Die zweite und dritte Reihe

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Ich spiele mal den advocatus diaboli::teufel:
Warum dieser Aufwand in der Auseinandersetzung mit einem Komponisten, der bestenfalls zweit- oder drittrangig ist? [...] Wie man einen solchen Komponisten zu seinem "Lieblingskomponisten" erklären kann, verstehe ich nicht ganz - bei aller Achtung vor Liebhaber- und Sammlertätigkeiten.
Vermutlich hat der große Erkunder der Eigenliebe und der Eitelkeit den dahinterstehenden Mechanismus gut beschrieben: „Meistens widersetzt man sich voller Starrsinn den Ansichten, die allgemein gelten, mehr aus Stolz als aus Mangel an Einsicht: Die vordersten Plätze am richtigen Ort sind schon besetzt, und hintere will man nicht.“ (La Rochefoucauld: Maximes et réflexions morales, Nr. 234) Das scheint mir auch der Grund zu sein, warum manche auf Bach, Mozart oder Beethoven geringschätzig herabschauen: Es ist zu allgemein bekannt, dass sie die Größten sind, und die Plätze ihrer Bewunderer sind überfüllt. Da suchen sich manche lieber sogenannte "Geheimtipps" oder Außenseiter und beackern die.
(Gibt hier auch einen, der Louis Moreau Gottschalk seinen "Lieblingskomponisten" nennt, bei dem spielen wohl ähnliche Mechanismen eine Rolle ... :blöd:)
Dieses Zitat habe ich in einem vor eigigen Jahren versiegten Faden gefunden. Ich finde es so interessant, dass ich es hier gerne einmal zur Diskussion stellen möchte.

Meine Meinung skizzenhaft dazu: Musikgeschichte und auch ihre Bewertung ist immer ein Konstrukt. Das, was das zitierte Clavio-Mitglied einem anderen, ebenfalls mittlerweile gelöschten Mitglied unterstellt, ist eine allzu pauschale Unterstellung, die, zumindest so undifferenziert, nicht haltbar ist.
 
"Warum dieser Aufwand in der Auseinandersetzung mit einem Komponisten, der bestenfalls zweit- oder drittrangig ist?"

- Wer bestimmt das? Wer hat die Deutungshoheit?
- Vielleicht habe ich ja einen anderen Geschmack. (Ich z.B. kann mit Mozart wenig anfangen.)
- Ich will selbst denken und kein Lemming sein. Funktioniert auch in zwei Richtungen. (Im Sinne von: Ich kann mich gezwungen fühlen vom Mainstream abzuweichen.)
- Sturgeons Law ist zweischneidig.
- Manche mögen das Obskure. Wer mag es ihnen verdenken?

Wenn man so argumentiert wie im langen Zitat im OP, dann müssten alle deutschen Fußballfans Bayern-München-Fans sein. Das wäre reichlich trostfrei.

Im Wald wäre es auch stille, wenn nur der beste Vogel singen würde.

Grüße
Häretiker
 
Ist das nicht in asiatischen Ländern so? Dort ist es nicht erstrebenswert, nur Zweitbeste*r zu sein. Wer dort z.B. als nicht studierte/r Musiker*in tätig ist und nur schlecht davon leben kann, hat ein sehr schlechtes Ansehen.
 
Unglaublich - es gibt tatsächlich Menschen, die kommen ohne diese vielen wundervollen Kompositionen aus, die abseits des Konzertbetriebs und der Medienproduktion darauf warten, entdeckt zu werden. Und die von vielen Menschen pausenlos auch entdeckt werden...
Sie haben nicht die Spur einer Ahnung davon, was ihnen da entgeht!
Manche Menschen muss man tatsächlich mit der Nase darauf stoßen. Stell Dir vor, Du hast von Deinem Lieblingskomponisten alles von Interesse gespielt, das ganze Repertoire ist abgegrast. Da ist vielleicht noch ein Scherzo und eine Etude von Chopin übrig, ein vereinzelte Beethoven-Sonate und dann war da noch eine Händel-Suite, die man immer mal spielen wollte. Das eigene Repertoire ist stetig gewachsen. Kein Chopin-Prelude mehr übrig, kein Rachmaninoff-Prelude, kein Ravel mehr...
Die Zeit kommt, das garantiere ich Dir!
Dann hast Dur mehrere Wahlmöglichkeiten:
1. Das Feld der Transkription ist eröffnet. Bach-Busoni macht jeder im Laufe seiner Entwicklung, Rachmaninoffs Hummelflug (R.-Kossark.), Lilacs sowie Liszts Schubert-Transkriptionen. Da ist aber noch viel mehr z.B. das Allegretto aus Beethovens 7.er nach Liszt - ein letaler Ohrwurm. Überhaupt: Liszt - ein begnadeter Meister der Transkription - da kann man sich eine Weile mit über Wasser halten. Es gibt aber auch leider viele unspektakuläre Transkriptionen.
2. Man driftet in die unbekannten Weiten des Barock oder in den Experimentalraum der Moderne ab. Wenn man davon leben muss oder über ein bedingt tolerantes Hörumfeld verfügt, ist das mit Risiken behaftet. Platz ist da allerdings reichlichst vorhanden. Barockmusik hat überdies den Vorteil, das man das auch im hohen Alter, wenn die Kraftreserven schwinden, praktizieren kann. Jedenfalls das meiste.
3. Man wendet sich den Komponisten der Romantik und Spätromantik aus der zweiten und dritten Reihe zu. Da wären erstmal die Komponisten, die einen Namen haben, über die man sich aber klaviertechnisch nie Gedankengemacht hat. Ja, weil ihr Klavierwerk eher elitär ist (z. B. Dukas), weil die Stücke sehr leicht sind (z.B. Sibelius) oder die kaum etwas für Klavier geschrieben haben (z.B. Bruch). Oder die einfach schwer zu spielen sind und im Vergleich zu prominenter Konkurrenz ins Hintertreffen geraten (z.B. Alkan oder Lyapunov). Da gibt's noch mehr Gruppen. Viel interessanter sind die Komponisten, aus der dritten Reihe. Viele dieser Namen kommen nur in irgendwelchen Vorlesungen vor, tauchen - wenn überhaupt - nur marginal in den Listen der Labels auf. Niemand scheint sich mit dessen Klavierwerken auseinander gesetzt zu haben. Die letzte Veröffentlichung liegt 100 oder mehr Jahre zurück. Man muss etwas suchen, man findet immer wieder sehr interessantes, das man bereits nach dem ersten Hören oder Spielen spontan in sein Repertoire aufnehmen möchte.
Wer hat schon einmal ein Prelude von Alexeyewitsch Barmotin gespielt, wer hat schon mal ein Klaviertrio von Wolf-Ferrari erlebt?
Das Leben ist zu kurz, als sich das alles entgehen zu lassen!!!
 
Auch Bachs Werke sind nach seinem Tod in Vergessenheit geraten und erst viel später wieder ausgegraben worden. Da hat also irgendjemand einfach angefangen, bei Konzerten Werke von einem unbekannten, längst verstorbenen Komponisten wieder aufzuführen. Wer weiß, bei welchen weiteren Komponisten sich das Graben lohnen würde?
Ich glaube, wer in die "erste Reihe" aufrückt, ist auch ein Stück weit Glück und dem Zufall geschuldet. Und wenn Glück und Zufall ein Stück/einen Komponisten aus der 1000fach überall existierenden hervorragenden Musik erst einmal in die erste Reihe gespült haben, dann sorgt die Mode dafür, dass das so bleibt, weil man am liebsten hört, was man schon kennt und was man selbst (und viele andere, das bestätigt das eigene Urteil) für gut befunden haben.
 

Stell Dir vor, Du hast von Deinem Lieblingskomponisten alles von Interesse gespielt, das ganze Repertoire ist abgegrast. Da ist vielleicht noch ein Scherzo und eine Etude von Chopin übrig, ein vereinzelte Beethoven-Sonate und dann war da noch eine Händel-Suite, die man immer mal spielen wollte. Das eigene Repertoire ist stetig gewachsen. Kein Chopin-Prelude mehr übrig, kein Rachmaninoff-Prelude, kein Ravel mehr...
Ich bin ja grundsätzlich mit Dir einig, aber was Du hier beschreibst ist die Lebenssituation eines Fagottisten oder so.
Man kann sich auf dem Klavier auch als ziemlich fleißiger und schneller Lerner durchaus ein Leben lang ausschließlich mit Standardrepertoire befassen ohne dass einem langweilig wird.
Dennoch ist es eine sehr gute Idee immer wieder Ausschau nach Neuem zu halten.
Kleine Empfehlung: Es gibt einiges Nettes, was nicht extrem schwer ist von Villa-Lobos (die Puppen des Kindes, entdeckt durch A. Rubinstein) oder M. Ponce.
 
Auch Bachs Werke sind nach seinem Tod in Vergessenheit geraten und erst viel später wieder ausgegraben worden. Da hat also irgendjemand einfach angefangen, bei Konzerten Werke von einem unbekannten, längst verstorbenen Komponisten wieder aufzuführen.
Das stimmt so nicht .
Die Vorstellung, dass Bald nach seinem Tod völlig oder weitgehend in Vergessenheit geriet bis der junge Mendelssohn kam und 1829 einen bis dahin vergessenen Komponisten durch die erste Aufführung der Matthäuspassion wieder berühmt machte, ist maßlos übertrieben,

J. S. Bach war auch durchgehend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem (aber nicht nur) durch seine Klavierwerke bekannt.
Nur einige Beispiele:
Mozart kannte und bearbeitet das Wohltemperierte Klavier, Beethoven spielte es, C. Ph. E. Bach (der zu der Zeit in der Tat berühmter als sein Vater war) gab Mitte der 80iger Jahre die Choräle seines Vaters im Druck heraus.
1802 schrieb Forkel seine Bachbiographie, von 1805 gibt es folgendes Gemälde, das J. Haydn mit einer Büste J. S. Bachs im Hintergrund zeigt (Esterhazy | Joseph Haydn), in Berlin gab es eine Bachpflege, Goethe kannte und schätze Bachs Werke usw.

Die Kirchenmusik Bachs geriet in der Tat nach Bachs Tod weitgehend in Vergessenheit, was aber vor allem mit dem Umbruch bzw. dem Niedergang der evangelischen Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Aufklärung usw.) zu tun hatte, insofern war Mendelssohns Wiederaufführung eines großen Kirchenmusikwerkes in der Tat spektakulär und gab der Bach-Rezeption einen großen Schub.
Aber er hat eben keineswegs einen bis dahin völlig untergegangenen Komponisten wiederbelebt
 
Zuletzt bearbeitet:
Das größere Publikum kam mit Bachs Musik allerdings wirklich erst durch Mendelssohns Aktivitäten kn Berührung. Davor war Bach vor allem nur bei Musikern und anderen Musikexperten bekannt.
 
Das größere Publikum kam mit Bachs Musik allerdings wirklich erst durch Mendelssohns Aktivitäten kn Berührung.

Das hängt aber damit zusammen, daß dem Publikum damals zu 99% zeitgenössische Musik geboten wurde. Auch Bach hat als frischgebackener Thomaskantor keine ollen Kamellen aufgeführt, sondern Sonntag für Sonntag eine neue Kantate zur Uraufführung gebracht.
Es gibt wenige Ausnahmen. Ein beliebter Evergreen, der nie aus dem Konzertleben verschwunden ist, war Händels Messias. Der wurde allerdings nach Bedarf "modernisiert", schon von Händel selbst. Auch von Mozart gibt es eine Bearbeitung für klassisches Orchester, mit Klarinetten (die Händel noch nicht kannte) und Hörnern usw.
 
Das hängt aber damit zusammen, daß dem Publikum damals zu 99% zeitgenössische Musik geboten wurde. Auch Bach hat als frischgebackener Thomaskantor keine ollen Kamellen aufgeführt, sondern Sonntag für Sonntag eine neue Kantate zur Uraufführung gebracht.
Es gibt wenige Ausnahmen. Ein beliebter Evergreen, der nie aus dem Konzertleben verschwunden ist, war Händels Messias. Der wurde allerdings nach Bedarf "modernisiert", schon von Händel selbst. Auch von Mozart gibt es eine Bearbeitung für klassisches Orchester, mit Klarinetten (die Händel noch nicht kannte) und Hörnern usw.
Das ist beides so auch nicht ganz richtig weder in Bezug auf Bach noch auf Händel.

Er hat zwar in den ersten Jahren in Leipzig seine wahrscheinlich 5 Kantatenjahrgänge geschaffen, die er dann immer wieder aufgeführt hat. Bach hat keineswegs in seinen gesamten 27 Jahren in Leipzig jeden oder fast jeden Sonntag eine Uraufführung abgeliefert, sondern vielmehr die meiste Zeit seine eigenen, am Ende seiner Amtszeit schon jahrzehntealten "ollen Kamellen" aufgeführt.
Nach 1730 hat nur noch wenige Kantaten geschrieben.
Außerdem hat er immer wieder auch Kantaten anderer aufgeführt, zudem war es im Gottesdienst durchaus üblich, Motetten älterer Komponisten, auch aus dem 16. und 17. Jahrhundert aufzuführen. Die Noten dazu, das Florilegium portense, wurden in Bachs Amtszeit sogar neu angeschafft, da die vorhandenen Exemplare stark abgenutzt waren.

Bei Händel hat keineswegs nur der Messias überlebt, viele seiner Oratorien wurden durchgehend vor allem in England aber auch auf dem Kontinent auch nach seinem Tod regelmäßig aufgeführt.
Von Mozart gibt es noch 3 weitere Bearbeitungen Händelscher Oratorien. Letztlich waren die Aufführungen von Händels Oratorien (nicht von allen, aber von vielen) seit ihrer Entstehung ab ca. den 1740 Jahren bis heute nie unterbrochen.
Seine Opern sind untergegangen und werden erst seit einigen Jahrzehnten versucht wiederzubeleben., mit unterschiedlichem Erfolg.
 
Zuletzt bearbeitet:
Man kann sich auf dem Klavier auch als ziemlich fleißiger und schneller Lerner durchaus ein Leben lang ausschließlich mit Standardrepertoire befassen ohne dass einem langweilig wird.
Na ja, meine Erfahrung sieht da anders aus. Irgendwann fängt man an, sich Stücke aus der länger zurück liegenden Vergangenheit hervorzuholen. Aber die Wiederholung führt nicht zur Verbesserung, sondern tatsächlich auch nur zur Langeweile. Boulez hat einmal - ganz genau in diesem Zusammenhang - im Interview trefflich vermerkt: Wiederholung - das ist ganz kurz vor dem Tod.
Klar kann man es sich zur Lebensaufgabe machen, das Gesamtwerk eines Komponisten einzustudieren. Angeblich soll Leslie Howard für Liszt dann fünf Jahre gebraucht haben (für die Einspielung), Scott Ross für Scarlatti drei Jahre, was schon extrem rasant ist. Auf diese Weise kann man sich natürlich längere Zeit beschäftigen, aber dann hat man es auch mit weniger spannenden Werken zu tun - zu viel nach meinem Dafürhalten.
Kleine Empfehlung: Es gibt einiges Nettes, was nicht extrem schwer ist von Villa-Lobos (die Puppen des Kindes, entdeckt durch A. Rubinstein) oder M. Ponce.
Villa-Lobos und Ponce sind ja uralte Kamellen. Den ersteren würde ich gar nicht einmal mehr in der zweiten Reihe lokalisieren wollen. Aber generell ist Latino-Klassik besonders spannend, aber technisch seltener eine Herausforderung, die Würze liegt hier eher in den Rhythmen. Da empfehle ich dann Lecuona und Nazareth (auch keine Unbekannten). Es gibt da eine Konzert-DVD von Katsaris nur mit lateinamerikanischen Werken. Der hat die Arbeit der Vorsortierung schon zu einem Gutteil erledigt (allerdings ist seine Mimik nervig). In der letzten Zeit häufiger zu hören: Ginastera. Und wer es besonders mitreißend mag (Transkription): Den Mambo aus der Westside Story.
Und wenn man dann nichts mehr findet, dann kann man sich auch noch mit dem Jazz befassen.
 

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