Im Fadenthema "Widerstände gegen Bach" kam das Thema hoch bzgl. Vibratoeinsatz im Barock - Stichwort "Historisch informierte Aufführungspraxis".
Vielleicht wäre es von allgemeinem Interesse, wenn man dafür Zeitzeugenaussagen hier sammeln könnte, inwiefern man im Barockzeitalter im Gesang als auch bei Instrumenten mit Vibrato gesungen bzw. gespielt hat. Wenn es zeitlich weiter eingegrenzt werden müßte, würde mich besonders die Zeit von Bach, Händel & Co. interessieren.
Ein Zitat von Chiarina aus dem Faden "Widerstände gegen Bach" habe ich hierzu hierher kopiert:
Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob du - Chiarina - mit "früher" hier meintest, wie die Aufführungspraxis zu Bachs Zeiten war, oder, wie die Aufführungspraxis zu Beginn der Strömung war, bei der man sich um historisch informierte Aufführungspraktiken bemühte (also 20.Jhdt)?
Meinst du, dass Vibrato zu Bachs Zeiten strengstens verboten war? Nur für Instrumente, oder auch Gesang?
Lieber Mindenblues,
ich habe leider keine Ahnung, wie es zu Bachs Zeiten genau gewesen ist. Ganz genau weiß das wohl keiner. Ich kann dir nur aus meiner Praxis berichten:
Ungefähr in den 60ern des letzten Jahrhunderts ( liebe Leute, ich bin kein Musikwissenschaftler, bitte korrigiert mich, wenn ich Falsches schreibe!) kam die sog. "historische Aufführungspraxis" in Mode. Zwischendurch gab es immer wieder Strömungen, die sich davon absetzten und es gab teils erbitterte Grabenkämpfe.
Das ging so weit, dass ich z.B. eine Matthäus-Passion mit einer Besetzung und einem Klangvolumen eines Brahms-Requiems gesungen habe :p - Mahler war nichts dagegen .... und noch heute bekomme ich die Krise, wenn ich an diesen romantischen, satten Klang mit wer weiß wievielen Kontrabässen, dieses Riesenvibrato der Streicher etc. denke!!!
Ein paar Straßen weiter konnte man eine ganz andere Art der Aufführung genießen: völlig puristisch, ohne Vibrato ( Streicher sowieso und Sänger so wenig wie möglich), mit Darmsaiten, sehr tiefem Kammerton nahe "as", aber immerhin noch mit den Bögen, wie ihn heutige Streicher benutzen. Es gab aber durchaus die Hardcore-Variante mit Rundbögen, wobei ich das überhaupt nicht lächerlich machen will.
Denn die Rundbögen, die eine erheblich geringere Spannung hatten als die meines Wissens aus Italien stammenden modernen Bögen und deren Spannung mit dem Daumen verändert werden konnte, ermöglichten eine polyphonere Spielweise, weil so mehrere Saiten gleichzeitig gestrichen werden konnten. Evtl. wurde sogar noch der Steg etwas begradigt, um dies zu unterstützen. Beim modernen Bogen müssen nämlich Akkorde oft arpeggiert werden, was für polyphone Strukturen nicht günstig ist. Der Rundbogen in Verbindung mit den Darmsaiten erzeugte also einen ganz anderen Klang als die heutigen Instrumente, allerdings klang der Ton auch viel leiser. In großen Konzertsälen wie heute üblich also nicht machbar.
Meines Wissens hing der Klang eines Orchesters zu Bachs Zeiten aber auch von vielen Faktoren ab:
- erstmal gab es eine Menge Instrumente, die heute gar nicht mehr existieren ( Schnabelflöten, verschiedene Streichinstrumente etc. etc.).
- dann hing es davon ab, welche Instrumente und Musiker überhaupt verfügbar waren. Es lebe die Improvisation :p .
- dann hing die Besetzung auch von den Räumlichkeiten ab. In größeren Säälen brauchte man mehr Leute, dann ging es immer auch um das Verhältnis Chor-Orchester etc..
Aus all diesem ( es gibt bestimmt noch viel mehr, Gomez, wo bist du? :p ) ergibt sich, dass es auch nicht die eine Aufführungspraxis in der Barockzeit gab, geschweige denn, dass es in den einzelnen Ländern noch große Unterschiede gab.
Also wie soll man es denn nun machen?
Sehr schön finde ich dazu ein Zitat von Hanoncourt:
"
Neubewertung der Tradition
Die fünfziger Jahre waren eine Zeit des Neuanfangs in allen Künsten, man suchte nach einer Reinigung der vom Nazismus beschädigten Tradition. Ganz deutlich war das zum Beispiel bei der damaligen neuen Musik. Die Komponisten haben mit dieser Überzeugung in die Zukunft gearbeitet, während Sie aus dem gleichen Geist heraus die Vergangenheit erforscht haben und gefragt haben: Wie kann man die Tradition neu lesen?
Auch ich habe eigentlich geglaubt, in die Zukunft zu gehen. Ich hatte das Gefühl: Mit der Musik, überhaupt mit der ganzen Kunst der Vergangenheit kann man so wie bisher doch nicht mehr umgehen. Später habe ich das auch ein bisschen von außen beobachtet und festgestellt, dass die Veränderungen in der Aufnahme von Kunst ungeheuer stark etwas unterworfen sind, das man eigentlich nur als Mode bezeichnen kann.
In den Nachkriegsjahren?
Ich meine über die Jahrhunderte hinweg. Wenn Sie um 1500 ein Möbelstück gemacht bekommen, wird das ein kostbares Möbel sein. Es wird sehr viel Geld dafür aufgewendet, dieses kostbare Möbel zu besitzen. Hundert Jahre später ist dieses Möbel nichts wert, es wird auf den Dachboden gestellt, und nochmals fünfzig Jahre später kommt es vielleicht hinters Haus, es wird als Kohlebehälter benutzt und ist wirklich nur Gerümpel. Weitere fünfzig Jahre später wird es plötzlich wieder so kostbar, dass man ein ganzes Haus dafür bekommen könnte. Wie kann das möglich sein? Wieso wechselt unsere Sicht auf die Dinge so schnell, und wodurch wechselt sie? Das bezieht sich auf alles, nicht nur auf die Kunst. Wir werten ständig neu. Das habe ich bald erkannt, und alle meine Überlegungen sind von da an ein bisschen in diese Richtung gegangen. Wieso wollen wir zum Beispiel nicht auf die großen Kunstwerke der Antike und anderer Epochen verzichten? Sie werden nie alt, doch sie werden von Generation zu Generation immer wieder anders gelesen und verstanden."
Heute haben sich die alten Grabenkämpfe um "richtig" und "falsch" m.W. zum großen Teil aufgelöst. Streicher dürfen wieder vibrato machen ...... .
Apropos Klaviermusik: es war früher auch mal eine Zeitlang " modern", Bach mit ordentlich Pedal zu spielen. Letztendlich bleibt einem nichts anderes übrig, als sich so umfassend wie möglich zu informieren und dann seine Wahl zu treffen. Was gibt es Schöneres! :p
Liebe Grüße
chiarina