Also ich habe mich damit auch eingehender beschäftigt in letzter Zeit, und im vergangenen halben Jahr auch ziemliche Fortschritte erzielt. Allerdings ist es noch immer ziemlich frustrierend, vor allem weil ich zwei sehr gute Freunde habe, deren musikalische Begabung einfach...krass ist.
Im Folgenden bedenkt bitte, dass ich Relativhörer bin. Bei Absoluthörern ist das alles anders (den Eindruck habe ich zumindest wenn ich mit Absoluthörern spreche).
Es folgt eine rhapsodische Auflistung von Weisheiten:
- Es ist ähnlich wie beim Lesen. Bevor man ganze Sätze oder Romane liest, muss man erstmal die Buchstaben verstehen. Nun ist es so, dass es in der Musik viel mehr Buchstaben gibt, als in der Sprache. Mit Buchstaben meine ich hier "elementare musikalische Zusammenhänge". Diese sind zum einen vertikaler Natur:
--> Intervalle
--> Harmonien
Und zum anderen horizontaler Natur:
--> Rythmen
Also versuche zunächst nur dir Intervalle, Harmonien und Rythmen direkt aus dem Notentext vorzustellen. Das ist ein bisschen wie Chinesisch lernen. Es sind nicht die einzelnen Noten die man sich getrennt vorstellen soll. Sondern der C-Dur Akkord in Grundstellung, der Es-Moll als Quartsext, der E-Dur Septakkord, die punktierte Viertel mit Anschließender achtel,... sind jeweils als Ganzes zu verstehen und müssen sich vorgestellt werden. Es ist hierbei auch wichtig diese ganzen Elemente möglichst schnell im Notentext zu erkennen und mit dem Klangeindruck zu verbinden.
- Man kann sich nichts vorstellen, was man nicht auch hören kann. Soll heißen: Hört bei Musik sehr gut hin. Es ist aussichtslos sich einen Mysterienakkord aus dem Notentext vorzustellen, wenn man nicht weiß, wie er sich anhört.
- Mir hat es viel geholfen mir bei einzelnen Elementen aufzuschreiben, wie sie für mich klingen. z.B. "kleine Sexte - magisch".
- Die Rythmische Vorstellungskraft ist unheimlich wichtig! Wenn man sich Dinge unrythmisch vorstellt oder noch schlimmer nicht wirklich auf die Rythmik achtet versteht man den Zusammenhang nicht.
- Hört euch beim Klavierspielen gut zu und analysiert beim Spielen das geschehen. Stellt euch die nächsten Takte möglichst detailliert akustisch vor. Gerne auch instrumentiert. Ich habe den Eindruck, dass das sehr viel Bringt, weil das Gehirn direkt nachdem es sich etwas vorgestellt hat die Korrektur erhält.
- Was ich bei mir sehr erstaunlich finde ist, dass ich, sobald ich nur am Klavier sitze (ohne zu spielen) mir alles viel besser vorstellen kann. Noch interessanter ist, dass ich, wenn ich meine Hände auf die Klaviatur lege und mir vorstelle mit diesen aus einem Notentext zu spielen, aber es nicht tue, irgendwie die Musik fast "hören" kann. Ich habe das Gefühl, dass letzteres viel Bringt: Also am Klavier sitzen, die Hände auf das Klavier legen und sich vorstellen man würde spielen.
- Improvisiert viel. Eine schöne Übung ist z.B. die "Nicht-Umblättern" Übung. Spielt ein Stück vom Blatt und blättert dann nicht um sondern versucht im selben Stil weiterzuspielen. Klappt am Anfang garnicht, mit wachsender Übung immer Besser. Hier geht es darum den diffusen Höreindruck den man im Kopf hat dahingehend zu konkretisieren, dass man ihn nachspielen kann.
Und nun der wichtigste Tipp:
- Es ist wichtig wie die Musik im Kopf repräsentiert ist. Bei vielen Leuten, auch bei mir früher, ist sie, wie mir scheint, "motorisch" repräsentiert. Das ist aber wenig zielführend, denn die Essenz von Musik ist natürlich der Klangeindruck. Baut euren Kopf dahingehend um, dass die Musik auch als solche im Kopf präsentiert ist und Notentext, motorische Ausführung, etc. zweitrangig sind aber natürlich mit dem Klang verknüpft sind.
So...das war nun sehr rhapsodisch, aber ich hoffe es hilft.
Edit: Ah eine sehr, sehr gute Übung ist es, Notentexte aus dem Klangeindruck zu transponieren und noch besser, aber viel viel schwerer, Dinge transponiert vom Blatt zu spielen. Ich sage absichtlich "Dinge", weil mir das bisher bei noch keinem Musikstück befriedigend geklappt hat. Aber bei ein paar Takten, etc. schon.
Edit2: Eine Sache habe ich vergessen. Wenn ihr euch die "Buchstaben" dann mal vorstellen könnt, denkt im Notentext in "Sinneinheiten". Was eine Sinneinheit ist ist natürlich nach Stil, Epoche und Stück unterschiedlich. Was ich damit meine ist, wenn man einen Satz liest, liest man ja auch nicht:
"Blum en k ohlei ntop f is tmei nlieb stesgeric ht" sondern "Blumenkohleintopf ist mein liebstes Gericht".
Bei Musik sind Sinneinheiten natürlich auch mal zeitlich zueinander verschoben, bei Fugen beispielsweise. Oder es gibt mehrere Sinneinheiten welche gleichzeitig unterschiedlich zu verstehen sind, z.B. auch bei Fugen: Zwei Stimmen verlaufen melodisch getrennt aber gleichzeitig muss man auch die Intervalle als Sinneinheit betrachten.