Bis zu welchem Grad könnt ihr einen Notentext "hören"?

raffaello

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Hallo zusammen,

bis zu welchem Grad könnt ihr ein unbekanntes Stück rein aus dem Notentext "hören"? Kann man das gezielt üben, kommt das automatisch mit der Erfahrung oder ist das eine Frage der Begabung? Wie hilfreich ist dieses Können beim Einüben eines neuen Stücks? Ich bin jedenfalls nur für einzelne Melodielinien in der Lage, mir den Klang vorzustellen, sobald eine zweite Stimme dazu kommt wird es schon sehr schwierig, bei vollakkordigen Stellen habe ich keine Chance mehr.
 
bis zu welchem Grad könnt ihr ein unbekanntes Stück rein aus dem Notentext "hören"?
Überhaupt nicht.

Wie hilfreich ist dieses Können beim Einüben eines neuen Stücks?
Ich entwickele beim Prima-Vista-Durchspielen eines neuen Stückes recht schnell eine Vorstellung davon, welchen Klang der Komponist haben möchte. Ohne Instrument bin ich allerdings stumm und taub. ;-)
 
Auf jeden Fall wird diese Fähigkeit durch Begabung, Musikalität sehr erleichtert - was aber nicht heißt, daß man dergleichen nicht auch durch Übung erlernen könnte.

Zwei Dinge sind hilfreich - zum einen: Noten, Partituren mitlesen, beim Anhören eines Stückes - am Anfang nur Wenigstimmiges und Langsames. Man fliegt beim Lesen irgendwann unvermeidbar raus. Aber das macht nix - neu ansetzen und weitermachen. Am Anfang ist es sinnvoll, nur der Melodielinie zu folgen; später kann man sich auch einer Mittelstimme oder dem Baß zuwenden.

Zum andern: nach Noten Singen, zunächst nur Intervallübungen, Intervalle singen (und dabei hilfreich: sich für jedes Intervall einen bekannten Melodieanfang als Gedächtnisstütze suchen; das berühmteste Beispiel für das mit Abstand schwierigste Intervall: den Beginn von "Maria" aus der "West Side Story" für den Tritonus), dann das vom-Blatt-Singen üben, erst von bekannten, später von unbekannten Melodien. Du wirst sehen, das klappt!
 
Also ich habe mich damit auch eingehender beschäftigt in letzter Zeit, und im vergangenen halben Jahr auch ziemliche Fortschritte erzielt. Allerdings ist es noch immer ziemlich frustrierend, vor allem weil ich zwei sehr gute Freunde habe, deren musikalische Begabung einfach...krass ist.

Im Folgenden bedenkt bitte, dass ich Relativhörer bin. Bei Absoluthörern ist das alles anders (den Eindruck habe ich zumindest wenn ich mit Absoluthörern spreche).

Es folgt eine rhapsodische Auflistung von Weisheiten:
- Es ist ähnlich wie beim Lesen. Bevor man ganze Sätze oder Romane liest, muss man erstmal die Buchstaben verstehen. Nun ist es so, dass es in der Musik viel mehr Buchstaben gibt, als in der Sprache. Mit Buchstaben meine ich hier "elementare musikalische Zusammenhänge". Diese sind zum einen vertikaler Natur:
--> Intervalle
--> Harmonien
Und zum anderen horizontaler Natur:
--> Rythmen
Also versuche zunächst nur dir Intervalle, Harmonien und Rythmen direkt aus dem Notentext vorzustellen. Das ist ein bisschen wie Chinesisch lernen. Es sind nicht die einzelnen Noten die man sich getrennt vorstellen soll. Sondern der C-Dur Akkord in Grundstellung, der Es-Moll als Quartsext, der E-Dur Septakkord, die punktierte Viertel mit Anschließender achtel,... sind jeweils als Ganzes zu verstehen und müssen sich vorgestellt werden. Es ist hierbei auch wichtig diese ganzen Elemente möglichst schnell im Notentext zu erkennen und mit dem Klangeindruck zu verbinden.

- Man kann sich nichts vorstellen, was man nicht auch hören kann. Soll heißen: Hört bei Musik sehr gut hin. Es ist aussichtslos sich einen Mysterienakkord aus dem Notentext vorzustellen, wenn man nicht weiß, wie er sich anhört.

- Mir hat es viel geholfen mir bei einzelnen Elementen aufzuschreiben, wie sie für mich klingen. z.B. "kleine Sexte - magisch".

- Die Rythmische Vorstellungskraft ist unheimlich wichtig! Wenn man sich Dinge unrythmisch vorstellt oder noch schlimmer nicht wirklich auf die Rythmik achtet versteht man den Zusammenhang nicht.

- Hört euch beim Klavierspielen gut zu und analysiert beim Spielen das geschehen. Stellt euch die nächsten Takte möglichst detailliert akustisch vor. Gerne auch instrumentiert. Ich habe den Eindruck, dass das sehr viel Bringt, weil das Gehirn direkt nachdem es sich etwas vorgestellt hat die Korrektur erhält.

- Was ich bei mir sehr erstaunlich finde ist, dass ich, sobald ich nur am Klavier sitze (ohne zu spielen) mir alles viel besser vorstellen kann. Noch interessanter ist, dass ich, wenn ich meine Hände auf die Klaviatur lege und mir vorstelle mit diesen aus einem Notentext zu spielen, aber es nicht tue, irgendwie die Musik fast "hören" kann. Ich habe das Gefühl, dass letzteres viel Bringt: Also am Klavier sitzen, die Hände auf das Klavier legen und sich vorstellen man würde spielen.

- Improvisiert viel. Eine schöne Übung ist z.B. die "Nicht-Umblättern" Übung. Spielt ein Stück vom Blatt und blättert dann nicht um sondern versucht im selben Stil weiterzuspielen. Klappt am Anfang garnicht, mit wachsender Übung immer Besser. Hier geht es darum den diffusen Höreindruck den man im Kopf hat dahingehend zu konkretisieren, dass man ihn nachspielen kann.

Und nun der wichtigste Tipp:

- Es ist wichtig wie die Musik im Kopf repräsentiert ist. Bei vielen Leuten, auch bei mir früher, ist sie, wie mir scheint, "motorisch" repräsentiert. Das ist aber wenig zielführend, denn die Essenz von Musik ist natürlich der Klangeindruck. Baut euren Kopf dahingehend um, dass die Musik auch als solche im Kopf präsentiert ist und Notentext, motorische Ausführung, etc. zweitrangig sind aber natürlich mit dem Klang verknüpft sind.

So...das war nun sehr rhapsodisch, aber ich hoffe es hilft.

Edit: Ah eine sehr, sehr gute Übung ist es, Notentexte aus dem Klangeindruck zu transponieren und noch besser, aber viel viel schwerer, Dinge transponiert vom Blatt zu spielen. Ich sage absichtlich "Dinge", weil mir das bisher bei noch keinem Musikstück befriedigend geklappt hat. Aber bei ein paar Takten, etc. schon.

Edit2: Eine Sache habe ich vergessen. Wenn ihr euch die "Buchstaben" dann mal vorstellen könnt, denkt im Notentext in "Sinneinheiten". Was eine Sinneinheit ist ist natürlich nach Stil, Epoche und Stück unterschiedlich. Was ich damit meine ist, wenn man einen Satz liest, liest man ja auch nicht:
"Blum en k ohlei ntop f is tmei nlieb stesgeric ht" sondern "Blumenkohleintopf ist mein liebstes Gericht".

Bei Musik sind Sinneinheiten natürlich auch mal zeitlich zueinander verschoben, bei Fugen beispielsweise. Oder es gibt mehrere Sinneinheiten welche gleichzeitig unterschiedlich zu verstehen sind, z.B. auch bei Fugen: Zwei Stimmen verlaufen melodisch getrennt aber gleichzeitig muss man auch die Intervalle als Sinneinheit betrachten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Sachen, die ich locker vom Blatt spielen kann, weil ich in ihnen durchweg vertraute Strukturen (vor allem Harmonien und Rhythmen) erkenne, kann ich auch in der Vorstellung "hören", für schrägere oder komplexere Sachen (angereicherte Akkorde, auch die meiste Polyphonie) brauche ich das Instrument. Melodien kann ich im Allgemeinen vom Blatt singen. Ich bin geübter Chorsänger, auch mit schwierigerer Literatur.

Grüße
Manfred
 
Ich kann mir eigentlich bei jedem (traditionellen) Klavierstück aus den Noten her vorstellen wie es klingt, wie schwer welche Stellen für mich sind usw. Auch Fingersätze, die ich ohne Instrument gemacht habe, muß ich nur minimal korrigieren, wenn ich sie ausprobiere. Ich blättere gern in Noten und stelle mir die Stücke vor.Ich weiß danach wie die Musik mir gefällt, auch wenn ich sie nie gehört habe. Ich habe das nicht irgendwie extra geübt, sondern das hat sich so nebenbei entwickelt. Intervalle hören muß man dafür eigentlich nicht können (das kann ich z. B. nur sehr schlecht, das würde man eher brauchen um ein gehörtes Stück aufschreiben zu können). Genauso muß man nicht wissen, wie ein Akkord heißt, um ihn sich vorstellen zu können, man muß nur eine Ahnung habe, wie dissonant oder konsonant die abgedruckten Töne zueinander sind. (prinzipiell sind solche Kenntnisse natürlich trotzdem gut). Das ganze ist eine Erfahrungssache - notiere eine vierstimmige Fuge in Partitur und ich habe überhaupt keine Vorstellung mehr vom Klang - weil ich eben mit dieser Darstellungsform nicht so viele Erfahrungen gesammelt habe, wie mit dem üblichen Klaviersystem.
 
Die Frage stellt sich, wie notwendig das eigentlich ist? Nobuyuki Tsujii kann systemisch bedingt keine einzige Note lesen (zumindest nicht so wie wir hier voraussetzen), spielt aber dennoch ganz hervorragend Klavier und kann seinerseits Stücke nicht vom Blatt sondern "vom Ohr" spielen, er kann ganze komplexe Werke nach Anhören nachspielen.

Der weiß nicht einmal, was ein Notenbild ist, hat zwar die Blindennotenschrift auch erlernt, aber erstens ist das in mehrfacher Hinsicht eine vollkommen andere Anforderung und zweitens lernt er erwiesenermaßen nur sehr selten auf diesem Weg, die meiste Literatur erlernt er durch nachspielen nach Gehör.
 
Für Menschen ohne die besonderen Anforderungen und entsprechende Kompensation eines Herrn Tsujii könnte das, was hier gefragt und teilweise schon beantwortet wurde, durchaus in gewissem Rahmen "notwendig" und auch sinnvoll sein.

Auch ohne Herrn Tsujii näher zu kennen, vermute ich, dass er das, was er kann, im Laufe der Zeit geübt/trainiert/verfeinert hat und nicht von Anfang an auf diesem Niveau war.
 
"Da Vögel fliegen können ist es offensichtlich bewiesen, dass Flugzeuge für Menschen nicht notwendig sind." :P
 

Wenn ich mich mit einer neuen, mir unbekannten Partitur beschäftige, dann kann ich mir durchaus schon eine Vorstellung machen, wie es klingen soll. Bei zeitgenössischer Musik ist das allerdings schwierig. Bin übrigens Absoluthörer... Spannender ist für mich dann die Frage, ob ich direkt erkennen kann, wie ich das ein oder andere technische Problem löse..
 
Eigentlich wurde ja nach dem genauen Gegenteil gefragt :denken:

Genau. Aber es stellt sich ja die Frage, ob das genaue Gegenteil (nämlich den Notentext zu "hören") eine notwendige Eigenschaft ist, um ein guter Klavierspieler zu sein. Ich selbst (oder auch Du) könnte diese Frage nicht beantworten, weil ich beides nicht kann, ich kann weder Notentext "hören"; noch spiele ich sehr gut Klavier.

Deswegen berufe ich mich auf Nobuyuki Tsujii, von dem weiß ich sowohl, dass er sehr sehr gut Klavier spielen kann, und ich weiß ebenso sicher, dass der Notentext nicht "hören" kann, denn er kann ihn nicht einmal sehen. Damit ist erwiesen, dass es eben NICHT notwendig ist, Notentext zu "hören", um ein guter Klavierspieler zu werden. Mehr noch, es stellt sich ja darüber hinaus die Frage, inwiefern Notenlesen (auch ohne die Fähigkeit des unmittelbaren Umsetzens in Klänge) überhaupt eine notwendige Fähigkeit ist, um gut Klavier spielen zu können. Denn auch das widerlegt Nobuyuki Tsujii. Das ist eigentlich eine interessante Erkenntnis, normalerweise würde man ja jederzeit sagen, klar, wer nicht Noten lesen kann, der kann sowieso auch nicht komplexe Klavierstücke spielen. Das ist aber falsch, denn Nobuyuki Tsujii kann sogar sehr komplexe Klavierstücke spielen.

Das ist ein plakatives Beispiel dafür, wie Menschen in der Lage sind, gewisse Fähigkeiten durch andere Fähigkeiten auszugleichen. Ich finde das faszinierend und auch Nobuyuki Tsujii ist ein faszinierender Künstler.
 

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