Eure Meinung zu "Historisch informierte Aufführungspraxis"

Ich finde die Idee der historisch informierten Aufführungspraxis hochinteressant, und zwar für alle Musikrichtungen, die im Original nicht als Tonträger vorliegen. Es entspricht auch meinem Naturell, Dinge erstmal so kennenzulernen, wie sie sind, bevor ich ihnen meinen Stempel aufdrücke. Allein die Tatsache, daß sich der Klang der Instrumente im Laufe der Jahrhunderte dramatisch geändert hat, macht es schon interessant. Wenn man diesen Umstand berücksichtigt, sollte es doch automatisch leichter sein, die Grundidee der Musik zu verstehen. Gemischt mit der Kenntnis der Mittel, die ein Komponist zur Verfügung hatte, bekommt auch eine naive rein gefühlsmäßige Interpretation eines Stückes ganz andere Möglichkeiten.

Schade ist nur, daß selbst eine historisch bestens informierte Aufführungspraxis höchstens eine Idee davon vermitteln kann, wie das Original tatsächlich geklungen hat. Das liegt aber auch daran, daß wir heute ganz andere Hörerfahrungen haben und damit niemals in der Lage sein werden, historische Musik genauso zu empfinden, wie die Menschen in der entsprechenden Zeit.
 
Ich finde die von Mindenblues genannte "historisch informierte Aufführungspraxis" sehr interessant, kann mir aber noch nicht so richtig ein Bild davon machen, wie sich diese Spielweise anhört.

@alle: Vielleicht könnte jemand eine "normale" Einspielung und eine "HIP Einspielung", am besten natürlich vom selben Stück, hier reinstellen bzw. den Link dazu. Dann würde es sicher auch mehr Meinungen darüber geben, was nun "besser" klingt.

lg marcus
 
Vieles klingt für mich kalt und - eben beliebig.
Ja gut das ist dann wirklich Geschmackssache über die man sich bekanntlich nicht streiten kann. Obwohl Gould ja hundert mal näher an der "Historisch informierte Aufführungspraxis" liegt als die von dir musikalischer bezeichneten Aufnahmen der Herren Richter und Schiff;)

Es kann nicht schaden, sich die Mühe zu machen, sich dem mal zu nähern, wie Bach selbst gespielt hat, auf Grundlage von dem was man heute weiß.
Selbstverständlich, nur klingen manchmal Stücke auf einem modernen Instrument wie dem Klavier "modern gespielt" einfach besser.
 
Hallo,

in Sachen Gould möchte ich als leidenschaftlicher Cembalospieler entschieden widersprechen. Richtig ist sicher, dass er nicht romantisierend gespielt hat, aber das Gegenteil von romantisch ist noch nicht historically informed.

Ich erinnere mich, dass unser Cembalo-Prof. geradezu allergisch gegen GG war. So schlimm ist's wohl nicht, vieles ist sehr spannend gemacht.

Ich glaube aber nicht, dass GG viel Ahnung von Carl Philipps Schriften u. a. gehabt hat. Es gibt auch Cembalo-Aufnahmen von ihm, die sind nun wirklich nicht HIP, eher im Gegenteil. Ich finde das taugt dann mehr als Vergleich als ein Cembalo-Klavier-Vergleich.

Die Frage ist auch, wie man am Klavier vin HIP profitieren kann. Die Instrumente der HIP Szene sind Cembalo, Clavichord und Hammerflügel. Das fordert eine andere Spielweise als ein modernes Klavier. Ob da am Klavier wirklich etwas zu holen ist?

Eine andere Frage ist, ob man Forschungsprinzipien der HIP nicht auch auf das 19. Jh. anwenden kann. Bei sehr alten Aufnahmen wie Cortot lassen sich schon Unterschiede zu heute gängiger Auffassung ausmachen.

Grüße
Axel
 
Ich glaube aber nicht, dass GG viel Ahnung von Carl Philipps Schriften u. a. gehabt hat.

Sehe es auch so, dass GG nicht als Paradebeispiel für HIP dienen kann - nur weil er statt Dauerlegato viel artikuliert hat.

Die Frage ist auch, wie man am Klavier vin HIP profitieren kann. Die Instrumente der HIP Szene sind Cembalo, Clavichord und Hammerflügel. Das fordert eine andere Spielweise als ein modernes Klavier. Ob da am Klavier wirklich etwas zu holen ist?

Warum nicht? Warum soll man nicht auch Gesangsbögen entsprechend der rhythmischen Metrik auf dem modernen Klavier ziehen können? Bloß weil der viel längere Nachklang beim Klavier gegenüber dem mehr perkussionsartigen Klang eines Cembalos oder Clavichords zu mehr Legatospiel einlädt, muß man ja nicht nur Dauerlegato spielen.

Eine andere Frage ist, ob man Forschungsprinzipien der HIP nicht auch auf das 19. Jh. anwenden kann. Bei sehr alten Aufnahmen wie Cortot lassen sich schon Unterschiede zu heute gängiger Auffassung ausmachen.

Absolut! HIP heißt ja nicht, dass es auf das Barockzeitalter beschränkt ist (obwohl es wohl von der historischen Musizierweise des Barock ausging). Mir ist auch aufgefallen, dass alte Chopin-Aufnahmen von Cortot eine ganz andere Herangehensweise zeigen: starkes Rubato, viel Pathos und Gesangsbögen, singendes Klavier - dafür Abstriche bei der Präzision, Technik, Notenkorrektheit.

Axel, eine Frage: als leidenschaftlicher Cembalospieler, hast du auch Clavichordspielen in Erwägung gezogen (siehe Diskussion im anderen Thread bzgl. Clavichord)?
 
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Hip

Zur Bereicherung des wissens um aufführungsarten sollte man sich darüber informieren - allerdings, wie auch von anderen gesagt - mag ich da keine Dogmatiker.

So weit ich weiss, war Bach stets um Neuerungen bemüht und auch ständig auf der Suche nach besseren Instrumenten. Ich bin überzeugt, hätte ihm damals ein Alien einen modernen Steinway geschenkt, er hätte sich vor Freude kaum eingekriegt.

Cembalo und Orgel sind heute noch hochaktuelle Instrumente. Bach hat in seinem WTC alle Tasteninstrumente in seinem inneren Gehör gehabt. So gibt es bestimmte Stücke, denen man den Orgelklang zuordnen möchte, anderen eher den Cembaloklang.
3 Beispiele nach meiner Meinung

1. c-moll Präl. 1. Band - ein Cembalowerk
2. Cis-dur Präl. 1. Band - ein Klavierstück
3. a-moll Fuge 1. Band - ein Orgelwerk

und so weiter. In einer interessanten Interpretation auf dem Flügel kann dieser Ursprung durchaus durchscheinen.
 
Zur Bereicherung des wissens um aufführungsarten sollte man sich darüber informieren - allerdings, wie auch von anderen gesagt - mag ich da keine Dogmatiker.

Geht mir auch so. Es geht letztlich darum, eine für sich (hautsächlich) und für andere (nebensächlich) schlüssige Interpretation zu finden. Die Erkenntnis, wie die Komposition auf Originalinstrumenten klingt, finde ich hierfür sehr hilfreich (eine romantische Orgel klingt wegen grundverschiedener Orgelkonstruktion und Registerwahl ganz anders als eine barocke Orgel, zwischen heutigem Klavier und Cembalo/Clavichord ist auch großer Unterschied).

1. c-moll Präl. 1. Band - ein Cembalowerk
2. Cis-dur Präl. 1. Band - ein Klavierstück
3. a-moll Fuge 1. Band - ein Orgelwerk

Teile deine Meinung, dass Bach's Tastenkompositionen auf vielen Instrumenten spielbar ist. Auch auf einem Fender Rhodes Piano z.B....
Habe selber einige Präludien und Fugen spaßeshalber auf der Orgel probiert. Mit der a-moll-Fuge auf Orgel... warum nicht. Das herrlich langsame b-moll Präludium und Fuge macht sich besonders gut auf der Orgel, finde ich. Nur nicht sehr einfach, die Bindungen bei der Fuge mit Hand statt Pedal machen zu müssen (aber machbar).

Insgesamt glaube ich, dass zum Charakter der polyphonen Musik die perkussiven Klänge von Cembalo oder Clavichord hervorragend passen.

Statt sich die Frage zu stellen, ob Bach einen modernen Flügel für seine Kompositionen vorgezogen hätte, ist auch die Gegenfrage erlaubt, ob Bach im Besitz eines modernen Flügels nicht anders komponiert hätte? Ist alles Spekulation, was vorliegt sind seine Kompositionen, und die alten und neuen Instrumente, und die Frage der persönlichen Interpretation.
 
Statt sich die Frage zu stellen, ob Bach einen modernen Flügel für seine Kompositionen vorgezogen hätte, ist auch die Gegenfrage erlaubt, ob Bach im Besitz eines modernen Flügels nicht anders komponiert hätte?

Er hätte wohl auch gezielt für Pedal geschrieben und sich mit den Eigenheiten des Flügels auseinandergesetzt - wenn es ihn interessiert hätte.

Ich finde, Bach wird eigentlich erst auf Timbaleys und Schlaginstrumenten mit undefinierter Tonhöhe seltsam.

Übrigens, mein erster Beitrag war nicht ganz themengerecht, mir war nicht klar, daß es für HIP schon eine Kultur mit festgelegten Regeln gibt. Grundsätzlich ändert das aber nichts an meinen Aussagen. "HIP" finde ich übrigens eine schöne Bezeichnung. Wenn die Anhänger sich morgen in Dogmen festfahren ist HIP eben nicht mehr hip sonder out ;)
 
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Guendola, Dogmen sind immer schlecht, gerade wenn es um so ziemlich individuelle Dinge wie Interpretation geht.

Finde aber auch folgendes aus deinen 1. Beitrag sehr interessant:

Schade ist nur, daß selbst eine historisch bestens informierte Aufführungspraxis höchstens eine Idee davon vermitteln kann, wie das Original tatsächlich geklungen hat. Das liegt aber auch daran, daß wir heute ganz andere Hörerfahrungen haben und damit niemals in der Lage sein werden, historische Musik genauso zu empfinden, wie die Menschen in der entsprechenden Zeit.

Es steht ja wirklich außer Frage, dass wir total andere Hörgewohnheiten haben. Bachs Akkordfortschreitungen wie z.B. in der Orgel-Fantasie g moll (BWV542) als auch an einer Stelle in der h-moll-Messe sind so wahnsinnig kühn und harmonisch kaum erklärbar, dass muss seinen Zeitgenossen wie schrille Dissonanzen vorgekommen sein.

Es kann aber auch so kommen, dass wir unsere Hörgewohnheiten, insbesondere bzgl. barocker Musik durch den "HIP"-Einfluß ändern werden. Bzgl. Kammermusik findet man doch heutzutage kaum noch eine Aufführung, die nicht "HIP"-infiziert ist. Wo wird denn noch heute der Messias aufgeführt mit 200 Choristen und 100 Orchestermusikern im romantisch-schwelgerischen Legatissimo und Schneckentempo wie noch vor 30 Jahren? Heutzutage sind schmale Chöre und Orchester mit barocken Instrumenten angesagt, mit tänzerischer Artikulation - und ich gestehe, obwohl ich als Kind mit den romantischen Einspielungen grossgeworden bin, weil die Mutter das von Schallplatten immer abgespielt hat, dass mir die heutige "HIP"-Version mehr zusagt. Es ist mir nur aufgefallen, dass es sich zumindest bis zur barocken Klaviermusik (was auch immer für ein Tasteninstrument) noch nicht in dem Maße rumgesprochen hat. Glaube, dass es nur eine Frage der Zeit ist.
 

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