Phrygisch oder ja?

  • Ersteller Ersteller Flint
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Für die, die es interessiert, und die mit dem Material zurecht kommen... hier ein paar weitere interessante Beispiele, weil die Frage schon reizvoll ist:

erstmal zur Lachrymae-Pavane: Konfusion als Vorwand kann man ja nicht gebrauchen. Also s. Anhang - die Stelle müsste entweder Takt 6 oder 7 in der vorgelegten Transkription entsprechen, je nachdem, ob die nächsten Takte halbiert sind (wie 4 & 5) oder nicht.

Die Melodie von Rowland/Lord Willoby's Welcome Home, von der es Versionen von Dowland, Byrd u.a. gibt, existiert auch in mehreren Lautentabulaturen. Gleich die 4. Note ist unentschieden (cf Nicolas Vallet, Paradisus musicus, S.47).

Ein bekanntes Beispiel für konsequent verschiedene Lesarten ist Dufays "Le serviteur haut guerdonné":
https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9007335q/f99.item
Würde nur die 1. Quelle existieren, gäbe es an sich keinen Zweifel, nur wird man in der "letzten" Phrase (ab dem Ende der 3. Zeile) mehrmals a als as singen wollen, was aufgrund der Seltenheit dieses Tons etwas überraschen mag.
Doch die 2. Quelle (mit Vorzeichen nur auf b) zeigt eine Variante, auf die man bei der 1. Quelle nicht zuletzt wegen der ausdrücklichen Vorzeichen wahrscheinlich nicht gekommen wäre: e statt es. Im Rest des Stückes ist in der Mehrzahl der Fälle einigermaßen offensichtlich, dass e sowieso als es gelesen wird.

Totschlagargument gegen die Behauptung, ein Notenbild impliziere eindeutig eine modale Interpretation, ist natürlich Ockeghems Missa cuiusvis toni.
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Es geht nicht darum, für Beliebigkeit zu plädieren. Vielmehr: die Anwendung von causae necessitatis & pulchritudinis führen nicht dazu, dass stets ein "richtiger" Ton ermittelt werden könne, doch - und das ist mein Argument - sie genügt für das Musizieren, wenn wir uns darauf einstellen.

Eine Theorie muss imstande sein, die Realität zu erklären. Mir wäre in einem gewissen Sinne Klarheit lieber als (selbst partielle) "Beliebigkeit". Aber die Fakten der Überlieferung entsprechen keiner preskriptiven Theorie.
 

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Interessanter Gedanke. Was sagst Du denn in dem Zusammenhang zu der zuletzt geposteten Version?
Im Prinzip nichts anderes, als @kitium bereits ausführlich dargelegt hat. Es gibt nicht die eine richtige Lösung, zumindest nicht bei den causae pulchritudinis. Zu diesen causae gehört fast immer auch der Querstand - man kann ihn akzeptieren oder nicht.

Ich würde ein paar Stellen in der zuletzt geposteten Version anders interpretieren - ohne diese andere Lösung für die einzig richtige zu halten.
 
Dir ist offenbar nicht bewusst, dass Du mit Kit Armstrong sprichst
Ich habe sofort geahnt, daß du ein ganz autoritärer Charakter bist. :003:
Du wägst sehr genau ab, bei wem du anlasslos drauf hauen kannst und vor wem du meinst, kuschen zu müssen.

"Doppelganze" ... Das macht die Analyse einer modernen Transcription alter Musik aber auch nicht unbegingt leichter.
Richtig. Zumal die Notenwerte auch zur Enstehungszeit gelegentlich schon mal halbiert wurden. So eindeutig ist das nicht.

die Stelle müsste entweder Takt 6 oder 7 in der vorgelegten Transkription entsprechen, je nachdem, ob die nächsten Takte halbiert sind (wie 4 & 5) oder nicht
Aha! So langsam erfährt man, von welchen Tönen Du redest. Es spricht doch alles für markierte Noten. Jedenfalls, wenn man verstanden werden will. Ich gebe mir damit immer große Mühe.

Es scheint also um diese Korrespondenz zu gehen:

Screenshot 2025-10-04 at 15.00.11.png
Unbenannt-1.jpg

Der Bearbeiter hat den phrygischen Halbschluss vermieden und der Akkord klingt immer nach iii in F-Dur, besonders in T. 9.
Aber er hat auch die Länge der Takte verdoppelt, bearbeitet halt... Was soll daran "anachronistisch" sein?
Naja, wie gesagt: wenn Jemand ein Volxlied als Blues bearbeitet, stört sich auch niemand an den BlueNotes...
Meine Frage war ja eher technischer Natur: klingt ein Halbschluss noch phrygisch, wenn man von der b5 kommt?
 

Meine Frage war ja eher technischer Natur: klingt ein Halbschluss noch phrygisch, wenn man von der b5 kommt?
Die 5 ist weder Bestandteil der Sopranklausel noch der Tenorklausel der phrygischen Wendung. Noch dazu erscheint sie hier vor der Antepenultima, die die Kadenz ja erst einleitet. Insofern sehe ich überhaupt keinen Grund, warum eine tiefalterierte 5 an dieser Stelle den phrygischen Halbschluss entwerten sollte.
 
Ich habe sofort geahnt, daß du ein ganz autoritärer Charakter bist. :003:
Du wägst sehr genau ab, bei wem du anlasslos drauf hauen kannst und vor wem du meinst, kuschen zu müssen.
Nein, ich habe Respekt vor Menschen, die Kompetenz besitzen, also wirklich etwas können und wissen. Da reiße ich nicht, wie manch anderer, blöd die Klappe auf. Ich erkenne beispielsweise völlig an, dass in Sachen "Klassik" ein paar Forenmitglieder einfach die Experten sind und ich im Vergleich ein kleines Licht. Hingegen bin ich in Sachen Jazz sicherlich zurzeit der Kompetenteste auf Clavio. (Oder??) Ich habe beispielsweise auch kein Problem damit anzuerkennen, welche Jazz-Pianisten in meinem persönlichen Umfeld besser spielen als ich, und das sage ich auch bereitwillig jedem.
Unverblümt werde ich aber, wenn jemand, der klar wenig Kompetenz besitzt, versucht, den großen Macker zu markieren oder mit irgendeinem Blödsinn "Likes" oder positive Kommentare von Ahnungslosen zu kassieren. Leute, die noch nicht viel können, aber mit der angemessenen Demut gegenüber den Fachleuten und erkennbarem Lernwillen hierher kommen (also nicht nur hören wollen, dass sie doch eigentlich schon echt gut sind), haben meinen Respekt. Clavio ist zum Glück noch ein Forum, in dem derjenige, der sich wirklich auskennt und wirklich was kann, noch etwas gilt und nicht dieses unerträgliche "alles ist irgendwie super und jeder ist doch voll kreativ"-Geseier herrscht - auch deswegen hat ein Kit Armstrong überhaupt Lust, gelegentlich etwas beizutragen.
 
.... nicht so ein großes Problem daraus zu machen, wie unsere moderne Notationskonvention suggeriert.
ein sehr richtiger und wichtiger Satz, der auch für spätere Epochen gilt, bis weit über den Barock hinaus.
Die Vergangenheit und in unserem Zusammenhang die Musizierpraxis waren in allem weit vielfältiger, als es sich in Quellen, die ja auch noch gedeutet werden müssen, widerspiegeln könnte.
 
ein sehr richtiger und wichtiger Satz, der auch für spätere Epochen gilt, bis weit über den Barock hinaus.
Die Vergangenheit und in unserem Zusammenhang die Musizierpraxis waren in allem weit vielfältiger, als es sich in Quellen, die ja auch noch gedeutet werden müssen, widerspiegeln könnte.
Richtig. Im Barock beispielsweise hatte die Musikpraxis mehr Ähnlichkeit mit der Musikpraxis von Jazzmusikern als mit derjenigen, die sich in der europäischen Konzertmusik seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat und die heute noch maßgeblich für die "Klassik"-Welt ist (unter anderem mit kleinlichstem Gebastel an Interpretationen oder mit "Polizeien", die streng über Werk- oder Epochentreue wachen).
 
Es gibt Musikstudenten, die z.B. nach dem Hören einer Mozart-Sonate nicht über den Gesamteindruck und die Interpretation sprechen, sondern darüber, ob die Triller mit der Haupt- oder der Nebennote begonnen wurden.
 
Es gibt Musikstudenten, die z.B. nach dem Hören einer Mozart-Sonate nicht über den Gesamteindruck und die Interpretation sprechen, sondern darüber, ob die Triller mit der Haupt- oder der Nebennote begonnen wurden.
Die werden später im Berufsleben möglicherweise nicht allzu viel Freu(n)de haben.
 
Richtig. Im Barock beispielsweise hatte die Musikpraxis mehr Ähnlichkeit mit der Musikpraxis von Jazzmusikern als mit derjenigen, die sich in der europäischen Konzertmusik seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat und die heute noch maßgeblich für die "Klassik"-Welt ist (unter anderem mit kleinlichstem Gebastel an Interpretationen oder mit "Polizeien", die streng über Werk- oder Epochentreue wachen).
Wenn Du Dich da mal nicht vertust. Die großen Virtuosen des 19. Jahrhunderts haben sich mehr Freiheiten erlaubt, als uns heutzutage recht wäre - nach der Maxime: „Wenn ich schon über die nötige Fingerfertigkeit verfüge, dann spiele ich sie auch aus.“
 

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