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Also.
Wenn ICH als KL ein professionelles Setting "Klavierunterricht" anbiete, für das Geld fließt, verpflichte ich mich einerseits zu bestimmten Dingen (pünktlich da sein, versprochene Zeitdauer unterrichten, Ahnung haben, gut unterrichten, den Schüler menschlich gut behandeln usw.), andererseits erwarte ich bestimmte Dinge vom Schüler (pünktlich da sein, geübt haben, sich ordentlich benehmen, sich angemessen bemühen & konzentrieren usw.).
Diese Rahmenbedingungen werden von MIR gesetzt, ICH bin ganz eindeutig der Chef in dieser Interaktion. Der Schüler hat selbstverständlich das Recht, von vornherein zu wissen, was die Regeln sind und was von ihm erwartet wird, wenn er Klavierunterricht nimmt; aber dann hat er sich entweder nach diesen Regeln zu richten, oder - wenn er sie in wiederholter oder exorbitanter Weise verletzt - er muss die Konsequenzen tragen (z.B. Rausschmiss).
Lieber hasenbein,
ursächlich werden die Rahmenbedingungen nicht von dir gesetzt, sondern sie ergeben sich automatisch aus den Anforderungen des Klavierunterrichts. Wenn nämlich der Schüler (oder auch ich) nicht pünktlich ist, sich nicht konzentriert etc., kann ein sinnvoller Unterricht nicht stattfinden.
In meinem ganzen Leben habe ich noch nie zu einem Schüler zu Beginn des Unterrichts gesagt, "sei pünktlich, konzentriere dich ....". Das ist selbstverständlich und sind keineswegs DEINE Regeln, sondern Voraussetzungen, die im Arbeitsleben notwendig sind und ohne die dieses nicht funktioniert.
So etwas wird im Unterricht erst in dem Moment Thema, wenn diese Voraussetzungen nicht (mehr) vorhanden sind. Wenn z.B. der Schüler mehrmals unpünktlich ist, wenn er im Unterricht nicht konzentriert mitarbeitet. Dann gibt es ein Problem - die gemeinsame Arbeit wird gestört.
Auf dieses Problem kann man nun so oder so reagieren. Auch wenn man das Gordon-Modell anwendet, hat man eine breite Palette von Handlungsmöglichkeiten. Mich interessiert bei Unpünktlichkeit sehr, WARUM der Schüler zu spät ist und tatsächlich kann sich dann herausstellen, dass er mal mit dem Fahrrad losfährt und mal zu Fuß geht, bei beidem zur gleichen Zeit von zu Hause startet und sich keine Gedanken darüber gemacht hat, dass er bei "zu Fuß" länger braucht und dann zu spät kommt.
Man kann auch die Schiene fahren, die die Machtposition des Lehrers an die vorderste Stelle stellt: "Entweder du kommst nächstes Mal pünktlich oder ich rede mit deinen Eltern, schmeiße dich raus .....". Der geneigte Leser möge sich selbst vorstellen, was für den Unterricht sinnvoller ist.
Es handelt sich NICHT um eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der zwei "sich ihre Bedürfnisse mitteilen", sondern um MEIN (des KL) Setting.
Ich mag diesen Begriff "auf Augenhöhe" nicht und verwende ihn auch nicht. Er ist sehr unklar! Es ist zwar so, dass ich die Bedürfnisse von Lehrer und Schüler als gleichberechtigt ansehe, aber natürlich übt der Lehrer Einfluss aus und hat Autorität aufgrund seines Wissensvorsprungs. Er führt den Unterricht, er leitet den Schüler an.
Im konfliktfreien Raum sind die Bedürfnisse im Klavierunterricht völlig klar: beide wollen am Klavierspiel arbeiten.
Wenn es Konflikte oder Probleme gibt, behindern diese in der Regel die gemeinsame Arbeit und deswegen haben solche Störungen Vorrang. Es geht dann darum, warum diese Störungen auftreten und immer sind unterschiedliche Bedürfnisse der Grund. Manchmal reicht es schon, diese Bedürfnisse zu klären und ihnen damit Raum zu geben. Es braucht nicht immer irgendeine Lösung. Und oft braucht das nicht viel Zeit, manchmal reicht ein einziger Satz.
Ein Mensch MUSS, damit er ein reifer, in einer Gesellschaft funktionierender, verantwortlicher Mensch werden kann, auch lernen, damit umzugehen, dass es Situationen gibt, in denen es NICHT um "seine Bedürfnisse" (was sind eigentlich die "Bedürfnisse" eines Pubertierenden?? Hm?) geht, sondern denen er sich unterordnen muss, und dass, wenn er das nicht will oder nicht kann, er nicht mehr Teil dieser Situation sein kann.
Da sind wir halt völlig anderer Meinung. Ich bin der Meinung, dass jemand, der seine Bedürfnisse kennt und sie äußern kann, sehr reflektiert mit sich und anderen umgeht. Was er sich zugesteht, gesteht er auch anderen zu. Er übernimmt Verantwortung und geht Problemen nicht aus dem Weg.
Ein Problem der "Schwarzen Pädagogik" war, dass Kinder niemals Gefühle und Bedürfnisse äußern durften, tatsächlich wurden ihnen Bedürfnisse sogar abgesprochen. Das Ergebnis war, dass sie keinen Kontakt mit ihren Gefühlen, ihrem Inneren hatten, dass diese Gefühle verdrängt wurden und im Erwachsenenalter in anderer Form (Krankheit, Depression....) herauskamen.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen wertschätzend, achtsam und freundlich miteinander umgehen. In der sie sich füreinander interessieren. In der es idealerweise (ich weiß, wie schwer das ist) keine Verlierer gibt. In der Menschen ihre Bedürfnisse artikulieren können und sollen. In der Menschen reflektieren, über sich nachdenken und andere nicht abwerten, sondern sie und ihre Beweggründe verstehen wollen.
Das sind hochgesteckte Ziele. Aber sie bestimmen die innere Haltung, mit der ich mir selbst und anderen Menschen begegne. Und sie bestimmen, wie ich mit mir und anderen Menschen kommuniziere. Da hilft das Gordon-Modell.
Mir ist wichtig, dass ich mich nach meinem inneren Wertekosmos richte. Ich habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie bestärken mich auf meinem Weg und in meiner Haltung. Ich habe im Unterricht noch nie erlebt, dass ich nicht ernst genommen wurde in meinem Bedürfnis nach intensiver Beschäftigung mit dem Klavierspielen und Musik. Ich habe aber auch das Bedürfnis, mit dem Schüler gemeinsam an einem Strang zu ziehen und ihn zu verstehen. Ich interessiere mich für ihn. Das kommt dem Unterricht und dem Klavierspiel des Schülers zugute.
Liebe Grüße
chiarina
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