Die zweite und dritte Reihe

Wer war denn zur Zeit von Mendelssohns Aktivitäten "das größere Publikum" und wie groß war es demografisch?
Ich habe einen aufschlussreichen Text dazu gefunden. Daraus geht hervor, dass die Bach-Renaissance nur ein Teil einer viel größeren Bewegung gewesen ist. Ingo Harden nennt sie in seinem Buch „Epochen der Musikgeschichte“ auf S. 340 und 341 die „Historisierung der Musikpraxis“. Von daher ist deine Frage, @rolf, aber auch meine ursprünglich aufgestellte Behauptung zum breiteren Publikum, sekundär.8816E304-B302-417D-9B74-3F1012278459.jpegA007CD18-4D08-4425-BFBD-3B44DC53D6BF.jpeg
 
Interessant auch dazu: Diese "historisierende" Strömung gab es zur gleichen Zeit auch in den Baustilen. Seit Ende des 18. Jhts. gab es da eine Rückbesinnung auf romanische und gotische Elemente und Anfang des 19. Jht. hatte sich ein historisierender Baustil fast in ganz Europa durch gesetzt.

Ob sich irgendeine Epoche auch einmal nach unserer zeitgenössischen Musik und Architektur zurücksehnt? :denken:
 
Hier noch ein Genre, das von Komponisten der zweiten und dritten Reihe, aber auch von denen der ersten Reihe vereinzelt bedient wurde. Es pass nicht so recht in ein Gesangsforum, auch nicht so recht in ein Klavierforum. Es fristet ein Nischendasein und wenn man alle Kompositionen aufführt, von denen es Noten gibt, dann dauert der Konzertabend wohl nicht länger als zwei Stunden. Man sollte es hier aber wenigstens einmal erwähnen.
Ich meine das Melodram, also Sprecher (nicht Gesang) + Klavier. Man kann, wenn man es hinbekommt (ist eine echte Herausforderung) beim Spiel sprechen. Besser ist ein Rezitator. Also jemanden mit einer kräftigen, markanten Stimme. Dazu muss man natürlich nicht singen können.

Bekanntester Vertreter ist sicher (das sollte man unbedingt mal gehört haben!) das mysterös düstere Opus ''Der traurige Mönch'' nach der Ballade von Robert Lenau. Das ist eine Ode an die Empathie. Die ultraexpressive und hochdramatische Begleitung ist von Franz Liszt. Der Klavierpart ist aber nur mittelschwer. Wenn man das Stück aufführt, kann man sicher sein, dass 100% der Anwesenden gebannt zuhören. Es gab einmal ein TV-Konzert (vor ca. 30 Jahren?), da hat der Pianist mit einem Skelett-Unterarm + Hand in die Kamera gewunken, damit die Stimmung wieder etwas aufhellen konnte
Das ''Hexenlied'' nach Ernst von Wildenbruch mit der Begleitung von Max von Schillings (der mit dem eigenartigen Lebenslauf) soll vielleicht die Vorgeschichte zu Lenaus Ballade darstellen und rührt den Hörer ebenso.

Weitere Beispiele:
''Enoch Arden'' (Strauss)
''Abschied von der Erde'' (Schubert)
''Das zerbrochene Ringlein'' (Nietzsche, keine Noten zu finden)
''Schön Hedwig'' (Schumann)
''Lenore'' (Liszt)
''Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph'' Rilke (Ullmann)
''Das Schloss am Meere'' (Strauss)
und noch ein paar andere.
 
Aber generell ist Latino-Klassik besonders spannend, aber technisch seltener eine Herausforderung,
@Triangulum findest du nicht auch, dass Villa-Lobos Rudepoema und die Klavierkonzerte von Ginastera dann eher zu den Herausforderungen zählen? Alles andere als technisch unproblematisch ist auch die Fantasia baetica von de Falla: diese hat im dt.-sprach. Raum verblüffenderweise ein Schattendasein, denn sie wird kaum gespielt. ...zugegeben, mein Beitrag passt nicht ganz hier herein, denn Villa-Lobos, Ginastera und de Falla sind nicht unbedingt zweite oder dritte Reihe.
 
@Triangulum findest du nicht auch, dass Villa-Lobos Rudepoema und die Klavierkonzerte von Ginastera dann eher zu den Herausforderungen zählen? Alles andere als technisch unproblematisch ist auch die Fantasia baetica von de Falla: diese hat im dt.-sprach. Raum verblüffenderweise ein Schattendasein, denn sie wird kaum gespielt. ...zugegeben, mein Beitrag passt nicht ganz hier herein, denn Villa-Lobos, Ginastera und de Falla sind nicht unbedingt zweite oder dritte Reihe.
De Falla ist ja keine Latino-Klassik. Ich habe einige Noten von ihm, zwei Stücke im Repertoire und auf CD fast alles. Die Klavierlieder sind schlechterdings spektakulär. Neben Albéniz, Granados und Turina ein weiterer äußerst interessanter spanischer Komponist. Aus Sicht eines Spaniers sicherlich die erste Reihe. Die Fantasia baetica hatte ich bislang schlichtweg übersehen und bin durch einen anderen Beitrag hier darauf gestoßen. Das werde ich wahrscheinlich irgendwann einmal angehen.

Wenn man so die Sammelbände von Lecuona, Ponce, Nazareth und Co. durchblättert oder die CD Sammlungen anhört, so bekommt man vom Schwierigkeitsgrad diesen Eindruck. Natürlich gibt es auch Schwieriges, z.B. die Sonaten von Chavez oder die Klavierkonzerte (das von Frau Montero klingt übrigens sehr interessant). Ginastera ist nicht mein Interessensgebiet, klingt aber sehr schwierig und kraftaufwendig.

Latino-Klassik ist für die meisten hierzulande Dancon No. 2, Bacchianas brasileiras, Sensemaya und Ende. Nach Abflauen der Cuba- und Salsa-Welle ist lateinamerikanische Musik (wo ist der Latin-Jazz geblieben?) in allen Genres wieder in der Dunkelheit versunken. Da diese Musik im allgemeinen sehr rhythmusbetont ist, sprechen jüngere Menschen eher darauf an. Das bedeutet für wenig fortgeschrittene Klavierspieler vielleicht eine verpasste Gelegenheit, neben Freude auch Spaß am Klavierspiel vermittelt zu bekommen (die landen dann jetzt eher in der Pop-Musik).

Wer sich für spanische Werke mit virtuosem Anspruch interessiert, hier ein Tip: ''El Vito'', Variationen von Manuel Infante. Das Thema ist sofort eingängig und überaus deutlich mit spanischem Flair assoziiert (ideal für temperamentvolle Spieler). Die Variationen sind dem hierzulande nicht so bekanntem Klaviervirtuosen Iturbi gewidmet.
 
Das ''Hexenlied'' nach Ernst von Wildenbruch mit der Begleitung von Max von Schillings (der mit dem eigenartigen Lebenslauf) soll vielleicht die Vorgeschichte zu Lenaus Ballade darstellen und rührt den Hörer ebenso.
Hier zu hören mit dem Komponisten selbst am Pult, nur wenige Tage vor dessen Tod:



Der Vater des Rezitators dirigierte u.a. die Uraufführung von Wagners "Rheingold" und "Walküre" in München.

LG von Rheinkultur
 
Hier zu hören mit dem Komponisten selbst am Pult, nur wenige Tage vor dessen Tod:



Der Vater des Rezitators dirigierte u.a. die Uraufführung von Wagners "Rheingold" und "Walküre" in München.

LG von Rheinkultur

Der Aufnahme kann man den für die Zeit eher typischen Pathos nicht absprechen. Ich kenne die Aufnahme mit dem Kölner Rundfunkorchester, Sprecherin Martha Mödl von 1994. Im Konzert dürfte es wie Puccinis Manon Lescaut bei der weiblichen Zuhörerschaft ein echter Taschentuchzieher sein. Da der Komponist umstritten ist, wird es wohl kaum allzu oft aufgeführt. Es bleibt einfach ein Risiko. Das Stück selbst hat überhaupt keinen erkennbaren etwaigen unrühmlichen politischen Bezug. Wie sollte es auch: Das Hexenlied wurde 1902 komponiert.
 
Es gibt verschiedene Aufnahmen von den Melodramen:
Z.B. der große Sampler mit DFD. Der vokale Background des Sprechers ist nicht zu überhören und im Pathos eher zurückhaltend.
G. Westphal hingegen ist wohl eher ein Sprecher ohne Vokalhintergrund.
Der Unterschied ist deutlich, und was man schließlich bevorzugt, ist reine Geschmackssache.
 

Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass auch die Diskussionen rund um Komponisteninnen, die hier mehrere Foren thematisch behandeln, hier eine wichtige Rolle spielen, da sie in aller Regel in der zweiten und dritten Reihe situiert sind. Mit der Untermauerung gesellschaftlich und ideologisch relevanter Aspekte ist es zu begrüßen, dass wenigstens diese mehr Aufmerksamkeit erfahren. Damit meine ich nicht nur die - auch aus ganz anderen Gründen - zeitweise stärker im Fokus stehende Clara Schumann, sondern die entweder zu Recht oder zu Unrecht (wir sind ein Teil der Nachwelt, wir sollten das beurteilen) in der zweiten und dritten Reihe situierten Komponistinnen. Diskussionen um den soziologischen Kontext erscheinen allerorten, rennen in gebildeter Umgebung zunehmend offene Türen ein. Daher empfiehlt sich einfach, sich dieser Werke anzunehmen und sie aufzuführen, anstatt nur die Komponistinnen zu benennen oder zu empfehlen.
Die bildende Kunst hat es vorgemacht: Exklusive Ausstellungen in renommierten Häusern von weniger bekannten Künstlerinnen (z.B. Mary Warburg, oder Lotte Laserstein) heben deren Bekanntheitsgrad und Ansehen erheblich gesteigert und gezeigt, dass es hier viel zu entdecken gibt.
Man sollte sich dabei nicht nur auf die zweite Reihe beschränken - also diejenigen, deren Namen jeder kennt und die doch nie auf den Programmen stehen (wie z.B. Chaminade , Boulanger...), sondern auch die dritte Reihe wie z.B. Faisst.
 
Passend zum Thema höre ich gerade diese CD-Box:

81MhAJjohBL._SL1500_.jpg

81JWjXje4FL._SL1200_.jpg
 
Ich finde diese Aussage wirklich entsetzlich! Denn zwar sind zB Mozart, Haydn und Beethoven die berühmten Vertreter der Klassik, doch sind und stellen sie nicht allein diese Epoche dar. Doch super interessant wird es doch erst, wenn man hinter die „Fassade“ guckt. Das wär doch so, als wenn man sich über eine bestimmtes Jahrhundert informieren möchte und die Lebensumstände und dann nur merkt, dass es dem Herrscher immer gut ging und es zB keine Kriege gab. Doch das sagt wenig aus. Interessant wird es doch erst, wenn man sich die Lebensqualität der Mittel- und Unterschicht anschaut, denn erst da erfährt man die wirklichen Umstände.
Und ganz ehrlich, wenn immer nur Beethoven, Haydn und Mozart gespielt werden würde (also nichts gegen ihre Musik, schließlich hat es seinen guten Grund, warum sie die berühmtesten sind) doch auch das Repertoire der drei Komponisten endet irgendwann und wäre es dann nicht langweilig, wenn man nicht noch die Kompositionen der andern Komponisten, auch aus den anderen Epochen hätte?
Zudem finde ich, dass man durch die Stücke der gerade nicht so berühmten Komponisten noch mehr über die Stücke der berühmtereren Komponisten herausfindet! Und in die Materie eintauchen kann.
 
Die Gründe, warum ein Komponist berühmt wird oder unbekannt bleibt, kann ja die verschiedensten Ursachen haben. Daher kann man nicht vom unbedingt Popularitätsgrad auf die Qualität schließen. Vivaldi war lange Zeit aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht, sein Grab überbaut, bis Anfang des letzten Jahrhunderts ein Italiener ihn wieder ausgegraben hat. Heute kennt praktisch jeder Mensch die vier Jahreszeiten.
Andere hatten gar keine Chance berühmt zu werden, weil ihre Biographie tragischerweise früh oder sehr früh endete, z.B.
J. Scriabin (ertrunken), Stanchinski (Unfall oder Suizid), Barmotin (verschollen in den Revolutionswirren), Kuula (erschossen im Streit), Kalinnikov (Krankheit) und so weiter und so fort. Denn es ist ja schwierig (Ausnahmen bestätigen die Regel), mit einer geringen Opuszahl bekannt zu werden und längere Zeit zu bleiben. Theoretisch reicht natürlich ein Volltreffer in jungen Jahren (wie Rachmaninoffs cis-moll Prelude). Aber das ist vielleicht auch Glücksache?
 
Kl
Die Gründe, warum ein Komponist berühmt wird oder unbekannt bleibt, kann ja die verschiedensten Ursachen haben. Daher kann man nicht vom unbedingt Popularitätsgrad auf die Qualität schließen. Vivaldi war lange Zeit aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht, sein Grab überbaut, bis Anfang des letzten Jahrhunderts ein Italiener ihn wieder ausgegraben hat. Heute kennt praktisch jeder Mensch die vier Jahreszeiten.
Andere hatten gar keine Chance berühmt zu werden, weil ihre Biographie tragischerweise früh oder sehr früh endete, z.B.
J. Scriabin (ertrunken), Stanchinski (Unfall oder Suizid), Barmotin (verschollen in den Revolutionswirren), Kuula (erschossen im Streit), Kalinnikov (Krankheit) und so weiter und so fort. Denn es ist ja schwierig (Ausnahmen bestätigen die Regel), mit einer geringen Opuszahl bekannt zu werden und längere Zeit zu bleiben. Theoretisch reicht natürlich ein Volltreffer in jungen Jahren (wie Rachmaninoffs cis-moll Prelude). Aber das ist vielleicht auch Glücksache?
Klar! Zum Beispiel wenn man in der Klassik von dem Bach gesprochen hat, meinte man auch Carl Philipp Emanuel Bach und nicht Johann Sebastian Bach, welcher jetzt gemeint ist, wenn man von Bach spricht.
 

Zurück
Top Bottom