WTK Analyse und Gestaltung

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Da @Stilblüte gerade eine annotierte Ausgabe der Bachschen Inventionen vorgestellt hat, fiel mir ein Buch wieder ein, das ich mal recherchiert hatte, als ich mich mit dem WTK I beschäftigte. Ich habe es aus verschiedenen Gründen nicht gekauft, aber mich würde die Meinung der Experten hier zu dem Buch interessieren.

Es geht um "J. S. Bachs Wohltemperiertes Klavier: Analyse und Gestaltung" von Siglind Bruhn.

Man kann es online lesen: Klick. Die Kaufversion als Taschenbuch beim großen Fluss kostet 53 Euro (Klick).

Ich hätte es ja gerne gebunden in der Hand, aber irgendwie stört mich der Preis von 53 Euro für die Hardcopy von etwas, das ich online umsonst lesen kann. Was natürlich ungerecht ist, denn sicher steckt ein Haufen Arbeit darin.

Also, was halten die Profis von der inhaltlichen Qualität dieses Buches?
 
...also wenn es das nicht online kostenlos zu lesen gäbe, würdest du es kaufen?
Ja, möglicherweise fiele mir die Entscheidung leichter, wobei ... dann könnte ich ja nicht mehr vorher reinlesen.

Jetzt komm mir nicht mit Rationalität. Ich bin wirklich der letzte, der den Urhebern ihren Lohn nicht gönnt, bei mir zu Hause gibt es wirklich (so gut wie) keine Raubkopien. Aber hier hat der Verlag den Inhalt ja selbst kostenlos freigegeben, und dann fällt es mir irgendwie schwer, fürs Drucken und Binden (mit einem nicht sehr ansprechenden Titelblatt) 53 Euro auszugeben. Wobei die Innenseiten typografisch wieder ganz ok aussehen, sehr nach TeX.

Aber danke für Deine (positive) Einschätzung. Ich hatte mir den Teil zu d-moll Präludium und Fuge angeschaut, als ich die gespielt habe, und fand es auch ganz hilfreich. Aber mein Urteil in solchen Fragen ist nicht besonders relevant.
 
Eine ganz andere Frage bzgl WTK.

Im "DAS MEISTERBUCH" ist auf Seite 78 Präludium und Fuge b moll. Ich finde da die FIngersätze sehr genial. Weiss jemand, aus welcher WTK Ausgabe das stammt?
 
Na, aus der Peters-Ausgabe vermutlich.

Ich habe noch aus Ostzeiten sowohl Meisterbuch wie auch die Peters-Ausgabe des WTK. Ich kanns zu Hause mal vergleichen.

Zudem fällt mir auf, dass jetzt zweimal das b-Moll Präludium und Fuge referenziert wurden. Sind die besonders wichtig? Muss ich die als nächstes in Angriff nehmen?
 
Och menno, nee, haste natürlich nich. Deine Frage (ob ich es eher kaufen würde, wenn es nicht kostenlos verfügbar wäre) war doch absolut gerechtfertigt und mir ist klar, dass meine Haltung dazu irrational ist. Meine Rechtfertigung war eher so ein Selbstgespräch, vermeintlich gewürzt mit (offenbar nur für mich erkennbarer) Selbstironie ...
:heilig::bye::herz:
 
was da zu WTK I Praeludium b-Moll erläutert wird, ist sehr gut
Gerade bei diesem Praeludium kann ich mit den Ausführungen von Frau Bruhns so gar nichts anfangen. Ich habe eine völlig andere Vorstellung davon, wie dieses Praeludium zu verstehen ist. Ich bin mir allerdings darüber im Klaren, dass meine Auffassung von der "traditionellen" Vortragsweise stark abweicht, und obwohl ich meine Interpretation sehr plausibel begründen kann, würde ich es deshalb niemals auf einen Wettbewerb mitnehmen. Aber falls Interesse besteht, kann ich das bei Gelegnheit etwas näher ausführen.

Was Frau Bruhns über die formalen, harmonischen und motivischen Zusammenhänge schreibt, ist natürlich nicht falsch. Aber braucht man dazu ein Buch? Es ist ja nur die Beschreibung des Offensichtlichen, und das kann man mühelos selbst aus dem Notentext extrahieren.
 

Gerade bei diesem Praeludium kann ich mit den Ausführungen von Frau Bruhns so gar nichts anfangen. Ich habe eine völlig andere Vorstellung davon, wie dieses Praeludium zu verstehen ist. Ich bin mir allerdings darüber im Klaren, dass meine Auffassung von der "traditionellen" Vortragsweise stark abweicht, und obwohl ich meine Interpretation sehr plausibel begründen kann, würde ich es deshalb niemals auf einen Wettbewerb mitnehmen. Aber falls Interesse besteht, kann ich das bei Gelegnheit etwas näher ausführen.

Was Frau Bruhns über die formalen, harmonischen und motivischen Zusammenhänge schreibt, ist natürlich nicht falsch. Aber braucht man dazu ein Buch? Es ist ja nur die Beschreibung des Offensichtlichen, und das kann man mühelos selbst aus dem Notentext extrahieren.
Mich würde es interessieren.
 
Auf die Schnelle gehe ich mal auf ein paar Punkte von S. Bruhns ein.
Zitat von Siglind Bruhns:
Die rhythmische Gleichförmigkeit erzeugt eine meditative Atmosphäre, die zum Träumen einlädt; emotionale Spannungen sind von untergeordneter Bedeutung.


Aus rhythmischer Gleichförmigkeit auf eine meditative Atmosphäre zu schließen, ist reine Willkür. Das Finale der 2. Chopin-Sonate ist rhythmisch noch gleichförmiger, trotzdem wird man den agitato-Charakter dieses Satzes schwerlich verleugnen können. Und warum emotionale Spannungen hier von untergeordneter Bedeutung sind, erschließt sich erst recht nicht. Um 1720 galt der verminderte Septakkord noch als herbe Dissonanz mit hohem Spannungsgehalt, und in diesem Praeludium wimmelt es davon. Und nicht nur das, jede Menge frei einsetzende Dissonanzen, scharfe Antizipationen und Vorhalte mit kleinen Sekunden/Nonen findet man ebenfalls in diesem Praeludium!


Zitat von Siglind Bruhns:
Das Tempo ist recht langsam: Die metrisch dominierenden Viertel sollten ruhig schwingen, die den Puls gebenden Achtel ohne jede Hast sein. Für die Artikulation empfiehlt sich dichtes legato.
Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Zum einen ergibt sich das Tempo bei Bach meist aus dem harmonischen Tempo - hier wechseln die Harmonien aber halb- und ganztaktig, außer in den Kulminationspunkten. Zum anderen hat Bach langsame Tempi meist in anderen (kleineren) Notenwerten notiert. Wenn er einen 4/4 mit dieser Harmoniedichte und durchgehendem Achtelpuls geschrieben hat und den tatsächlich langsam wollte, hat er das in der Regel explizit notiert. Ein Beispiel wäre die Sinfonia zum "Actus tragicus" (Molto adagio) oder auch die Fuge in h-Moll (Largo).
Zudem dominieren metrisch nicht die Viertel, sondern die Halben. Auf dem Klavier kann man das natürlich kaschieren, auf dem Cembalo aber nicht. Die 1 und die 3 des Taktes bekommen durch die "fetten" Akkorde deutliche Akzente, wodurch in Verbindung mit den jeweiligen (Achtel-) Auftakten ein geradezu tänzerischer Rhythmus entsteht. Durch Nivellierung, Dauerlegato und zu langsames Tempo kann man dagegen anspielen, aber ich bezweifle, dass diese (sehr verbreitete Art der Interpretation) im Sinne Bachs ist.


Zitat von Siglind Bruhns:
Die Dynamik in einem meditativen Präludium ist indirekter als in anderen
sonst vergleichbaren Kompositionen; sie spielt sich im Hintergrund ab
und sollte die Aufmerksamkeit des Hörers nie vom alles beherrschenden
Puls ablenken.
...
Der vierte Abschnitt bringt den zweiten
Höhepunkt, der jedoch trotz seines vielstimmigen Akkordes eher introvertiert
als laut klingen sollte. Das Präludium schließt nach einem weiteren
diminuendo eher verhalten.
Ich sehe in dem Praeludium eine auf das Klavier übertragene Sinfonia. Die Textur ist eindeutig orchestral, als Instrumentierung bieten sich Oboen, Streicher und Continuo an. Das spricht gegen eine "indirekte" Dynamik, was immer das sein soll. Wie Frau Bruhns darauf kommt, dass ausgerechnet der neun(sic!)-stimmige verminderte Septakkord in Takt 22 introvertiert klingen sollte, ist mir völlig schleierhaft. Auf einem Cembalo ist das zwangsläufig der dynamische Höhepunkt des Satzes, und die Parallelen zum achtstimmigen Aufschrei "Barrabam!" in der Matthäuspassion sind kaum zu übersehen.

Ich spiele das Präludium übrigens im Tempo 4tel=63, falls es jemand ausprobieren möchte. Pedal nehme ich sehr wenig, hauptsächlich auf den Taktschwerpunkten 1 und 3. Legato spiele ich nur die Zweiergruppen der 16tel. Die Auftakte zu den Taktschwerpunkten spiele ich staccato, den Rest mehr oder weniger non legato. Ich finde das Praeludium so sehr schön und glaube, dass es Bachs Intention sehr viel näher kommt als die übliche "Meditation". Wettbewerbstauglich ist es so nicht, das ist klar.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ohne das jetzt weiter auszuführen: Ich finde Bruhns Buch absolut oberflächlich und unhistorisch.
Auch mit micks Kritik gehe ich d'accord: In allem scheinbar "gleichförmigen" in Alter Musik sehen viele Autoren immer gleich "Meditation" und die Aufforderung zu gleichförmiger Gestaltung. Einen Achtelpuls halte ich hier aufgrund der Taktart und des harmonischen Tempos auch für ganz unabgebracht.

Zur ersten Fuge aus dem WTK 1 habe ich mal etwas verfasst, später dann zu einem Vortrag ausgebaut und leider noch nicht alles davon eingearbeitet, aber es ist ein Entwurf: http://www.bernardynet.de/index.php?id=musiktheorie&thema=bwv8461

Ebenso kann ich einen Text von Volkhardt Preuß empfehlen (Die Fuge zwischen Rezeption und Wandel): https://www.volkhardt-preuss.de/system/files/7570/original/Fuge.pdf?1516050379

P. S.: Von Daniele Boccaccio gibt es offenbar eine Aufnahme des b-Moll-Präludiums (auf Orgel) mit immerhin knapp Viertel=60. Auch Olli Mustonen auf dem Klavier ist ziemlich flott unterwegs, überhaupt finde ich seine Aufnahme recht interessant und diskussionswürdig.
 
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Morgen ist in der ZEIT ein Artikel über Bach (wg. Passion und so...). Vielleicht nur bildungsbeflissenes Gelaber, aber vielleicht ja auch interessant. Also, bis morgen...
 
Aus rhythmischer Gleichförmigkeit auf eine meditative Atmosphäre zu schließen, ist reine Willkür. Das Finale der 2. Chopin-Sonate ist rhythmisch noch gleichförmiger, trotzdem wird man den agitato-Charakter dieses Satzes schwerlich verleugnen können.
...das Finale der Trauermarschsonate als tertium comparationis zum b-Moll Praeludium WTK I ... Mann Mann Mann ... darauf muss man auch erstmal kommen ;-):-D:-D
Gleichförmige Achtelrepetitionen, eher ruhiges Tempo (wer den Lamento Charakter des Praeludiums leugnet, dem ist sicher nicht zu helfen) - wenn schon Chopin, dann noch eher die Regentropfen ;-) (die übrigens nicht schleichend lahm sind)

Spaß beiseite: abseits der Profis sind die einfach gehaltenen "Analysen" und "Erläuterungen" durchaus ok, nebenbei wird dieses b-Moll Praeludium zumeist eher ruhig und con Lamento, doloroso gespielt - der Hobbyspieler, der sich an Aufnahmen orientiert, um einen Höreindruck zu erhalten, wird dabei selten einen staccato Geschwindmarsch entdecken ;-) mit anderen Worten: man muss da nicht zwangsläufig wutschnaubend draufhauen.

...und angehende Profis, die´s ganz genau wissen wollen, die gucken nach den versteckten religiösen Sachen (=> Margulis)
 
So, ich hab jetzt ein paar Artikel geliked, um mich für die Teilnahme an der Diskussion zu bedanken. Die likes implizieren nicht zwingend Zustimmung - inhaltlich will ich die Diskussion Bruhns - @rolf - @mick - @rappy nicht bewerten, denn da kann ich mich nur blamieren.
:coolguy:

Mir bleiben nur die niederen Rechercharbeiten, um mich nützlich zu machen:
Weiss jemand, aus welcher WTK Ausgabe das stammt?
Nein, ich weiß es nicht. Ich habe vom WTK die Peters-Urtext-Ausgabe von A. Kreutz (Nr. 4691a/b). Das ist eine ganz andere Ausgabe, als im "Meisterbuch" abgedruckt ist. Interessant ist dabei, dass im "Meisterbuch" die Stimmen völlig anders auf die Systeme verteilt sind als in der Urtextausgabe. Mehr kann ich leider nicht beitragen.
 

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