Na ja, dafür werden ganz einfach nicht genug Leute über 100 Jahre alt, von denen sicherlich auch nur eine Minderheit mal Klavier gespielt hat und die auch noch in diesem biblischen Alter körperlich und geistig dazu oder dem Erlernen einer Fremdsprache in der Lage sind
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Ein entscheidendes Selektionskriterium ist neben der individuell verschiedenen Leistungsbereitschaft auch das jeweilige Leistungsvermögen. Je höher das Lebensalter, desto größer der Prozentsatz derer, bei denen das Krankheitsbild der Demenz diagnostizierbar ist. In diesem Falle geht es nicht einfach nur um gelegentliches Vergessen und ein langsameres Lerntempo, sondern um die Tatsache, dass das Erlernen gänzlich neuer Tätigkeiten praktisch nicht mehr möglich ist. Geistige Anregungen von Demenzpatienten dienen eher dem Zweck, im Langzeitgedächtnis verankerte Kenntnisse möglichst lange verfügbar zu halten. Wer in einer Senioreneinrichtung einen Singkreis leitet, wird daher bei der Wahl des Liedguts und der Art und Weise, wie gesungen wird, an jene Lebensabschnitte anknüpfen, in denen gesungen wurde - und das ist in der Regel die Schulzeit. Volkslieder, traditionelle Kirchenlieder, aber auch Populäres aus früheren Jahrzehnten kommen bei diesem Personenkreis gut an. Gleichstimmigkeit oder gar einfache Mehrstimmigkeit ist eher etwas für einen Seniorenchor, in dem sich erfahrene Chorsänger mit einschlägiger Erfahrung und/oder entsprechenden Fertigkeiten zusammenfinden.
Gesungen haben wesentlich mehr Menschen in ihrem Leben als Klavier gespielt, deshalb ist die "Minderheit" beim Singen nicht ganz so klein wie etwa beim Instrumentalmusizieren. Vor diesem Hintergrund ist eine diagnostizierte Demenz beim Patienten nicht gleichbedeutend mit dem Umstand, ab sofort nie mehr ein Klavier anrühren zu können. Bereits erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten bleiben im Langzeitgedächtnis lange Zeit durchaus erhalten. Training durch das Spielen dient vorrangig dem Ziel, deren Verlust möglichst lange Zeit nach hinten zu verschieben. Das Erlernen neuer Spieltechniken und neuer Literatur ist das erste, was nicht mehr gelingt.
Das hängt auch von der individuellen Persönlichkeit des alten Menschen ab. Kann er sich mit seinen eigenen Grenzen arrangieren, kann er Fehlversuche, Misserfolge und (mehrfaches) Scheitern akzeptieren, um es daraufhin nochmals zu versuchen? Frustrationstoleranz braucht beim Klavierspielen auch ein hirnorganisch gesunder Mensch jede Menge.
Beim gemeinsamen Singen geht so manche Fehlleistung und so manches Unvermögen in der Masse unter, deshalb kann man in so manchem Laienchor mit hohem Altersdurchschnitt durchaus Mitglieder mit stark nachlassendem Leistungsvermögen integrieren, zumal dem Chorsingen auch soziale Faktoren eigen sind. Die Diagnose einer (noch nicht allzu stark ausgeprägten) Demenz ist kein generelles Kriterium, jemanden von der Anwesenheit auszuschließen. Macht sich diese allerdings bemerkbar, indem das Chormitglied unruhig oder sogar aggressiv wird, hat die Integrationsfähigkeit einer Chorgemeinschaft allerdings natürlich Grenzen. Geräuschvolles Herumhantieren in der verkehrt gehaltenen Notenmappe, permanentes Herumzappeln auf dem Platz, lautstarkes Mitbrummen an der falschen Stelle und wütendes Losschimpfen bis hin zu körperlichen Angriffen gegen Mitsänger und Chorleiter lassen sich irgendwann nicht mehr abmildern, indem man den Betreffenden in die hintere(n) Reihe(n) versetzt. Übrigens gilt so etwas nicht nur für Sänger, sondern auch für Pianisten: Bei freien Musiktheatervereinigungen habe ich einige Male den Korrepetitor- oder Kapellmeisterjob von sehr erfahrenen Kollegen höheren Alters übernommen, die einst an großen Häusern erfolgreich tätig waren und dort Vorbildliches geleistet haben. Dass die Kollegen sich nicht einfach im Rentner- und Pensionärsalter untätig zur Ruhe setzen, sondern ihre jahrzehntelange Berufserfahrung in den Dienst vergleichbarer Projekte stellen wollten, kam zunächst der Sache sehr zugute. Im Laufe der Zeit stellten sich aber unterschiedlich ausgeprägte Komplikationen ein: Stark nachlassende technische und musikalische Fertigkeiten, zunehmende Desorientiertheit auch auf dem Notenblatt und im Zusammenspiel, Schwerhörigkeit und kommunikative Probleme mit Leitung und Ensemblemitgliedern waren irgendwann nicht mehr tragbar. Auch die Profis werden nun mal älter - und man kann nur in begrenztem Umfang den altersbedingten Auswirkungen entgegentreten, umkehren oder gar wegzaubern funktioniert eben nicht.
Sich am Machbaren orientieren und dazu Ja sagen ist wohl die beste Strategie. Einerseits könnte man sagen, je mehr man sich an Kenntnissen und Fertigkeiten in gesunden und vitalen Zeiten angeeignet hat, desto mehr kann auch wieder verloren gehen. Andererseits kann man behaupten, desto mehr bleibt möglicherweise in den letzten Lebensphasen an Potenzial und damit Lebensqualität immer noch erhalten. Und das ist doch was wert, oder nicht?
LG von Rheinkultur