, dann mag man zwar kommentieren, daß das eindeutig zu schnell sei, aber man muß neidlos anerkennen, daß man's selber so nicht könnte.

Beim Unterrichten normaler Schüler, auch begabter, geht es in erster Linie nicht darum, das kaum vorhandene Genie zu zügeln, sondern Dinge wie klangliche, agogische und sonstige Gestaltung wenigstens in kontrollierte Bahnen zu lenken. Die Bravheit von JuMu-Preisträgern ist normal, denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man arbeitet, ausreichende Begabung vorausgesetzt, fleißig und tut fleißig, was der Lehrer sagt, oder man ist ein Genie. Das zweite ist zu selten, um sich darüber Gedanken zu machen, schließlich sind wir Klavierlehrer selber keine Genies, sonst wären wir keine Klavierlehrer.
JuMu-Motto sollte übrigens sein: "Die Zeit bescherte uns viele Genies. Hoffen wir, es sind ein paar Begabte darunter." (S. J. Lec, "Unfrisierte Gedanken")
 
Interessantes Thema!

Ich denke, der Unterschied zwischen einem "Genie" und einem mittelmäßigen Klavierschüler liegt zum Beispiel daran, daß ein Genie genau weiß was er will und das auch umsetzen kann, während ein Klavierschüler "seine Interpretation" mehr oder weniger dem Zufall verdankt. Manche Genies haben sich allerdings auch am Ringfinger aufgehängt, weil sie eben doch nicht ganz so spielen konnten, wie sie sich das vorgestellt hatten....

Ob Genie oder nicht, eine solide Grundausbildung halte ich für absolut wichtig und dazu gehört eben auch "richtig" zu spielen. Es sollte aber nicht der Eindruck vermittelt werden, es gäbe in der Musik nur eine einzige Wahrheit und auch weniger Begabten sollte es erlaubt sein, selbstständig zu interpretieren, auch wenn das Resultat dem Lehrer nicht immer gefallen wird. Aufgabe des Lehrers wäre hier eher, dem Schüler zu vermitteln, was dem Durchschnittsohr ungewohnt vorkommt (bzw. scheußlich klingt) und vor allem warum. Offenheit in beide Richtungen und aus beiden Richtungen! Und aus Fehlern kann man auch hervorragend lernen, wenn man sie denn erkennt.
 
Wenn ich mir eine neue Interpretation anschaffe, muss sie mir etwas bieten, was die bisherigen von Pollini, Richter, etc. noch nicht haben bieten können ;)

Okay, aus der Sicht des Kunden ist das ja auch legitim.

Ich hab jetzt eher vom selber Erarbeiten geredet. Also daß ein Klavierschüler ein Stück erarbeitet - aber nicht auf eine wie auch immer geartete "Perfektion" hin, sondern auf ein sich-in-den-Komponisten-hineinversetzen hin.

Ah, jetzt hab ichs :-)

sich in den Komponisten hineinversetzen - und nicht sich in Richter, Pollini, Schnabel oder sonst einen der Superpianisten hineinversetzen.

Ich denke, das wäre der entscheidende Unterschied. Der Plattenkäufer hat diese Möglichkeit ja nicht. :cool:
 
Die Bravheit von JuMu-Preisträgern ist normal, denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man arbeitet, ausreichende Begabung vorausgesetzt, fleißig und tut fleißig, was der Lehrer sagt, oder man ist ein Genie.

Ich denke eben nicht, daß "Genie" etwas ist, das man entweder hat oder nicht hat. Ich gehe davon aus, daß jeder ein bißchen Genie in sich hat. Der eine hat eben mehr davon, der andere weniger. Auch wenn jemand nur ein bißchen Genialität in sich hat, sollte diese gefördert und nicht bekämpft werden.

Die Bravheit von JuMu-Teilnehmern finde ich überhaupt nicht normal. Man kann sie sich aber leicht erklären: Jemand, der bei JuMu mitmacht und auf einen Preis spekuliert, muß eben auf eine bestimmte Art und Weise spielen (auf handwerkliche Sauberkeit, Geläufigkeit, Präzision getrimmt). Er wird von seinem Lehrer entsprechend darauf vorbereitet werden. Wenn "Genialität" (=Individualität / gestalterische Fantasie) nicht belohnt, sondern als Mangel gerügt wird, dann braucht man sich nicht zu wundern, daß diese Fähigkeit mit der Zeit verkümmert.
 
@ Jörg, Guendola, Haydnspaß:

Mir ist ist immer noch nicht ganz klar, was Ihr unter (musikalischer, interpretatorischer, pianistischer) Genialität versteht.

Nicht ganz zu Unrecht wird bei "Jugend musiziert" die "Bravheit" der Teilnehmer kritisiert. Ich weiß nur zu gut, daß manche dieser Jungpianisten fünf Minuten nach ihrem akuraten Vorspiel derart abfetzen können, daß sich einem die Ohren anlegen. Nur - die Fähigkeit zu improvisieren wird bei "Jugend musiziert" nicht verlangt. (Dummer Vergleich: Wer beim Marathonlauf eine Abkürzung oder das Fahrrad nimmt, mag zwar eine interessante Lösungsstrategie gefunden haben, verstößt aber gegen die Regeln.)

Auch zur Genialität gehört Handwerk, und das will erst einmal erlernt sein. (Mozart wäre ohne das pädagogisch-didaktische Geschick seines Vaters sicherlich nicht zu dem geworden, der er für uns heute ist.) Aufgabe des Lehrers ist, dieses Handwerk zu lehren und gleichzeitig dem Schüler die emotionale und intellektuelle Tiefe der Musik zu vermitteln.
 
Aufgabe des Lehrers ist, dieses Handwerk zu lehren und gleichzeitig dem Schüler die emotionale und intellektuelle Tiefe der Musik zu vermitteln.

Als Schüler muss ich sagen, dass ich letzteres sehr vermisse. Denn genau das finde ich wichtiger, das ist nämlich das, was die Musik ausmacht. Aber wenn man das Handwerk nicht beherrscht, dann kann man letzteres nicht realisieren.
 
"Auch zur Genialität gehört Handwerk, und das will erst einmal erlernt sein." (Wolfgang)
Nichts anderes wollte ich sagen. Ich habe bei JuMu die eine oder andere geringfügige Fehleinschätzung erlebt, aber nie ein Urteil, das z.B. eine Argerich ungerecht hätte beurteilt. Es ist einfach nicht wahr, daß Musiker -- und auch Jury-Mitglieder sind Musiker -- alle nur beschränkt seien und engstirnig. Sie alle warten auf das Genie, egal ob sie selber welche sind oder nicht.
Am Anfang ist das Handwerk -- das ist in jeder ernstzunehmenden Kunst so. Nur wenn das überzeugend beherrscht wird, kann man darüber reden, ob auch noch Genie da ist. Umgekehrt macht es keinen Sinn. Es ist heute aber Mode, die Dinge auf den Kopf zu stellen und dilettantische "Kreativität" für einen größeren Wert zu halten als professionelles Handwerk. Das scheitert zwangsläufig am kläglichen Ergebnis, aber man kann's ja immer mal wieder versuchen...
 
@ Jörg, Guendola, Haydnspaß:

Mir ist ist immer noch nicht ganz klar, was Ihr unter (musikalischer, interpretatorischer, pianistischer) Genialität versteht.

Ich kann nur für mich sprechen. Ich verstehe darunter eine Interpretation, die über das reine Abspielen des Notentexts hinausgeht. Und zwar in dem Sinn, daß ich eben keine Tonleitern, Akkorde, Pausen höre - sondern Musik.

Nicht ganz zu Unrecht wird bei "Jugend musiziert" die "Bravheit" der Teilnehmer kritisiert. Ich weiß nur zu gut, daß manche dieser Jungpianisten fünf Minuten nach ihrem akuraten Vorspiel derart abfetzen können, daß sich einem die Ohren anlegen. Nur - die Fähigkeit zu improvisieren wird bei "Jugend musiziert" nicht verlangt.

Na, es gibt ja auch Jazz bei Jugend musiziert, oder nicht? ;)

Ich meinte aber nicht das Improvisieren, sondern das Gestalten. Der Mut, die Musik wirklich ernst zu nehmen. Da, wo etwas "passiert" auch wirklich etwas passieren zu lassen. Das Durchspielen eines Stücks in der Art, daß man ein Metronom danebenstellen könnte ist doch einfach nur ätzend. Komischerweise sind es gerade solche Stücke (Italienisches Konzert, Mendelssohn Spinnerlied, Chatschaturjan Toccata, Ibert Le petit ane blanc, der Hummelflug, die Wut über den verlorenen Groschen, Chopin Etüden oder die Fantasie Impromptu (sorry Stilblüte, das soll keine Kritik an dir sein!) , also Stücke mit einem durchgängig gleichbleibenden "Rhythmus" (wenn man da von Rhythmus überhaupt reden kann) haben, die sich bei Teilnehmern und Jury von Jugend musiziert seit Jahrzehnten größter Beliebtheit erfreuen.

(Dummer Vergleich: Wer beim Marathonlauf eine Abkürzung oder das Fahrrad nimmt, mag zwar eine interessante Lösungsstrategie gefunden haben, verstößt aber gegen die Regeln.)

Marathonlauf - ich finde, das paßt sehr gut zu Jugend musiziert :cool:


Na, gut, ich habs jetzt verstanden, worum es bei Jugend musiziert geht.
Mich interessiert sowas nicht mehr.
 
Meister und Mittelmaß

Wer hat schon einmal ein Genie als Schüler gehabt? – Sollte mal ein solcher auftauchen, kann sein (mittelmäßiger?) Klavierlehrer die Größe zeigen, ihn in berufene Hände weiter zu reichen und bei seinen (mittelmäßigen?) Schülern zu bleiben.

Vielleicht ist es die größere Kunst, mittelmäßige Schüler dazu zu bringen, auch nach dem Verlassen der Schulen bei ihrem Klavierspiel zu bleiben und sie zur Selbständigkeit zu erziehen. Gemeint ist die Selbständigkeit, sich selbst geeignete Stücke zu suchen und sich mit einer guten Übe- und Lerntechnik anzueignen.

Ich denke, es ist das größte Verdienst und das edelste Ziel eines Klavierlehrers, einen begeisterten Amateurpianisten herangebildet zu haben.

Zum Vergleich Genie (Weltspitze) und Unterrichtskultur:

Früher war es im Tennisspiel verpönt, den Schläger mit beiden Händen zu führen, heute bringen dieselben Tennislehrer ihren Schützlingen bei wie das mit beiden Händen geht seit die Weltelite zweihändig drauf drischt. :confused:

Früher waren bei einem Doppelsalto im Kunstturnen die Knie zusammen zu halten. Seit die Weltelite ihre Doppelsalti mit offenen Beinen turnt, ist das auf einmal statthaft (zum ersten Mal beim Doppelsalto rückwärts als Abgang vom Barren im Männerturnen, der Körper geht enger zusammen, es ist eine höhere Rotationsgeschwindigkeit möglich).
Bei Weltmeisterschaften im Kunstturnen laufen immer mindestens drei Kameras mit, um die Bewegungen der Spitzenturner zu dokumentieren. – Anschließend sind diese Bewegungen der Meister das neue Credo der Trainer auf der ganzen Welt. :D

In jeder Sportart wird untersucht, wie das die Weltspitze gemacht hat, nach ganz vorne zu kommen. Dann wird versucht, die Art des Trainings der Weltmeister zu kopieren oder nachzustellen.

Bleiben wir bei unserer (gehobenen) Klavier-Mittelmäßigkeit :cool:

Walter
 

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