Regionale Unterschiede des Klavierspielens

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Liebe Forianer,

beim Lesen eines anderen Fadens habe ich mir die Frage gestellt, in wie weit und ob überhaupt regionale Einflüsse (ich will nicht "nationale" schreiben, weil das in Deutschland einfach unschön klingt) den Ausdruck am Klavier mitbestimmen. Am geläufigsten sind wohl die Begriffe "russische Schule" und "französische Schule". Aber was ist da dran/drin? Gibt es auch eine originäre chinesische, eine deutsche, argentinische, portugiesische etc. Schule und -wenn- worin unterscheiden die sich? Rühren die Unterschiede von den in den Ländern wirksamen, einflussreichen Komponisten her, oder von vereinzelten pädagogisch-pianistischen Lichgestalten wie Neuhaus, Cortot ...? Kann man eine Parallele zur Kunstgeschichte der Malerei und ihren regionalen Diversitäten ziehen? Andere Länder, andere Sitten? Oder doch alles ganz individuell und zufällig?

LG, Sesam
 
Rühren die Unterschiede von den in den Ländern wirksamen, einflussreichen Komponisten her
oder von vereinzelten pädagogisch-pianistischen Lichgestalten wie Neuhaus, Cortot ...?
Kann man eine Parallele zur Kunstgeschichte der Malerei und ihren regionalen Diversitäten ziehen?

Guten Abend, Sesam!

Wenn Du Parallelen zur Malerei ziehst, müßte man zunächst von den Komponisten sprechen -
sofern sie nicht auch in Personalunion Klaviervirtuosen gewesen sind.

Es fällt auf, daß im deutschsprachigen Raum der Typus des komponierenden Klaviervirtuosen
eher die Ausnahme als die Regel gewesen ist. Liszt und Busoni entfallen - man kann sie nicht
singulär der deutschsprachigen Kultur zurechnen. Schubert ist in seiner Zurückgezogenheit
völlig exterritorial, bleiben also Schumann und Brahms als zwei Musiker, die für den
solistischen Eigenbedarf komponiert haben.

Dem steht im romanischen Milieu eine Fülle von "Singer/Songwritern" gegenüber: Chopin,
Alkan, Saint-Saens, Fauré, Debussy, Ravel, Albeniz, Granados. Und erst im slawischen Raum:
Chopin, Szymanowsky, Rubinstein, Medtner, Skrjabin, Rachmaninow, Prokofieff, Strawinsky.
Vermutlich habe ich noch die Hälfte vergessen.

Dieser Bilanz entspricht ein beliebtes Vorurteil, das da lautet:
Die Deutschen machen Musik auf dem Klavier, die Franzosen und Russen dagegen
für das Klavier. Man sehe sich unter diesem Aspekt die Klaviermusik
Schönbergs oder Hindemiths an, um das Vorurteil bestätigt zu finden.

Inwiefern dieses Vorurteil auch von der Klavierpädagogik bestätigt wird,
dazu müssen sich berufenere Geister äußern - pppetc oder Rolf zum Beispiel.

Viele Grüße,

Gomez
 
Guten Abend, Sesam!

Wenn Du Parallelen zur Malerei ziehst, müßte man zunächst von den Komponisten sprechen -
sofern sie nicht auch in Personalunion Klaviervirtuosen gewesen sind.

Es fällt auf, daß im deutschsprachigen Raum der Typus des komponierenden Klaviervirtuosen
eher die Ausnahme als die Regel gewesen ist. Liszt und Busoni entfallen - man kann sie nicht
singulär der deutschsprachigen Kultur zurechnen. Schubert ist in seiner Zurückgezogenheit
völlig exterritorial, bleiben also Schumann und Brahms als zwei Musiker, die für den
solistischen Eigenbedarf komponiert haben.

Dem steht im romanischen Milieu eine Fülle von "Singer/Songwritern" gegenüber: Chopin,
Alkan, Saint-Saens, Fauré, Debussy, Ravel, Albeniz, Granados. Und erst im slawischen Raum:
Chopin, Szymanowsky, Rubinstein, Medtner, Skrjabin, Rachmaninow, Prokofieff, Strawinsky.
Vermutlich habe ich noch die Hälfte vergessen.

Dieser Bilanz entspricht ein beliebtes Vorurteil, das da lautet:
Die Deutschen machen Musik auf dem Klavier, die Franzosen und Russen dagegen
für das Klavier. Man sehe sich unter diesem Aspekt die Klaviermusik
Schönbergs oder Hindemiths an, um das Vorurteil bestätigt zu finden.

Inwiefern dieses Vorurteil auch von der Klavierpädagogik bestätigt wird,
dazu müssen sich berufenere Geister äußern - pppetc oder Rolf zum Beispiel.

Viele Grüße,

Gomez

Gomez wunderbar beschrieben , ich bin jetzt wirklich gespannt was kommt !
 
(1)
Gomez wunderbar beschrieben ,
(1)
ich bin jetzt wirklich gespannt was kommt !

(1)
absolute Zustimmung!!!

(2)
von mir kommt da nix (und die Gründe zähle ich nicht auf, denn sie würden zu mannigfaltigen Buhuhus führen)
 
von mir kommt da nix (und die Gründe zähle ich nicht auf, denn sie würden zu mannigfaltigen Buhuhus führen)

Lieber Rolf,

meinst du vielleicht Folgendes :D:

alle Russen und Asiaten sind viiiiiiiiiiiel fleissiger als die Deutschen (Anwesende selbstredend ausgeschlossen und Ausnahmen gibt es immer wieder :p ) . Sie arbeiten hart, und besonders die russische Schule ist für ihre Klangschönheit bekannt. Es gibt auch Parallelen zum Eiskunstlauf, wie ich finde, bei dem die russischen Läufer unglaublich ausdrucksvoll tanzen.

Insofern sind schon die Grundlagen erheblich anders als hier in Deutschland. In Russland ist auch die Tradition in den künstlerischen Fächern eine andere. Sorell hat mal darüber etwas geschrieben, dass die musikalische Grundausbildung dort eine ganz andere ist als hier.

Ich bin mir sicher, dass unterschiedliche Bedingungen in der Lebensweise auch den Umgang mit Musik und Kunst prägen. In Asien gibt es ja unzählige hervorragende Pianisten, die technisch hervorragend ausgebildet sind, denen aber oft etwas im Verständnis der westlichen Musik fehlt. Ich weiß nicht, wie es in Frankreich ist - da kann Destenay uns sicher mehr sagen. Ich kenne z.B. auch kaum englische oder spanische Pianisten. Eine meiner Professorinnen, selbst Halbspanierin, sagte mir mal, sie würde immer Heimweh nach Spanien haben, aber nie dort arbeiten wollen, weil die Spanier eine solch katastrophale Arbeitseinstellung hätten ... .

Liebe Grüße

chiarina
 
Dieser Bilanz entspricht ein beliebtes Vorurteil, das da lautet:
Die Deutschen machen Musik auf dem Klavier, die Franzosen und Russen dagegen
für das Klavier. Man sehe sich unter diesem Aspekt die Klaviermusik
Schönbergs oder Hindemiths an, um das Vorurteil bestätigt zu finden.

Man kann's auch so rum sehen: Die Franzmänner und Russkis machen sich's leicht und schreiben Mucke, die auf'm Klavier leicht geht und sich quasi auf'm Klavier "anbietet". Die Deutschen hingegen schreiben Musik, für die man ein ECHT guter Musiker sein muß, um sie gut zum Klingen zu bringen! Nichts für ausländische Warmduscher! :cool:

LG,
Hasenbein
 
Klavierschulen

Hallo Sesam,

Deine Frage wird in Daniel Barenboims Buch "Die Musik - mein Leben" relativ ausführlich behandelt.
Meine Ausgabe: Ullstein Verlag, 2. Auflage 2002. Die betreffenden Seiten ab S.88, etwa 3 Seiten. - Es ist mir zuviel zum Abtippen.

In Kürze, einigermaßen wörtlich mit Auslassungen:

"Es hat verschiedene Klavierschulen gegeben. Es gab die sog. deutsche Schule, die im hohen Maße von Theodor Leschetizki geprägt wurde. .... Artur Schnabel, Edwin Fischer, Wilhelm Backhaus, Walter Gieseking und Wilhelm Kempff ...
Dann gab es die berühmte russische Schule ... Emil Gilels, Swjatoslaw Richter, Sergei Rachmaninow, Wladimir Horowitz ...
Eine französische Schule ... Alfred Cortot, Qves Nat ...
Die große italienische Schule .... Ferruccio Busoni, Arturo Benedetti Michelangeli, Maurizio Pollini.

Jede dieser Schulen hatte in gewisser Weise eine Verbindung zu Liszt. Keine wäre ohne diese großväterliche Person möglich gewesen."

Barenboim versucht dann, diese Schulen in ihrer Spielweise zu charakterisieren und geht den vermutlichen Hintergründen dieser Spielweisen nach.

Dass in der Sowjetunion sich der typische romantische Interpretationsstil länger hielt als im Westen, führt Barenboim auf die Isolation der großen russischen Talente während der Existenz der großen Machtblöcke und auf das Bedürfnis der Leute im Osten zurück, ihren ganzen Frust über die misslichen Lebensumstände in ihr Spiel einfließen zu lassen.

Barenboims Interesse an der Weltpolitik und ihre Auswirkungen auch auf die Ausübung von Musik finde ich sehr gut und bemerkenswert, auch seine Ausführungen als argentinischer Jude über Israel und den nahen Osten, über die Öffnung des Ostens und über die Wiedervereinigung Deutschlands habe ich mit hohem Interesse gelesen.

So viel zu diesem Thema.

Liebe Grüße

Walter
 
die verschiedenen Schulen

Weisen des Klavierspiels im 20. Jahrhundert
Dieser Artikel ist entstanden als Antwort an Frank Georg Bechyna Panthéon der Pianisten vom 29. August 2008. Manfred Voss ('Zelenka') war in diesem Forum im Juli 2007 mit einem Aufsehen erregenden Beitrag zu Schuberts B-Dur Sonate D 960 hervorgetreten, dem später weitere Beiträge etwa zu Beethovens 4. Klavierkonzert oder Albéniz Iberia in Das Klassikforum folgten. Manfred Voss ist im Alter von 53 Jahren am 12. August 2008 gestorben.

Lieber Frank,

zunächst ein Wort zur Widmung an ‚Zelenka', der ich mich mit dieser Antwort anschließen möchte. Es gibt offenbar im Internet noch keine Form, wie Gestorbenen gedacht wird. Die meisten sind so jung, dass niemand ernsthaft an den Tod denkt. Und wer hat nicht hin und wieder darüber nachgedacht, sich für längere Zeit oder ganz aus einem Forum zurückzuziehen? Die Internet-Kommunikation verursacht mit ihrer Mischung aus Anonymität und künstlich wirkender Aufgeregtheit auf Dauer immer ein Gefühl innerer Leere. Andere schreiben unter mehreren Namen und geben vielleicht den einen oder anderen wieder auf. ‚Zelenka's Avatar im "Klassikforum" zeigt keinen schwarzen Streifen oder sonstigen Hinweis auf den Tod. Virtuelle Personen kennen weder Leben noch Tod.

Die von Dir gewählte Widmung scheint mir da eine geeignete Form. Leider habe ich ‚Zelenka' nicht persönlich kennen lernen können. Die Nachricht von seinem Tod kam völlig überraschend und wie ein Schock. Er hatte eine so direkte, offene und geradezu anregende Sprache, dass es schwer fällt, über seinen Tod hinwegzukommen.

Zusammenstellungen großer Komponisten oder Interpreten sind entweder Marktanalysen, wer sich wie gut verkaufen lässt, "wen man kennen und im CD-Schrank haben muss", oder zeigen eher das subjektive Hörprofil als eine objektive Bewertung. Zweifellos hätte ich die Liste ein wenig anders zusammengestellt. Wir sprachen über Busoni und Gould. Aber ich nehme sie als Anregung, etliche Pianisten und Aufnahmen zu entdecken, die mir bisher unbekannt sind.

Mich interessiert besonders, welche Beziehungen es zwischen den einzelnen Interpreten gab. Ein wichtiger Aspekt sind sicher die Prägungen durch den gemeinsamen Unterricht an den großen Pianistenschulen, in denen Traditionen gebildet werden und Generationen einander kennen lernten und aufbrachen, einen neuen Stil in die Welt zu tragen und durchzusetzen.

Das wichtigste Beispiel ist die russische und später sowjetische Pianistenschule. Adolph von Henselt (1814-1889) ging 1838 nach Russland und lehrte dort mehr als 50 Jahre, unter seinen Schülern waren Glinka, Balakirew, Anton Rubinstein. Als sich in Westeuropa die bis heute herrschende (Un)kultur der Reise-Stars herausbildete, ergriff er die einmalige Chance, in eine Umgebung zu kommen, wo alles reif war, den Boden zu bereiten für einen neuen kulturellen Ausdruck, und diesen von Grund auf zu gestalten.

Zu seinen Schülern und Mitstreitern zählte Theodor Leszetycki (1830 - 1915), der aus Wien gekommen war und dort bereits bei Czerny und Sechter gelernt hatte. Zu dessen Schülern gehörten A. Schnabel, I. Paderewski, E. Ney, I. Friedmann. Rachmaninov und Skrjabin waren wiederum "Enkelschüler" von Henselt. Alle diese Namen sprechen für sich. Vergegenwärtigt man sich weiter, welche Musik in dieser Zeit Strawinsky und Prokofjew in Russland komponierten, ist die einzigartige Mischung von deutschen, österreichischen und archaisch russischen Einflüssen erkennbar.

Entgegen manchen Erwartungen erlebte diese Schule nach der Oktoberrevolution einen weiteren Aufschwung. Im Mittelpunkt stand Heinrich Neuhaus (1888-1964), in Jelisawetgrad geboren (mit Vorfahren aus dem Rheinland, Kalkar). Er war in Wien Meisterschüler bei Leopold Godowski und folgte 1922 einer Berufung nach Moskau, wo er bis zu seinem Tode am Tschaikowski-Konservatorium lehrte und in vier Jahrzehnten den weltweiten Ruf der sowjetischen Pianistenschule begründete. Igor Schukow hat bei seinen Meisterkonzerten in Heidelberg immer ein Transparent von Neuhaus aufgehängt. Er galt als der Jüngste seiner großen Schüler. Nach wie vor ist geradezu unvorstellbar, welche unerschöpfliche Fülle von großen Künstlern hier aufgewachsen ist, trotz Stalinismus und weitgehend abgeschnitten von westlichen Einflüssen. Welcher westeuropäische oder amerikanische Schüler ging nach Moskau oder Leningrad? So hat sich diese Schule bis zum Tod von Neuhaus ihre Einzigartigkeit bewahrt.



Heinrich Neuhaus in den 1930ern, Quelle

Da verblasst ein wenig die deutsche Pianistenschule im Berlin der Zwischenkriegsjahre mit den maßgeblichen Lehrern Busoni und Edwin Fischer (Claudio Arrau, Wilhelm Backhaus, Eduard Erdmann, Walter Gieseking, Arthur Schnabel, u.a.).

Ein echtes Gegengewicht war aber der neue französische Stil, der von zahlreichen Abtrünnigen des Pariser Conservatoire um 1910 geschaffen wurde, auch wenn sie später ihrerseits das Conservatoire dominierten. Sie hatten etwas völlig Neues zu sagen und konnten sich auf die Kraft und den Zusammenhalt einer großen Gemeinschaft verlassen, die von überall aus Frankreich in Paris zusammengeströmt war und ständig neue Bereicherung aus ganz Europa erfuhr.

Nur wenige Jahre und doch zugleich Welten trennen Lazare Lévy (1882 - 1964) und Alfred Cortot (1877 - 1962). Cortot war begeistert von Wagner, pflegte wie sein Vorbild sehr eigenwillige Interpretationen fern von strenger Werktreue und ließ sich während der deutschen Besatzung auf Kollaboration mit dem Vichy-Regime ein. Lazare Lévy war schon zu Studienzeiten mit Ravel und Casella befreundet, entdeckt Schubert und Scriabin für Frankreich, und musste während der deutschen Besatzung untertauchen (sein Sohn war in der Resistance und wurde in Auschwitz ermordet). Er hat nicht nur eine ganze Generation zwischen den Weltkriegen geprägt. Nach 1945 zählte auch John Cage zu seinen Schülern.



Marguerite Long (1874 - 1964), CD-Cover, Quelle

Halb Europa war wie magisch angezogen, insbesondere Italiener und Spanier, und zunehmend Amerikaner (die Generation von Edgar Varese und Aaron Copland hat sich in Paris entscheidende Anregungen geholt). Auffallend die große Zahl von Pianistinnen in Frankreich, nicht nur Marguerite Long, Nadja Boulanger, Monique Haas, Clara Haskil, Youra Guller, Marcelle Meyer. Bei Tahra ist kürzlich eine Doppel-CD erschienen, die auch Aimèe-Marie Roger-Miclos, Marie Panthes, Madeleine von Valmalette und Agnelle Bundervoet vorstellt. Sie gaben den musikalischen Salons einen besonderen Glanz. Zugleich spürten sie stärker als andere die Zerbrechlichkeit dieser Kultur. Viele von ihnen litten unter langen Phasen der Selbstzweifel und verschiedener Krankheiten.

Welche vergleichbaren Entwicklungen gibt es seit 1945? Ich sehe im Moment zum einen eine Reihe von Pianisten, die sich den avantgardistischen Werken von Cage, Nancarrow, Ligeti oder der Serialisten verschrieben haben, groß geworden in den Zentren und Festivals der Neuen Musik wie Köln, Paris, Darmstadt, und diesen Stil auch in eine neue Interpretation der klassischen Werke hineintragen wollten. Sie wurden überwiegend bei Wergo veröffentlicht (Alfons und Aloys Kontarsky, Volker Banfield, Herbert Henck, Siegfried Mauser, u.a.). In diese Gruppe würde ich im weiteren Sinn auch Gould und Bruno Canino zählen. Lassen wir auch das Cembalo gelten, dann gehört Elisabeth Chojnacka hierher. Zum anderen Pianisten, die sich den Einflüssen aus dem Jazz und anderer Richtungen der Unterhaltungsmusik öffnen, so z.B. Samson Francais, Weissenberg, Gulda und in neuerer Zeit Fazil Say. Wer allerdings hört, wie bereits Prokofjew seine eigene Toccata und Auszüge aus den "Bildern einer Ausstellung" spielte, dem klingt vieles davon wie kalter Kaffee.

Was mir noch fehlt ist eine Richtung, die Musik in der Weise neu fließen und aufklingen zu lassen, wie es etwa den Dirigenten Celibidache und Marthé gelingt, oder unter den Komponisten Arvo Pärt. Wahrscheinlich würden sie auch den ganzen Kanon der Klaviermusik neu durchdenken. Immer wenn ich neue Pianisten höre, hoffe ich, dass so etwas begonnen wird. Immerhin hätten sie in Sofronitsky ein großes Vorbild, der bisher aber recht isoliert im Panthéon der Pianisten bleibt. Ein wenig von solchen möglichen Klängen war von Anna Vinnitskaya zu hören, etwa ihre Interpretation des "Le Gibet" aus Ravels "Gaspard



Cordialement

Destenat
 

die Klavier Schulen

Mich interessiert besonders, welche Beziehungen es zwischen den einzelnen Interpreten gab. Ein wichtiger Aspekt sind sicher die Prägungen durch den gemeinsamen Unterricht an den großen Pianistenschulen, in denen Traditionen gebildet werden und Generationen einander kennen lernten und aufbrachen, einen neuen Stil in die Welt zu tragen und durchzusetzen.

Das wichtigste Beispiel ist die russische und später sowjetische Pianistenschule. Adolph von Henselt (1814-1889) ging 1838 nach Russland und lehrte dort mehr als 50 Jahre, unter seinen Schülern waren Glinka, Balakirew, Anton Rubinstein. Als sich in Westeuropa die bis heute herrschende (Un)kultur der Reise-Stars herausbildete, ergriff er die einmalige Chance, in eine Umgebung zu kommen, wo alles reif war, den Boden zu bereiten für einen neuen kulturellen Ausdruck, und diesen von Grund auf zu gestalten.

Zu seinen Schülern und Mitstreitern zählte Theodor Leszetycki (1830 - 1915), der aus Wien gekommen war und dort bereits bei Czerny und Sechter gelernt hatte. Zu dessen Schülern gehörten A. Schnabel, I. Paderewski, E. Ney, I. Friedmann. Rachmaninov und Skrjabin waren wiederum "Enkelschüler" von Henselt. Alle diese Namen sprechen für sich. Vergegenwärtigt man sich weiter, welche Musik in dieser Zeit Strawinsky und Prokofjew in Russland komponierten, ist die einzigartige Mischung von deutschen, österreichischen und archaisch russischen Einflüssen erkennbar.

Entgegen manchen Erwartungen erlebte diese Schule nach der Oktoberrevolution einen weiteren Aufschwung. Im Mittelpunkt stand Heinrich Neuhaus (1888-1964), in Jelisawetgrad geboren (mit Vorfahren aus dem Rheinland, Kalkar). Er war in Wien Meisterschüler bei Leopold Godowski und folgte 1922 einer Berufung nach Moskau, wo er bis zu seinem Tode am Tschaikowski-Konservatorium lehrte und in vier Jahrzehnten den weltweiten Ruf der sowjetischen Pianistenschule begründete. Igor Schukow hat bei seinen Meisterkonzerten in Heidelberg immer ein Transparent von Neuhaus aufgehängt. Er galt als der Jüngste seiner großen Schüler. Nach wie vor ist geradezu unvorstellbar, welche unerschöpfliche Fülle von großen Künstlern hier aufgewachsen ist, trotz Stalinismus und weitgehend abgeschnitten von westlichen Einflüssen. Welcher westeuropäische oder amerikanische Schüler ging nach Moskau oder Leningrad? So hat sich diese Schule bis zum Tod von Neuhaus ihre Einzigartigkeit bewahrt.



Heinrich Neuhaus in den 1930ern, Quelle

Da verblasst ein wenig die deutsche Pianistenschule im Berlin der Zwischenkriegsjahre mit den maßgeblichen Lehrern Busoni und Edwin Fischer (Claudio Arrau, Wilhelm Backhaus, Eduard Erdmann, Walter Gieseking, Arthur Schnabel, u.a.).

Ein echtes Gegengewicht war aber der neue französische Stil, der von zahlreichen Abtrünnigen des Pariser Conservatoire um 1910 geschaffen wurde, auch wenn sie später ihrerseits das Conservatoire dominierten. Sie hatten etwas völlig Neues zu sagen und konnten sich auf die Kraft und den Zusammenhalt einer großen Gemeinschaft verlassen, die von überall aus Frankreich in Paris zusammengeströmt war und ständig neue Bereicherung aus ganz Europa erfuhr.

Nur wenige Jahre und doch zugleich Welten trennen Lazare Lévy (1882 - 1964) und Alfred Cortot (1877 - 1962). Cortot war begeistert von Wagner, pflegte wie sein Vorbild sehr eigenwillige Interpretationen fern von strenger Werktreue und ließ sich während der deutschen Besatzung auf Kollaboration mit dem Vichy-Regime ein. Lazare Lévy war schon zu Studienzeiten mit Ravel und Casella befreundet, entdeckt Schubert und Scriabin für Frankreich, und musste während der deutschen Besatzung untertauchen (sein Sohn war in der Resistance und wurde in Auschwitz ermordet). Er hat nicht nur eine ganze Generation zwischen den Weltkriegen geprägt. Nach 1945 zählte auch John Cage zu seinen Schülern.



Marguerite Long (1874 - 1964), CD-Cover, Quelle

Halb Europa war wie magisch angezogen, insbesondere Italiener und Spanier, und zunehmend Amerikaner (die Generation von Edgar Varese und Aaron Copland hat sich in Paris entscheidende Anregungen geholt). Auffallend die große Zahl von Pianistinnen in Frankreich, nicht nur Marguerite Long, Nadja Boulanger, Monique Haas, Clara Haskil, Youra Guller, Marcelle Meyer. Bei Tahra ist kürzlich eine Doppel-CD erschienen, die auch Aimèe-Marie Roger-Miclos, Marie Panthes, Madeleine von Valmalette und Agnelle Bundervoet vorstellt. Sie gaben den musikalischen Salons einen besonderen Glanz. Zugleich spürten sie stärker als andere die Zerbrechlichkeit dieser Kultur. Viele von ihnen litten unter langen Phasen der Selbstzweifel und verschiedener Krankheiten.

Welche vergleichbaren Entwicklungen gibt es seit 1945? Ich sehe im Moment zum einen eine Reihe von Pianisten, die sich den avantgardistischen Werken von Cage, Nancarrow, Ligeti oder der Serialisten verschrieben haben, groß geworden in den Zentren und Festivals der Neuen Musik wie Köln, Paris, Darmstadt, und diesen Stil auch in eine neue Interpretation der klassischen Werke hineintragen wollten. Sie wurden überwiegend bei Wergo veröffentlicht (Alfons und Aloys Kontarsky, Volker Banfield, Herbert Henck, Siegfried Mauser, u.a.). In diese Gruppe würde ich im weiteren Sinn auch Gould und Bruno Canino zählen. Lassen wir auch das Cembalo gelten, dann gehört Elisabeth Chojnacka hierher. Zum anderen Pianisten, die sich den Einflüssen aus dem Jazz und anderer Richtungen der Unterhaltungsmusik öffnen, so z.B. Samson Francais, Weissenberg, Gulda und in neuerer Zeit Fazil Say. Wer allerdings hört, wie bereits Prokofjew seine eigene Toccata und Auszüge aus den "Bildern einer Ausstellung" spielte, dem klingt vieles davon wie kalter Kaffee.

Was mir noch fehlt ist eine Richtung, die Musik in der Weise neu fließen und aufklingen zu lassen, wie es etwa den Dirigenten Celibidache und Marthé gelingt, oder unter den Komponisten Arvo Pärt. Wahrscheinlich würden sie auch den ganzen Kanon der Klaviermusik neu durchdenken. Immer wenn ich neue Pianisten höre, hoffe ich, dass so etwas begonnen wird. Immerhin hätten sie in Sofronitsky ein großes Vorbild, der bisher aber recht isoliert im Panthéon der Pianisten bleibt. Ein wenig von solchen möglichen Klängen war von Anna Vinnitskaya zu hören, etwa ihre Interpretation des "Le Gibet" aus Ravels "Gaspard

Cordialement
Destenay
 
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Hallo zusammen,

vielen herzlichen Dank für eure sehr interessanten Beiträge!
Vieles scheint darauf hinzudeuten -wie sollte es auch anders sein?- dass sich in verschiedenen "Schulen" jenseits von pianistischen Details und Einzelentscheidungen je andere Ausformungen der Klavierkunst (auf einer Art Metaebene) entwickelt haben und tradiert wurden. Letztlich auch überhaupt nicht bezogen auf das Klavier alleine, sondern vielleicht als Arbeit an der Musikalität selbst. Somit wäre es nicht eine Frage der Klaviertechnik und der Klang"produktion" russischer, deutscher, amerikanischer oder französischer Provenienz, sondern des Hörens und der Klangästhetik. Woran sich solche bildet und worin sie wurzelt, ist doch eine spannende Frage.

LG, Sesam
 
Guten Abend, Destenay!

Vielen Dank für Deine präzisen Angaben zur Entstehung der einzelnen Schulen,
zu den unter ihnen bestehenden Querbeziehungen, den Angaben zur Wahrung
der Kontinuität unter erschwerten Bedingungen (Stalinismus)
wie auch zur irreparablen Zerstörung dieser Kontinuität (******).

Einen Namen vermisse ich in Deiner Genealogie: Karl Heinrich Barth,
immerhin ein Enkelschüler Liszts, der Lehrer Arthur Rubinsteins -
wo steht er Deiner Ansicht nach?

Und was hältst du vom Stammvater Abraham aller hiesigen Pianisten,
Karl-Heinz Kämmerling, um den so ein Riesenbohei gemacht wird?
Oder von Günter Reinhold, der sich als Schüler Cortots betrachtet?

Zitat von Rolf:
Von mir kommt da nix (und die Gründe zähle ich nicht auf,
denn sie würden zu mannigfaltigen Buhuhus führen)

Schade - ich würde da gerne viel Buhuhu hören.

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Maruerite Long franzoesische Pianistin

Fuer Interessenten der Videos von Marquerite Long bitte bei " hystorischen Fluegel und franzoesische Pianisten " nachschauen

Cordialement
Destenay
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Mich interessiert besonders,
(.............................................................)
Cordialement
Destenay

schöner Beitrag!!!

kleine Anmerkung: die so genannte frühe "russ. Schule" ausgehend von den Brüdern Anton und Nikolaj Rubinstein verstand sich als Lisztschüler - noch im 19. Jh. kam der Lisztschüler Karl Klindworth als Klavierprof. nach Russland.
...ein wenig vermisse ich bei den Franzosen Saint-Saens ;)

@ Gomez
die Buhuhus... tja... in allerlei Publikationen werden Entwicklungslinien, Stammbäume quasi der einzelnen "Schulen" dargeboten - mich erinnert sowas ein wenig an die fikitiven Stammbäume der nachrömischen Barbarenkönige, die sich allesamt göttliche Herkunft in ihren Ahnenreihen attestierten... (da hätten wir schon einen Grund für ein vehementes Buhuhu) :D:D ...denn solche "Ahnenreihen" haben wir viele: manche führen sich über Lehrer-Ahnenreihen auf Chopin zurürck, manche auf Liszt, manche glauben sogar feste an eine Genealogie a la Beethoven-Czerny-Liszt-Barth-Rubinstein... usw usw.

herzliche Grüße,
Rolf
 
Lieber Rolf,

Mich erinnert sowas ein wenig an die fikitiven Stammbäume der nachrömischen Barbarenkönige,
die sich allesamt göttliche Herkunft in ihren Ahnenreihen attestierten...

Denn solche "Ahnenreihen" haben wir viele: manche führen sich über Lehrer-Ahnenreihen
auf Chopin zurürck, manche auf Liszt, manche glauben sogar feste an eine Genealogie
à la Beethoven-Czerny-Liszt-Barth-Rubinstein... usw usw.

das ist doch als Versuch der Selbstlegitimation aussagekräftig und interpretierenswert,
würde bei mir zu keinem Buhuhu, sondern - vorallem wenn ich mehr von der Materie verstünde -
zu einem breiten Grinsen führen: Mit solchen anmaßenden Behauptungen
richten sich also die Herrschaften selbst, natürlich ohne es zu merken.

Herzliche Grüße,

Gomez

.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
schöner Beitrag!!!

kleine Anmerkung: die so genannte frühe "russ. Schule" ausgehend von den Brüdern Anton und Nikolaj Rubinstein verstand sich als Lisztschüler - noch im 19. Jh. kam der Lisztschüler Karl Klindworth als Klavierprof. nach Russland.
...ein wenig vermisse ich bei den Franzosen Saint-Saens ;)

@ Gomez
die Buhuhus... tja... in allerlei Publikationen werden Entwicklungslinien, Stammbäume quasi der einzelnen "Schulen" dargeboten - mich erinnert sowas ein wenig an die fikitiven Stammbäume der nachrömischen Barbarenkönige, die sich allesamt göttliche Herkunft in ihren Ahnenreihen attestierten... (da hätten wir schon einen Grund für ein vehementes Buhuhu) :D:D ...denn solche "Ahnenreihen" haben wir viele: manche führen sich über Lehrer-Ahnenreihen auf Chopin zurürck, manche auf Liszt, manche glauben sogar feste an eine Genealogie a la Beethoven-Czerny-Liszt-Barth-Rubinstein... usw usw.

herzliche Grüße,
Rolf

Saint - Saens der Franzose ist doch so wie Beethoven der Deutsche, fuer Dich wie fuer mich ist es selbsverstaendlich , fuer jeden der sich mit dem Klavierspiel befasst, ist es obliatorisch auch franzoesischen Komponisten zu kennen, dies gehoert zum Horizont zur allgemein Bildung, der Auffasung bin ich . Ach ! es gibt so grossartige franzoesische Komponisten.

Cordialement
Destenay
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Saint - Saens der Franzose ist doch so wie Beethoven der Deutsche, fuer Dich wie fuer mich ist es selbsverstaendlich , fuer jeden der sich mit dem Klavierspiel befasst, ist es obliatorisch auch franzoesischen Komponisten zu kennen, dies gehoert zum Horizont zur allgemein Bildung, der Auffasung bin ich .

wobei wir fairerweise nicht übersehen sollten, dass Saint-Saens ein zusätzlich ein fantastischer Pianist war (es gibt Aufnahmen) - - und ganz rührend: er zählte zeitweise zu den Kopisten bei Wagner (und Wagner hatte ihn sehr gelobt und gemocht)

...und was ketzerisches: ich glaube nicht, dass Liszt und Saint-Saens als Pianisten weit voneinander entfernt waren.

Bizet, Saint-Saens, Delibes, Massenet, Gounod, Faure ... ich hör auf mit dem aufzählen: klar gibt es französische Komponisten, die ich nicht vermissen möchte

... ... aber das Schubladen-Denken von den "Schulen"... spielt Shukow (Russe) das 3. Konzert von Tschaikowski russischer als Entremont (Franzose)???? :D:D:D:D

herzliche Grüße,
Rolf
 
... ... aber das Schubladen-Denken von den "Schulen"... spielt Shukow (Russe) das 3. Konzert von Tschaikowski russischer als Entremont (Franzose)???? :D:D:D:D


Eben. Deshalb erinnert mich das Aufzählen der Schubladenbewohner eher an inhaltsarme Sophisterei. Ich wiederhole nochmal einen Gedanken

Somit wäre es nicht eine Frage der Klaviertechnik und der Klang"produktion" russischer, deutscher, amerikanischer oder französischer Provenienz, sondern des Hörens und der Klangästhetik. Woran sich solche bildet und worin sie wurzelt, ist doch eine spannende Frage.

LG, Sesam
 

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