"Strukturelle Ambiguität" ?

  • Ersteller des Themas Ambros_Langleb
  • Erstellungsdatum

Ambros_Langleb

Ambros_Langleb

Dabei seit
19. Okt. 2009
Beiträge
10.181
Reaktionen
13.875
Strukturelle Ambiguität?

Ich möchte euch gerne eine Frage auftischen, die einen ganz eigennützigen Hintergrund hat: ich habe gerade das Vergnügen, Studies im Examenssemester einzubleuen, wie man grundlegende Techniken erkennt, die die Ästhetik eines literarischen Textes konstituieren. Eine davon ist, was man (weil Linguisten sich nicht einfach ausdrücken können) "struktuerelle Ambiguität" nennt. Beispiel:

Abend wird es wieder /
über Wald und Feld /
sinket Friede nieder /
und es ruht die Welt.


Hoffmann v. Fallersleben läßt dem Leser hier die Auswahl, "über Wald und Feld" entweder als lokale Bestimmung zum ersten oder zum dritten Vers aufzufassen - oder besser, er läßt ihm die Wahl nicht, sondern läßt es prinzipiell in der Schwebe.

Frage (zur Weitergabe an die paar musikinteressierten unter den obengenannten): gibt es so etwas in der Komposition auch - daß ein Motiv in seiner strukturellen Zuordnung zweideutig bleibt? Wie nennt man ggf. das Phänomen und könnt ihr mir vielleicht ein, zwei griffige Beispiele nennen?

Dank im Voraus und bitte um Entschuldigung, falls die Frage sich als dämlich herausstellen sollte.

Friedrich
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hm. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist, eine Melodielinie so zu führen, dass sich eine Tongruppe als ambig hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit entpuppt. Das einzige, was mir einfällt, ist, dass man vielleicht versuchen könnte, eine Note als gleichzeitig letzte Note einer Phrase und Autakt zu einer neuen zu betrachten.

Dafür gibt's das natürlich in der Harmonik tausendmal. Jede enharmonische Verwechslung, jede Umdeutung eines Akkordes zu einem anderen ist ja im Grunde genau sowas.

Und übrigens ist der Terminus "strukturelle Ambiguität" äußerst treffend. Diesem Schriftbild können zwei Sätze mit verschiedenen syntaktischen Strukturen zugeordnet werden, also ist es sinnvoll, das Schriftbild so zu nennen. Aussprechen würde man sie natürlich unterschiedlich.

EDIT:
Hoffmann v. Fallersleben läßt dem Leser hier die Auswahl, "über Wald und Feld" entweder als lokale Bestimmung zum ersten oder zum dritten Vers aufzufassen - oder besser, er läßt ihm die Wahl nicht, sondern läßt es prinzipiell in der Schwebe.

Also der Korrektheit halber, das stimmt nicht. Es muss eine lokale Bestimmung zum dritten Vers sein, sonst weist dieser nämlich eine unzulässige Wortstellung auf. Erststellung des finiten Verbs ist auch in der Dichtersprache im Deutschen nicht möglich.
Man hat einzig die Wahl, ob man es auch noch zum ersten Vers hinzudenken will.
Das stellt natürlich den Vorlesenden vor eine Frage: Soll er das Schriftbild imitieren und eine unsinnige Prosodie verwenden, oder soll er den zweiten Vers prosodisch nur dem dritten zuordnen?

EDIT2: Da hat wohl er geschrieben, während ich editiert habe...
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Hallo Friedrich,

Ich bin zwar kein Linguist, aber will mich trotzdem mal zu diesem Beispiel äußern.

Wenn die zweite Gedichtzeile als lokale Bestimmung zur ersten Zeile gelesen wird, dann ergibt die dritte keinen Sinn mehr:

Abend wird es wieder über Wald und Feld. Sinket Friede nieder, und es ruht die Welt.

Da müsste es dann schon heißen: Friede sinket nieder...
Oder es müsste am Ende eine Fragezeichen stehen ;) : Sinket Friede nieder, und es ruht die Welt?

Nein, um überhaupt grammatischen Sinn zu behalten, ist die zweite Zeile m.M.n. ausschließlich eine Bestimmung der dritten:

Abend wird es wieder; über Wald und Feld sinket Friede nieder, und es ruht die Welt.

Nur so ergibt jede Gedichtzeile einen Sinn im Ganzen. Die erste Zeile kommt ohne die zweite aus; die dritte kommt ohne die zweite NICHT aus. Es liegt also, nach meinem Verständnis, in diesem Textbeispiel gar keine Ambiguität vor.

Die Zweideutigkeit, die eigentlich gar keine ist, hat sich m.M.n. nur in unser Ohr geschlichen, weil man das bekannte Abendlied musikalisch als eine Zusammensetzung aus 2+2 Zeilen hört: die zweite Zeile hört mit einer ganzen Note (4 Schlag) auf und setzt somit eine musikalische Zäsur in die Mitte des Vierzeilers. Das Gedicht besteht aber inhaltlich aus 1+3 Zeilen (wenn auch das Reimmaß 2+2 ergibt).

Dass der "Flow" des Textes nicht immer auf's Melodiemaß passt, kommt zwar oft vor, aber deswegen ist der Text noch lange nicht "ambiguös".

Genauso würde ich vermuten, dass es in der Musik Phrasen und Übergänge gibt, die augenscheinlich nicht zugeordnet werden können, aber beim genaueren Hinsehen dann doch.

Meine 2 Cent!

Ciao,
Mark
 
Hallo Friedrich,

Die erste Zeile kommt ohne die zweite aus; die dritte kommt ohne die zweite NICHT aus.

Mark,

ich wünschte mir, wenigstens einer meiner Studies wäre auf diese Idee gekommen! Du hast soweit natürlich ganz recht, aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, daß wir es erstens mit Dichtersprache des frühen 19. Jh. zu tun haben und daß es zweitens einen Unterschied macht, ob man das Gedicht liest oder nur hört (letzteres hat in mir die Frage nach kompositiorischen Parallelen aufsteigen lassen).

Das Beispiel ist nicht übrigens von mir, es steht in den einschlägigen Sammlungen unter dem Stichwort "Pseudoapokoinu" (hihi).

Friedrich
 
Also der Korrektheit halber, das stimmt nicht. Es muss eine lokale Bestimmung zum dritten Vers sein, sonst weist dieser nämlich eine unzulässige Wortstellung auf. Erststellung des finiten Verbs ist auch in der Dichtersprache im Deutschen nicht möglich.

Da sollten wir den Respekt der Poeten vor der deutschen Syntax nicht überschätzen, z.B.

Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort ...

Aber es stimmt natürlich, wenn man den Text vor sich sieht und Zeit zur Textreflexion hat, ist die Ambiguität nur auf den ersten Blick eine. Aber beim Hören bekommt man doch zunächst eine falsche Zuordnung angeboten, die man nach dem 3. Verses revidieren muß (mein Gegenstand sind antike Texte, die *nur* gehört werden, fürs Rezitieren gibt es Sklaven).

Wenn euch etwas Ähnliches aus der Musik einfällt, bitte her damit.

Dank und Gruß,

Friedrich
 
Aber beim Hören bekommt man doch zunächst eine falsche Zuordnung angeboten

Das muss nicht sein; nur, wenn's der Mensch auch komisch vorliest.

Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort

Hm, daran hatte ich nicht gedacht... Obwohl ich das Gedicht sogar kenne. Ich denke mir da immer ein S' dazu, um zu verhindern, dass sich mir der sprachliche Magen umdreht. :D
Der Grund für meine unvorsichtige Aussage, dass sowas auch in der Dichtersprache nicht möglich sie, liegt darin, dass sich diese Konstruktion für mich irgendwie, scheint mir, deutlich schlechter anhört als etwas seltsam placierte Subjekte oder nachgestellte Adjektive, wie sie bisweilen vorkommen.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Was klingt denn an "Schläft ein Lied in allen Dingen" falsch? Oder anders gefragt, wie verdorben von grammatischen Überlegungen muss man seien, um das nicht mehr genießen zu können :D

lg marcus
 
Ich rede hier nicht von grammatischen Überlegungen, sondern von demselben Gefühl, das du hast, wenn ich schreibe "Gehe ich kaufen einen Hut roten morgen". Der Satz ist einfach nicht Deutsch.:rolleyes:

Verberststellung ist natürlich bei Konditionalen und Topic Drop (Sowas wie "Komme gleich") möglich, sowas kann hier aber nich vorliegen.

Sag' lieber was dazu, ob du das in musikalisch-motivischer Hinsicht für möglich hältst.;)
 
Kleines Cis, "verdorben von grammatischen Überlegungen" könnte man etwas netter auch als "übersteigerte Sensibilität" bezeichnen.

Machen wir eine Umfrage, wie viele Leute diese Zeile aus dem Eichendorff Gedicht für falsches Deutsch halten ;)

Zum eigentlichen Thema kann ich eigentlich gar nichts beitragen, zumal mir das mit der strukturellen Ambiguität nicht ganz klar ist.

lg marcus
 
Machen wir eine Umfrage, wie viele Leute diese Zeile aus dem Eichendorff Gedicht für falsches Deutsch halten

Dann rennen alle zum Duden, was genau nicht das ist, worum es geht. Vielmehr geht es um die intuitive Gefühlsreaktion auf einen so konstruierten Satz. Und die ist bei mir nun mal "Ungrammatisch!!!", und wäre es auch schon gewesen, als ich noch nicht mal wusste, was "ungrammatisch" heißt.

zumal mir das mit der strukturellen Ambiguität nicht ganz klar ist.

Die Idee ist halt, dass du eine Phrase hast, bei der nicht klar ist, welche strukturelle Position sie in einem Satz hat.

Ein Beispiel: "Peter hat den Mann mit dem Stock erschlagen." - Wer hatte den Stock, Peter oder der Mann? Das ist strukturelle Ambiguität innerhalb eines Satzes. Grundsätzlich ist das auch über Sätze hinweg möglich, aber im Deutschen ist es wegen der Verb-Zweitstellung schwierig, das zu machen, dass es wirklich das eine oder das andere sein kann, und nicht mindestens eines von beiden; wenigstens ohne zumindest Stilebenen zu brechen. Darum bin ich jetzt zu faul, mir ein Beispiel zu überlegen. :p
 
Wenn euch etwas Ähnliches aus der Musik einfällt, bitte her damit.

hallo,

eventuell als ähnlich könnte man die Verfahrensweise(n) der motivischen Verflechtung bei Wagner auffassen:
im gesamten Nibelungenring gibt es als eines der zentralen und immer wiederkehrenden "Themen" das Schicksals- oder Schicksalskunde-Motiv. Dieses ist auf den ersten Blick recht schlicht, es hat ja nur drei Töne (aber ok, es hat einen sehr eigenen düsteren Klang durch die unterlegten Harmonien)
nun lässt sich aber dieses einfache Dreitonmotiv als Bestandteil anderer Themen zeigen - da stellt sich die Frage: steckt es wirklich darin, oder ist es nur eine Andeutung, oder ist das zufällig?
ich habe die entsprechende Stelle unten angehängt und im Beispiel die relevanten Töne markiert - ob man im neuen Thema das Schicksalsmotiv hört oder nicht, ob man es hören soll oder nicht, muss (und soll laut Wagner) offen bleiben ("Kunst des Übergangs")

das Faszinierende an diesem Beispiel:
- es hat nur sehr wenig Töne (!!!)
- es hat eine radikal neue Harmonik
- es stellt Bezüge her, die sich dem ersten Hören nicht erschließen (denn im neuen Thema wird das integrierte Schicksalsmoti nicht isoliert vorgestellt!)
- es bleibt offen, ob man ein Zitat hört oder nicht
(selbstredend lebt die traurige Stimmung des neuen Themas von diesem Zitat, aber es wird klanglich so genial verborgen, dass man es erst wahrnimmt, wenn man es weiss... hier darf man ja nicht übersehen, dass Wagner einen Melodiebogen über das neue Thema setzt, es also als einen in sich geschlossenen musikalischen Gedanken darbietet in welchem das integrierte andere Motiv nicht hervorgehoben werden soll)

Gruß, Rolf
 

Anhänge

  • Walküre Schicksalsmotiv.jpg
    Walküre Schicksalsmotiv.jpg
    108,4 KB · Aufrufe: 23
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:

Hallo,

Nochmal kurz zu Eichendorffs Wünschelrute:

Ich weiß nicht genau, ob zwischen zweiter und dritter Zeile ein Komma oder ein Punkt steht (habe im Internet beides gefunden).

Wenn dort ein Komma steht, dann kann man es grammatisch-stimmig als einen Konditionalsatz deuten, indem man sich zur letzten Zeile ein "dann" dazudenkt:

... DANN triffst du nur das Zauberwort.
bzw.
... nur DANN triffst du das Zauberwort.

Das ist dieselbe Konstruktion wie z.B. der Konditionalsatz, "Schneit es, setze ich die Mütze auf" - und ist völlig legitim.

Wenn aber zwischen zweiter und dritter Zeile der Wünschelrute ein Punkt steht, ist das natürlich eine grammatische Katastrophe... :rolleyes:

Ciao,
Mark
 
Hallo,
mir fallen zu Deiner Frage auch noch zwei Beispiele ein:

1. Im Werk Schumanns spielt das Moment der harmonischen Unschärfe eine wesentliche Rolle. Gerade in seinen Liedern (besonders wegen der Textvertonungen für den Germanisten interessant) setzt er das Mittel der harmonischen Verunklarung, des Changierens zwischen den Tonarten bewusst zur Textausdeutung ein. Oft ist das tonale Gefüge ein vieldeutiges: der Grundtonart, wird ausgewichen noch bevor sie erreicht ist oder sie wird kurzerhand wiederum zur Dominante einer anderen Tonart erklärt.
Dies sind typische Beispiele für die romantische Entgrenzung: ein nicht Beginnen und nicht Enden.
Als konkrete Beispiele fallen mir aus der Dichterliebe: "Im wunderschönen Monat Mai" und "Am leuchtenden Sommermorgen" ein.

Beispiel 1
Beispiel 2

Wenn Dich das interessiert, hole ich dazu gern noch ein wenig weiter aus.

2. Auch in den Werken Schuberts findet sich das Changieren zwischen den Tonarten als ein Mittel zum Wechsel zwischen Empfindungswelten. Er arbeitet dazu oft mit einem "technisch" leicht nachvollziehbaren Element:
Ein Dominantseptakkord wird enharmonisch verwechselt als verkürzter Doppeldominant- oder Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quinte umgedeutet. Dieser Akkord erhält seine Zugehörigkeit erst aus dem Kontext, in dem er steht und ist somit mehrdeutig (für den Hörer, für den kundigen Leser ist er in der Regel eindeutig.)

Beste Grüße
Claudius
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
@Rolf und PianoAktiv

Vielen Dank für Eure interessanten Antworten. Rolfs Beispiel ist
natürlich komplexer und subtiler, als das, was ich im Kopf hatte.

PianoAktiv - wenn es Dir keine Mühe macht, wäre ich (wohl auch andere
Mitleser) für weiteren Aufschluß sehr dankbar, denn ich bin mir nicht
sicher, ob ich genau verstanden habe, was Du meinst (und kann im Moment
leider auch nicht darüber nachdenken, weil ich gleich noch einen
bürokratischen Termin und deswegen eine übellaunige Denkblockade habe :().

Besten Dank einstweilen an Euch beide.

@Klimperer

Danke für Deine Anmerkungen zur Syntax; aber darüber sollten wir vielleicht in den nächsten Tagen noch mal reden, falls Du magst :)

Friedrich
 

Zurück
Top Bottom