Hallo,
Ich habe, seit ich mich erinnern kann, absolutes Gehör. Dazu ein paar Beobachtungen, einfach mal zusammengewürfelt, wie sie mir in den Sinn kommen:
1) Ich entdeckte das a.G. mit 10 Jahren auf einer Chorwoche, bzw. entdeckte dort zum ersten Mal, dass es NICHT alle Menschen haben. Das war für mich damals richtig erstaunlich, denn a.G. gehörte für mich "einfach dazu".
2) Als Student habe ich im Physiklabor getestet, wie genau mein a.G. ist, mit einem kalibrierten Sinusfrequenzgenerator. Im (einmaligen) Versuch, den Konzertton zu erzeugen, kam ich auf 438 Hz.
3) Ich finde a.G. eher als störend. Wenn ich z.B. im Chor singe, vor allem ein mir unbekanntes Stück, und der Chor sinkt oder steigt an, dann kann ich praktisch nicht mehr mitsingen. Auch transponieren ist ein Riesenakt für mich!
4) Weil ich mich beim Musizieren auf gewisse Aspekte des a.G. verlasse, ist meine Musikalität bzw. mein Musizieren teilweise sehr unterentwickelt. Ich übe ein Stück stets über's Gehör ein - bzw. ich habe es viel schneller im Gehör als in den Fingern. Entsprechend frustrierend ist es dann, wenn die Fingerfertigkeit und das Blattlesen relativ schwach entwickelt sind. Virtuos bin ich nicht, werde es auch nie sein.
5) Wenn ich eine Melodie dahinsumme oder pfeife (oder mit einem Ohrwurm wach werde und ihn mir im Kopf anhöre), so ist diese oftmals ca. einen halben Ton zu tief! Das bemerke ich aber erst, wenn ich die Tonhöhe bewusst prüfe. Wenn ich aber z.B. meine Geige stimme, habe ich nie das Problem, etwa mein a' nicht zu finden. Im Gegenteil: ist die Geige verstimmt, merke ich das sofort. Nur das innere, stille Ohr ist nicht immer fest.
6) Diese innere, stille, "natürliche" Tonlage ist stimmungsabhängig! Im aktiv-fröhlichen Zustand stimmt es am besten. Bei Stress, Hektik und Spannung rutscht sie teilweise sogar zu hoch, bei Depression oder starker Entspannung dahingegen immer zu tief. Bei mir hängt die (Ton-)Stimmung unmittelbar mit der (Gemüts-)Stimmung zusammen.
7) Die sog. historische Auffürungspraxis mit ihren tausend verschiedenen Stimmungen irritiert mich ohne Ende. Es mag ja alles belegbar sein, und auch im Sinne des Instrumentenbaus sinnvoll, aber ich kann die Musik einfach nicht genießen! Wenn nicht gespielt wird, das "da steht", klappt bei mir die Tür zu. Das ist, wie wenn man mit schmerzenden Zehen eine Wanderung macht. Man denkt nur an die Zehen. Die schöne Landschaft sieht man gar nicht mehr!
8 ) Meine beiden Brüder hatten genauso frühe Kontakte zur Musik wie ich. Trotzdem haben sie kein a.G.
9) Das a.G. hat mir das Interesse an der Psycho-Akkustik geweckt, und ich lese viel und gerne zu diesem Thema. Es gibt faszinierende Bücher, z.B. Forschung über Menschen, die trotz Altersdemenz noch hochmusikalisch sind, aber schon wenige Sekunden später nichts mehr vom Stück wissen, was sie gerade gespielt oder sogar dirigiert (!!) haben... Oder Tinnitus bei Tauben...
10) Siehe auch mein benachbarter Thread zur Wahrnehmung von Tonhöhe:
https://www.clavio.de/forum/sonstiges/8268-empfundene-tonhoehe-abhaengig-von-der-lautstaerke.html
11) A.G. wird von denen, die es nicht haben, bewundert, aber von den meisten, die es haben, auch von mir, eher ertragen und bemitleidet.
Ciao,
Mark