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Gomez de Riquet
Guest
[...] Ich finde es sehr schade, dass Du darüber nicht weiter öffentlich schreiben willst,
denn mich würde die Antwort auch interessieren [...]
Liebe Orange,
für die Diskussion über Wagner, deren Konfliktträchtigkeit mich davon abhielt, sie in
dem Umfragethread „Mögt Ihr Oper?“ weiterzuverfolgen, bietet sich ein eigener Faden an:
Im kommenden „Dramatikerjahr“ wird des 200.Geburtstags von Richard Wagner, Giuseppe Verdi,
Georg Büchner und Friedrich Hebbel gedacht (wenn's nach mir ginge, könnte man sich auf Büchner
und Hebbel beschränken; Wagner und Verdi müssen nicht gerade der Vergessenheit entrissen werden,
aber egal...). Ich eröffne den Reigen der Gratulationsbeiträge mit dem beanstandeten Satz
Wagner war ein Eklektiker, und die musikalischen und musikdramatischen Quellen,
aus denen er seine Anregungen bezogen hat, sind hinlänglich bekannt.
und äußere mich dazu wie folgt:
Das Befremden, das der Begriff hervorgerufen hat, beruht m.E. auf einem Mißverständnis.
Der Begriff „Eklektiker“ enthält keine Wertung und sagt nichts über das kompositorische Niveau
aus. Es gibt Komponisten höchsten Ranges, die als Eklektiker zu ihrem Metier gefunden haben.
Das prominenteste Beispiel dürfte W.A.Mozart sein, dessen Musiksprache sich aus der Adaption
verschiedener Kompositionsstile (Johann Christian Bach, Michael Haydn, Josef Mysliveček et al.)
entwickelt hat. Mozart ist auch das beste Beispiel, wieviel Erfindungskraft ein gereifter Komponist
aus der Assimilation unterschiedlicher musikalischer Sprechweisen bezieht; das gilt für vorallem
für seine Opern, aber auch für die späten Klavierkonzerte und die c-Moll-Messe.
Umgekehrt bietet Innovation keine Garantie für musikalische Qualität (was die „Innovation“
betrifft: Ich kann das Wort nicht mehr hören; kein phrasendreschender Politiker verzichtet darauf;
aber es ist nun mal in die Diskussion hineingebracht worden). Jacopo Peri oder Emilio de' Cavalieri
waren zu ihrer Zeit sicherlich sehr innovativ. Aber der Zumutung, „Euridice“ oder „Rappresentazione
di Anima e di Corpo“ in voller Länge anzuhören, werden sich heute nur Hardcore-Liebhaber des
Frühbarock aussetzen.
Glenn Gould schrieb:„Der Prozeß der historischen Auslese ist bekanntermaßen unempfindlich dagegen,
wer zuerst wohin gelangte, aber hat sehr damit zu tun, wer was mit der größten Empfindlichkeit getan hat.“
Glenn Gould: Boulez, aus: Von Bach bis Boulez, Schriften zur Musik I, S. 318
Hrsg.: Tim Page, Übers.: Hans-Joachim Metzger, München/Zürich 1986
Damit kommen wir zu Wagner, dessen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums an Molière erinnert
(Molière: „Je prends mon bien où je le trouve“) und der sich aus der Aneignung bestimmter
harmonischer und melodischer Eigentümlichkeiten, Satztechniken, Form- und Klangideen
von Beethoven, Mendelssohn, Meyerbeer, Spontini, Spohr, Weber, Marschner, Berlioz
und vorallem natürlich Liszt seinen Personalstil zusammengezimmert hat – wobei man hinzufügen muß,
daß er die zusammengeborgten Ideen weiterentwickelt. Musterbeispiel ist der Tristan-Akkord
nebst Auflösung: Alle bei Kurth und sonstwo aufgelisteten Vorbilder, der zweite Satz aus Mozarts KV428,
der erste Satz aus Beethovens op.31-3, Schumanns Phantasie op.17, vorallem Spohrs Romanze aus
„Der Alchymist“ (vermutlich Wagners direkte Quelle) sind dem Tristan-Modell ähnlich und weichen doch
stimmführungstechnisch davon ab. Die Besonderheit liegt aber nicht in dem isolierten Akkord,
sondern in Wagners Kunst der Stimmführung.
Wagners Fähigkeit, aus isolierten musikalischen Elementen einen kohärenten Personalstil
zu entwickeln, findet in „Tristan und Isolde“ ihre Grenze: Die Tristan-Harmonik bleibt in
Wagners Schaffen selbst ein isoliertes Phänomen. Im dritten Akt des „Siegfried“ und in der
„Götterdämmerung“ dominiert über weite Strecken Dur-/Molltonalität, in den „Meistersingern“
sogar reine Diatonik. Erst im „Parsifal“ knüpft Wagner wieder an die Idee einer nicht von Kadenzharmonik
geprägten Musik an. Wenn man dem Bericht Glauben schenken darf, daß Wagner den späten
quasi-atonalen Klavierstücken Liszts verständnislos gegenüberstand, also einer Klangwelt,
an deren Entstehung er mit „Tristan“ und „Parsifal“ selbst beteiligt war, dann wäre dies
ein interessanter Beleg dafür, daß das Vermeiden oder Hinauszögern kadenzierender Abschlüsse
in den genannten Stücken für Wagner ein zweckgebundenes Ausdrucksmittel gewesen ist,
rein von der Bühnenhandlung, nicht innermusikalisch motiviert.
Habe ich etwas zur Klärung beitragen können?
Herzliche Grüße,
Gomez
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