Mich würde es interessieren.
Auf die Schnelle gehe ich mal auf ein paar Punkte von S. Bruhns ein.
Siglind Bruhns schrieb:
Die rhythmische Gleichförmigkeit erzeugt eine meditative Atmosphäre, die zum Träumen einlädt; emotionale Spannungen sind von untergeordneter Bedeutung.
Aus rhythmischer Gleichförmigkeit auf eine meditative Atmosphäre zu schließen, ist reine Willkür. Das Finale der 2. Chopin-Sonate ist rhythmisch noch gleichförmiger, trotzdem wird man den agitato-Charakter dieses Satzes schwerlich verleugnen können. Und warum emotionale Spannungen hier von untergeordneter Bedeutung sind, erschließt sich erst recht nicht. Um 1720 galt der verminderte Septakkord noch als herbe Dissonanz mit hohem Spannungsgehalt, und in diesem Praeludium wimmelt es davon. Und nicht nur das, jede Menge frei einsetzende Dissonanzen, scharfe Antizipationen und Vorhalte mit kleinen Sekunden/Nonen findet man ebenfalls in diesem Praeludium!
Siglind Bruhns schrieb:
Das Tempo ist recht langsam: Die metrisch dominierenden Viertel sollten ruhig schwingen, die den Puls gebenden Achtel ohne jede Hast sein. Für die Artikulation empfiehlt sich dichtes legato.
Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Zum einen ergibt sich das Tempo bei Bach meist aus dem harmonischen Tempo - hier wechseln die Harmonien aber halb- und ganztaktig, außer in den Kulminationspunkten. Zum anderen hat Bach langsame Tempi meist in anderen (kleineren) Notenwerten notiert. Wenn er einen 4/4 mit dieser Harmoniedichte und durchgehendem Achtelpuls geschrieben hat und den tatsächlich langsam wollte, hat er das in der Regel explizit notiert. Ein Beispiel wäre die Sinfonia zum "Actus tragicus" (Molto adagio) oder auch die Fuge in h-Moll (Largo).
Zudem dominieren metrisch nicht die Viertel, sondern die Halben. Auf dem Klavier kann man das natürlich kaschieren, auf dem Cembalo aber nicht. Die 1 und die 3 des Taktes bekommen durch die "fetten" Akkorde deutliche Akzente, wodurch in Verbindung mit den jeweiligen (Achtel-) Auftakten ein geradezu tänzerischer Rhythmus entsteht. Durch Nivellierung, Dauerlegato und zu langsames Tempo kann man dagegen anspielen, aber ich bezweifle, dass diese (sehr verbreitete Art der Interpretation) im Sinne Bachs ist.
Siglind Bruhns schrieb:
Die Dynamik in einem meditativen Präludium ist indirekter als in anderen
sonst vergleichbaren Kompositionen; sie spielt sich im Hintergrund ab
und sollte die Aufmerksamkeit des Hörers nie vom alles beherrschenden
Puls ablenken.
...
Der vierte Abschnitt bringt den zweiten
Höhepunkt, der jedoch trotz seines vielstimmigen Akkordes eher introvertiert
als laut klingen sollte. Das Präludium schließt nach einem weiteren
diminuendo eher verhalten.
Ich sehe in dem Praeludium eine auf das Klavier übertragene Sinfonia. Die Textur ist eindeutig orchestral, als Instrumentierung bieten sich Oboen, Streicher und Continuo an. Das spricht gegen eine "indirekte" Dynamik, was immer das sein soll. Wie Frau Bruhns darauf kommt, dass ausgerechnet der neun(sic!)-stimmige verminderte Septakkord in Takt 22 introvertiert klingen sollte, ist mir völlig schleierhaft. Auf einem Cembalo ist das zwangsläufig der dynamische Höhepunkt des Satzes, und die Parallelen zum achtstimmigen Aufschrei "Barrabam!" in der Matthäuspassion sind kaum zu übersehen.
Ich spiele das Präludium übrigens im Tempo 4tel=63, falls es jemand ausprobieren möchte. Pedal nehme ich sehr wenig, hauptsächlich auf den Taktschwerpunkten 1 und 3. Legato spiele ich nur die Zweiergruppen der 16tel. Die Auftakte zu den Taktschwerpunkten spiele ich staccato, den Rest mehr oder weniger non legato. Ich finde das Praeludium so sehr schön und glaube, dass es Bachs Intention sehr viel näher kommt als die übliche "Meditation". Wettbewerbstauglich ist es so nicht, das ist klar.