Talent wird überbewertet

Natürlich ist Nietzsche nicht schuldig, aber er hat das Überlegenheitsgefühl des 'begabten' Menschen ('Übermensch') punktgenau beschrieben und dadurch - reduziert auf das Schlagwort - verstärkt. Er ist ja auch nicht 'schuld ' an Adolf dem Gernegroßen.
Thomas Mann übrigens hat in seiner Rede zu den Drei Großen Deutschen Frankreich und Deutschland etwa so - grob paraphrasiert aus dem Gedächtnis - verglichen:
Während in Frankreich große Geister wie die höchsten Gipfel in einer Gebirgskette wirkten sei es in Deutschland so, dass die Großen (für ihn waren das Luther, Bismarck und Goethe) wie Kolosse in der Ebene wirkten!
Da kann man schon Anfälle von Größenwahn bekommen, wenn man sich für die Nummer vier hält.
 
Thomas Mann wurde ja kalt ausgebürgert, als er mal auf Urlaub in der Schweiz war. Im Exil agierte er dann als personifiziertes Kulturdeutschland (als vierten Koloss). Die anderen Exilanten... Brecht, Weill, Einstein,... zählten irgendwie nicht. Diese Eitelkeit von Thomas Mann finde ich etwas befremdlich.
 
Das wäre schön, stimmt aber nur selten. Es gibt Talentierte, die für die Entwicklung ihres/r Talents/e zu passiv/faul sind.
Da ist nicht viel mit brennenden inneren Bedürfnissen.
Stand da auch:
So lernt der Talentierte die Disziplin, sonst wird es nichts.
Wann immer ich den Ausdruck ''Talent'' höre, denke ich an eine Szene aus der alten Gershwin-Biographie-Verfilmung, in der eine Gemeinschaftsunterkunft mit Etagenbetten bezogen wurde. Oscar Levant, der sich selbst spielte und unter Gershwin nächtigte, kommentiert das mit den Worten ''Talent schläft unten, Genie oben''.
 
Thomas Mann wurde ja kalt ausgebürgert, als er mal auf Urlaub in der Schweiz war. Im Exil agierte er dann als personifiziertes Kulturdeutschland (als vierten Koloss). Die anderen Exilanten... Brecht, Weill, Einstein,... zählten irgendwie nicht. Diese Eitelkeit von Thomas Mann finde ich etwas befremdlich.
Das stimmt so nicht.
Im Februar 1933 begab sich Mann auf Vortragsreise (über Wagner, der für ihn auch ein solcher Koloss wie Goethe oder Luther war) nach Amsterdam, Brüssel, Paris, danach Urlaub in der Schweiz. Wegen der angespannten Lage in Deutschland und der verlangten Treueerklärung zum Nazi-Regime, die er nicht leisten wollte, kehrte er im März nicht nach München zurück, sondern ging zunächst nach Frankreich und dann später ins erste Exil in der Schweiz bevor er 1938 nach Amerika ging. Nach Deutschland kehrte er in diesen ersten Jahren der Naziherrschaft deshalb nicht zurück, weil er Angst vor Verhaftung oder anderen Repressionen hatte, nicht weil er ausgebürgert war.
Ein Ausbürgerungsverfahren gegen ihn fand zunächst nicht statt, er wurde erst 1936 ausgebürgert.

Dass Einstein "irgendwie" nicht zählte, ist eine etwas gewagte Behauptung. Gerade er galt in den USA und weltweit als Bespiel des "guten" Deutschen, neben Thomas Mann.
Allerdings ist richtig, dass das Verhältnis von Thomas Mann und Albert Einstein nicht nur von Sympathie geprägt war und sie sich im Umgang mit Deutschland nicht immer einig waren.
 
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Dass Einstein "irgendwie" nicht zählte, ist eine etwas gewagte Behauptung. Gerade er galt in den USA und weltweit als Bespiel des "guten" Deutschen, neben Thomas Mann.
Dabei war er es, dem es gelungen war, nach dem ersten Weltkrieg durch aktive Bemühungen den deutschen Wissenschaftlern international die bis dahin verschlossenen Türen wieder zu öffnen. Die Behandlung durch die Nazis war somit purer Undank und ein Symbol dafür, dass Ideologie vor Leistung, Ansehen und Vernunft stand. Dieses Prinzip geistiger Einstellung und Entgleisung war und ist nicht nur eine Eigenschaft von Diktaturen, sondern auch von modernen Gesellschaften. Sieht man sich hier in unserem Land um, es wimmelt nur so davon.
 
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Mein Mann sagt dazu trocken: Interesse + Fleiß schlägt Talent. Immer.
Ich glaube, dass man sich gerade für die Dinge interessiert, die einem liegen (für die man Talent hat).

In einer Sache extrem gut werden zu wollen, obwohl sie einem nicht liegt und einen nicht interessiert, und massenhaft Fleiß da hineinzustecken, welchen Sinn sollte das haben? Außer Geld damit zu verdienen, klar. Aber bei einer Kunst oder Sportart, die man als Hobby betreibt, kann ich mir das nicht ernsthaft vorstellen.

lso würde man dir mit dem Kompliment "Sie haben aber fleißig geübt" eine größere Freude bereiten
Dieses Kompliment klingt irgendwie auch nicht sonderlich nett. Man kann es mit den Komplimenten einfach nicht richtig machen ;-).
 
Das passiert leicht, wenn man nur durch Talent, ohne Anstrengung, zu viel erreicht. Warum noch üben?
So dachte Artur Rubinstein - bis er merkte, dass die Leute alle Töne hören wollen und dass der Horowitz das drauf hatte und ihm "die Show stahl": da fing er dann (mit um die 40) erstmals an, ernsthaft zu üben.
So jedenfalls erzählt er das im ersten Band seiner Autobiografie.
 
Dabei war er es, dem es gelungen war, nach dem ersten Weltkrieg durch aktive Bemühungen den deutschen Wissenschaftlern international die bis dahin verschlossenen Türen wieder zu öffnen.
@Triangulum mussten da wirklich viele Türen geöffnet werden? So weit ich weiß, war das in den Geisteswissenschaften (allerlei Philologien, Historik, Kulturwissenschaften) nicht nötig, und in Sachen (Waffen)Technik profitierte man international von Krupp, Gruson & Co
 

Ich glaube, dass man sich gerade für die Dinge interessiert, die einem liegen (für die man Talent hat).
Ich habe den genau gegenteiligen Eindruck: Die Leute sind eher von etwas angezogen, wo sie ein Defizit verspüren. In 42 Jahren, in denen ich unterrichte, konnte ich immer wieder beobachten, wie "mittlere" Talente sich in Dinge eingefuchst haben, die großen anderen einfach zuflogen. Diese Überflieger haben sich dann teils auf völlig anderen Gebieten sehr fleißig betätigt, Gebiete, auf denen sie Widerstand erfuhren, Grenzen erleben durften - was sie sonst nie erfahren. Das können motorische Grenzen sein oder psychische oder oder. Diese Grenzen zu überwinden ist ein großer Anreiz, etwas intensiv zu verfolgen.
 
Diese Überflieger haben sich dann teils auf völlig anderen Gebieten sehr fleißig betätigt, Gebiete, auf denen sie Widerstand erfuhren, Grenzen erleben durften
Interessant! Hast Du dazu ein (anonymes) Beispiel?
Wie würdest Du einen Überflieger denn definieren, woran erkennt man den? (ich kenne bisher keinen...)
konnte ich immer wieder beobachten, wie "mittlere" Talente sich in Dinge eingefuchst haben
"Mittleres Talent" ist ja nicht "kein Talent", sondern heißt gerade, dass ausreichend Talent und Interesse vorhanden sind. Bei "talentfreien" Personen hätte mich das jetzt gewundert.
 
Interessant! Hast Du dazu ein (anonymes) Beispiel?
Wie würdest Du einen Überflieger denn definieren, woran erkennt man den? (ich kenne bisher keinen...)
Ein gewisser G (eindeutig hochbegabt) aus F., später in W. wohnhaft, wollte so gerne ein großer Naturwissenschaftler sein, hat auch viel geforscht und einiges entdeckt und veröffentlicht, fand aber nie auf diesem Gebiet die erhoffte große Anerkennung.
 
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Gutes Anti-Beispiel, um zu sehen, wie wichtig Handwerkszeug ist. JWG war aber auch nur so amateurhaft drauf wie heutige Amateurwissenschaftler: lieber eine eigene Farbenlehre zusammenspinnen als sich mit den schon damals bekannten vielgestaltigen Lichttheorien auseinandersetzen.

Amateurwissenschaftler werden heutzutage nur noch als Beobachter und Finder geschätzt. Was ich sagen kann: auf alle Fälle in der Astronomie. Ob etwa in der Botanik Hobby-Beobachtungen akzeptiert werden, weiß ich nicht.
 
Gutes Anti-Beispiel, um zu sehen, wie wichtig Handwerkszeug ist. JWG war aber auch nur so amateurhaft drauf wie heutige Amateurwissenschaftler: lieber eine eigene Farbenlehre zusammenspinnen als sich mit den schon damals bekannten vielgestaltigen Lichttheorien auseinandersetzen.
Auch hier hättest du dich etwas genauer mit der Sache befassen können, anstatt, um deine Terminologie zu benutzen, auf die Schnelle was "amateurhaft" "zusammenzuspinnen":

G war keineswegs "amateurhaft drauf" und hat sich durchaus ernsthaft, andauernd und auf hohem Niveau mit seinen jeweiligen Forschungsgegenständen befasst. Dabei ist ihm durchaus auch einiges gelungen, wie etwa die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen.
Was die Farbenlehre betrifft: er hat sich gründlich mit allen damals bekannten Theorien auseinandergesetzt, zahlreiche komplexe Experimente durchgeführt, dabei freilich alle Ergebnisse in seine Richtung gedeutet. Die teils sehr aggressive Ablehnung der Lehre Newtons war wohl vor allem weltanschaulich begründet. Es gibt, falls es dich interessiert, von Albrecht Schöne ein Buch, in dem dies alles gut dargestellt ist.
 
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Nabokov und Jünger waren beide keine Biologen, aber als "Hobbywissenschaftler" in Sachen Insekten (Käfer oder Schmetterlinge?) nicht ganz erfolglos.
 
Ja, klar, JWG war ein verkanntes Genie. Zu seiner Farbenlehre gibt ein netter Wikipedia-Artikel guten Aufschluss. Der Gingkobaum wurde hier vergessen.

Dass er Sachen wie genannten Zwischenkieferknochen entdeckt hatte, habe ich gar nicht herabgewürdigt; Entdeckungen gelingen auch heutigen Amateuren.

Das Schema "alle doof, ich nicht" zusammen mit Überschätzung der eigenen Lehre ist bei JWG erschütternd: wie kann man das eigene und derartig wirkmächtige, die Zeiten übergreifende literarische Schaffen so wenig schätzen?

das wäre so, als ob J. S. Bach sein Gedichtchen (wenn es denn überhaupt von ihm ist) auf einen Printzen über seine Matthäus-Passion gestellt haben würde...

Geplänkel...
 
Okay... ich frage spiegelbildlich: welchen nicht so wirklich in Musik studierten Leuten ist etwas Zeitloses gelungen?

Mir fällt nur ein Versicherungskaufmann ein. Wen gibt's noch so?
 

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