Mißverständnisse über musikalische Epochen

Tradition ist ein Begriff, der mich immer sehr bestürzt macht 8)

:D

"doch der wilde Knabe brach
s´Röslein auf der Heide.
Röslein wehrte sich und stach
(...)"
Goethe

da hatte der Knabe im Gedicht so manche Tradition der Sittsamkeit außer Acht gelassen, was keine gute Idee war

sei manchen Traditionen gegenüber mal nicht allzu abgeneigt ;)

ich wiederhole gerne: manche unaufgeschriebene Tradition, etwa Begleitungen leiser als Melodie, sind schon ok :p
 
denkt man das mal streng weiter... so für Bach bis Liszt:

es gibt primäre Quellen: Handschriften, Erstausgaben, Urtextausgaben

es gibt sekundäre Quellen: unscharfes verwaschenes Sprachzeugs, mal vom Komponisten, mal von seinen Freunden, Feinden oder sonstigen Beobachtern :D

und dann die Ernüchterung: "Niemand weiß, wie man die Musik der Bachzeit oder Beethovenzeit oder Schumannzeit richtig spielt."
erste Konsequenz: wenn´s niemand weiß, merkt man man nichtmal, wenn´s zufällig doch richtig war :D
zweite Konsequenz: unter solchen Prämissen ist´s eigentlich völlig wurscht, wie irgendwer irgendwas spielt - wird eh meistens falsch sein.

... ... das sind die lähmenden Folgen, wenn man solche apodiktischen Sätze mal spaßeshalber ernst nimmt... :D

Rolf, du hast recht, mit deiner Feststellung "wie irgendwer irgendwas spielt - wird eh meistens falsch sein." Das ist eine alltägliche Erfahrung.

Also: es wird ja nichtmal das beachtet, was in den Urtextausgaben drinsteht, und da steht nun wirklixch so gut wie nichts drin, was für die Interpretation behilflich wäre. Aber selbst das wenige was drinsteht wird nicht beachtet.

Wurscht ist es offensichtlich auch, weil es scheint niemanden zu stören. Hauptsache, der äußere Rahmen stimmt.

Aber man soll ja nicht gegen Windmühlen kämpfen.
 
Rolf, du hast recht, mit deiner Feststellung "wie irgendwer irgendwas spielt - wird eh meistens falsch sein." Das ist eine alltägliche Erfahrung.

um der Korrektheit willen, auf dass keine Mißverständnisse enstehen:
"wie irgendwer irgendwas spielt - wird eh meist falsch sein" ist eine Konsequenz aus Deiner plakativen Vorlage: ich zitier´s sicherheitshalber noch mal im Zusammenhang:

" und dann die Ernüchterung: "Niemand weiß, wie man die Musik der Bachzeit oder Beethovenzeit oder Schumannzeit richtig spielt."
erste Konsequenz: wenn´s niemand weiß, merkt man man nichtmal, wenn´s zufällig doch richtig war
zweite Konsequenz: unter solchen Prämissen ist´s eigentlich völlig wurscht, wie irgendwer irgendwas spielt - wird eh meistens falsch sein
. "

ich habe meine humorigen Konsequenzen kursiv, Deinen plakativen Satz unterstrichen gekennzeichnet.
___________________

ok --- Deine Antwort macht auf mich einen etwas resignierten Eindruck, und ganz ehrlich: ich glaube Dir, dass Dir immens viel daran liegt, dass Musik angemessen aufgeführt/realisiert wird.

und ich will darauf auf aufrichtig reagieren - ich mache das an einem Beispiel, welches mir persönlich zwar nahe geht, welches ich aber selber bislang noch nicht öffentlich gespielt habe (und sehr wahrscheinlich werde ich es auch nicht öffentlich spielen: einerseits halte ich mich noch nicht für reif genug dafür, andererseits liegt es mir - bei aller Liebe und Bewunderung! - leider [sic] nicht): Bachs Goldberg Variationen
- ich mag beide Aufnahmen von Gould
- ich bewundere die neue Einspielung von Weissenberg
- ich kenne mehr als 10 andere Einspielungen
---- ich schränke ein: ich beziehe mich nur auf Einspielungen am Klavier, Aufnahmen am Cembalo lasse ich außen vor----
mir sind, bei aller Unterschiedlichkeit, die beiden Gouldaufnahmen am liebsten - gewiß auch deshalb, weil er vieles sehr im romantisch-sentimentalischen Geist spielt und weil er eine zur Klarheit führende Überdeutlichkeit nicht scheut. Evtl. ist Weissenbergs niederschmetternd perfekte Spielweise stilreiner - ich mag Goulds kompromißlos expressive Spielweise mehr.

Beide haben/hatten dieselben kargen Noten - allein über die Unterschiede in der Interpretation des Themas ließe sich endlos vieles schreiben. Ist nun falsch oder unangemessen, was man da hört? Ich finde nicht - es sind Deutungen, die einem den Reichtum, die Vielfalt dieser Musik hörbar machen.

Natürlich wissen wir speziell bei diesem, wohl eher dem Cembalo als dem Klavier anvertrauten genialen Riesenwerk nicht, wie Bach es gespielt hat - aber wir haben bei Gould und Weissenberg Deutungen, die uns das Werk auf jeweils subjektive (aber fantastisch gekonnte!) Weise nahe bringen.

und genau das halte ich für mit die höchste Tugend einer "Interpretation": das gespielte Musikstück den Hörern nahe bringen und im besten Fall eine subjektive, aber überzeugende Erklärung/Deutung des Musikstücks bringen

ok: an diesem Punkt könnte man einwenden, dass vielleicht der Interpret zu viel von sich selbst einbringt (im Sinne von irgendwas hineingeheimnist) - aber ich glaube, dass dieser Einwand nicht zu schwer wiegt: lieber eine subjektive, als eine belanglose Darstellung! Nach meinem Credo sind Belanglosigkeit und gefälliger Durchschnitt todlangweilig, egal ob das irgendeiner dogmatischen Interpretationsweise folgt oder nicht. Musik machen bedeutet ja auch, selber Stellung zur Musik zu beziehen.

in diesem Sinne: es gibt, trotz aller "Unschärfen" (bzgl. historischer, historisierender, stilistisch angemessener Spielweise usw.), gelungen und nahe bringende Interpretationen - und die können diskutiert und ggf weiter entwickelt werden.

Gruß, Rolf
 
Aber seit einigen Jahren sind die Interpretatoren deutlich bemüht allen überflüssigen Ballast abzuwerfen und nur das zu spielen, was auch in den Noten steht und im Hinblick auf die Quellenlage vertretbar ist.

Was meinst du denn mit "überflüssiger Ballast"? Doch hoffentlich nicht den musikalischen (emotionalen) Ausdruck?

Natürlich weiß niemand mit letzter Gewissheit, wie es damals geklungen hat,

Wahrscheinlich ziemlich gräuslig, wenn man sich vorstellt, unter welchen Bedingungen die Aufführungen damals zustande kamen.

Das Ziel wäre eher, herauszufinden wie es in der Vorstellung des Komponisten geklungen hat.



ok --- Deine Antwort macht auf mich einen etwas resignierten Eindruck, und ganz ehrlich: ich glaube Dir, dass Dir immens viel daran liegt, dass Musik angemessen aufgeführt/realisiert wird.

Ja, so ist es. Ich bin dabei auch garnicht pingelig, wenn Pianisten eigenwillige oder extreme Interpretationsansätze haben. Und da man ja auch nicht alles haben kann, ziehe ich im Zweifel die fehlerhafte aber inspirierte Version der fehlerfreien, exakten, "geläufigen" Version vor. Und wie du ja weißt, ziehe ich auch meist die langsamere der schnellen Version vor, weil man bei der langsameren die Details (z.B. die Dissonanzen) besser hört.


und ich will darauf auf aufrichtig reagieren - ich mache das an einem Beispiel, welches mir persönlich zwar nahe geht, welches ich aber selber bislang noch nicht öffentlich gespielt habe (und sehr wahrscheinlich werde ich es auch nicht öffentlich spielen: einerseits halte ich mich noch nicht für reif genug dafür, andererseits liegt es mir - bei aller Liebe und Bewunderung! - leider [sic] nicht): Bachs Goldberg Variationen
- ich mag beide Aufnahmen von Gould
- ich bewundere die neue Einspielung von Weissenberg
- ich kenne mehr als 10 andere Einspielungen
---- ich schränke ein: ich beziehe mich nur auf Einspielungen am Klavier, Aufnahmen am Cembalo lasse ich außen vor----
mir sind, bei aller Unterschiedlichkeit, die beiden Gouldaufnahmen am liebsten - gewiß auch deshalb, weil er vieles sehr im romantisch-sentimentalischen Geist spielt und weil er eine zur Klarheit führende Überdeutlichkeit nicht scheut. Evtl. ist Weissenbergs niederschmetternd perfekte Spielweise stilreiner - ich mag Goulds kompromißlos expressive Spielweise mehr.

Gould finde ich, nicht nur was die Goldbergvariationen betrifft, sehr anstrengend zu hören, aber jedenfalls nie langweilig. Langsame Sätze spielt er oft wunderschön, bei schnellen wirds leider manchmal eine schlimme Hämmerei.

Irgendwie hab ich vor ewig langer Zeit auch schonmal Weissenberg mit den Goldbergvariationen gehört. Er spielt Bach sehr abstrakt - auch das ist durchaus legitim. Den Begriff "stilrein" für diese Art des Spiels finde ich etwas seltsam.

Schlagt mich, aber mein liebster Goldbergspieler ist Martin Stadtfeld ^_^

und genau das halte ich für mit die höchste Tugend einer "Interpretation": das gespielte Musikstück den Hörern nahe bringen und im besten Fall eine subjektive, aber überzeugende Erklärung/Deutung des Musikstücks bringen

ok: an diesem Punkt könnte man einwenden, dass vielleicht der Interpret zu viel von sich selbst einbringt (im Sinne von irgendwas hineingeheimnist) - aber ich glaube, dass dieser Einwand nicht zu schwer wiegt: lieber eine subjektive, als eine belanglose Darstellung! Nach meinem Credo sind Belanglosigkeit und gefälliger Durchschnitt todlangweilig, egal ob das irgendeiner dogmatischen Interpretationsweise folgt oder nicht. Musik machen bedeutet ja auch, selber Stellung zur Musik zu beziehen.

Kann man so stehen lassen.

Den Ausdruck "sich selbst einbringen" bzw. etwas in die Musik hineingeheimnissen" würde ich aber lieber durch "sich mit der Musik identifizieren" ersetzen. Den Ausdruck aus der Musik herausholen scheint mir die bessere Vorstellung als ihn hineinlegen.


in diesem Sinne: es gibt, trotz aller "Unschärfen" (bzgl. historischer, historisierender, stilistisch angemessener Spielweise usw.), gelungen und nahe bringende Interpretationen - und die können diskutiert und ggf weiter entwickelt werden.

Gruß, Rolf

Ein sehr versöhnliches Schlußwort, das ich voll unterschreiben kann.

Gruß
Haydnspaß
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Das Ziel wäre eher, herauszufinden wie es in der Vorstellung des Komponisten geklungen hat.

Und da man ja auch nicht alles haben kann, ziehe ich im Zweifel die fehlerhafte aber inspirierte Version der fehlerfreien, exakten, "geläufigen" Version vor. Und wie du ja weißt, ziehe ich auch meist die langsamere der schnellen Version vor, weil man bei der langsameren die Details (z.B. die Dissonanzen) besser hört.

Den Ausdruck "sich selbst einbringen" bzw. etwas in die Musik hineingeheimnissen" würde ich aber lieber durch "sich mit der Musik identifizieren" ersetzen. Den Ausdruck aus der Musik herausholen scheint mir die bessere Vorstellung als ihn hineinlegen.

Ein sehr versöhnliches Schlußwort, das ich voll unterschreiben kann.

hallo,

ein Schlußwort klingt fast wie ein Schlußakkord - ich fände weitere Variationen über Mißverständnisse bzgl. musikal. Epochen durchaus interessant.

herausfinden, wie es in der Vorstellung des Komponisten geklungen hat, ist natürlich kaum möglich (jedenfalls von 1850 an rückwärts gerechnet) - aber jede ernstgemeinte Interpretation versucht sicherlich, etwas dazu beizutragen.

Ich bin sogar davon überzeugt, dass selbst die schönsten Interpretationen nur einen Teil dessen hervorarbeiten, was im interpretierten Musikstück drin steckt - ja ob es überhaupt eine ideale, alles herausholende Interpretation gibt, bezweifle ich sehr (jedenfalls bei richtiger kunstvoller Musik, nicht bei irgendwelchen nur charmant-geläufigen Petitessen wie z.B. Moszkowski-Etüden)

Aber wir sind ja insgesamt vom Thema etwas bgeschweift, haben aber dafür einen schönen Konsens über das interpretieren gefunden.
_______________
ich mach noch mal einen Versuch in Richtung Missverständnisse bzgl. der musikal. Epochen:
- ein Mißverständnis wäre, z.B. in der romantischen (epochnmäßig) Sonate op.109 so zu spielen, als seie sie von Chopin oder Mendelssohn komponiert, also mit manchmal etwas willkürlichen Rubati und mit deklamatorisch ausgespielten Passagen (wofür sich im 1. Satz das 2. Thema anbieten könnte) - trotzdem gibt es eine Interpretation mit wie ich finde passenden Temposchwankungen: Gould (der spielt op.109 wunderschön!)
das Mißverständnis bestünde hier also darin, einen personalen Stil auf einen anderen Komponisten zu übertragen - das kann merkwürdig klingen (auch an den "chopinschen" Stellen in den späten Beethovensonaten)
- - die Vielfältigkeit der Musik des 19. Jh. kann sicher nicht auf eine einzige Spielweise reduziert werden
- - - oder auch (scherzando) Metronom an und Chopins Barcarolle in einem Tempo zack durch...

Gruß, Rolf
 
Das Ziel wäre eher, herauszufinden wie es in der Vorstellung des Komponisten geklungen hat.

das hat mich weiterhing beschäftigt: ich habe mir überlegt, ob es je einen solchen exemplarischen fall gegeben hat.

Rachmaninov, Klavierkonzert Nr.3 d-Moll. Er hat es selber gespielt und aufgenommen, eine (leider nicht aufgenommene) Darbietung war mit Gustav Mahler als Dirigenten, wow: das würde ich gerne hören!!! - und unbestritten war Rachmaninov nicht nur ein großer Komponist, sondern auch auch ein exzellenter Interpret und großartiger Pianist. Und genau dieser Rachmaninov hat mitgeteilt, dass sein eigenes d-Moll Konzert von Horowitz besser gespielt sei!!! ---- ich glaube, es wäre nun zu billig, zu sagen "ätschi, da hat Rach sein eigenes Zeug halt nicht so spielen können", eher zeigt dieses Exempel aus der nachvollziehbaren "man-hat-ja-gottlob-Aufnahmen"-Zeit, dass der Komponist selber eben auch nur Interpret ist, wenn es an die realisierung, an die Aufführung geht. Das ist eigentlich auch ganz selbstverständlich: man kann ja auch von keinem Opernkomponisten erwarten, dass er selber exemplarisc die Sopranpartien singt... :D

ich bin auch davon überzeugt, dass Komponisten bei der Notation ihrer Werke meist davon überzeugt waren, ihre Werke genügend verständlich und nachvollziehbar notiert zu haben (evtl. war das bei Berlioz nicht so, der große Skrupel bzgl. der richtigen oder passenden Notation für die Flöten in der fantastischen Sinfonie hatte).

wenn man bedenkt, dass jede noch so gelungene Interpretation eben nur einen Teil, einen Aspekt, eine Perspektive bietet - das Werk selber ist Anlaß zu weit mehr als nur einer Deutung - dann wird die Idee "wie es in der Vorstellung des Komponisten geklungen hat" zu einer Art Chimäre...

wenn man spaßeshalber mal postulieren würde, dass es eine allein richtige und selig machende Interpretation gäbe - in dem Moment, in welchem sie realisiert würde, wäre das Musikstück/Kunstwerk perdu: es wäre fertig, total ausgeleuchtet und könnte ad acta gelegt werden (denn in diesem Fall bräuchte man keine weiteren Deutungen mehr).
((((ich glaube, dass es so etwas gibt, auch wenns nichts mit der Chimäre der Komponistenklangvorstellung zu tun hat: nach Horowitz in Moskau muss man Moszkowskis Etincelles eigentlich nicht mehr spielen -- aber das liegt weniger an Horowitz, als an der doch recht eindimensionalen, aber von Horowitz genial getrofffenen Vorlage - muss man nach Horowitz Etincelles noch spielen? und das stllt halt die Frage nach der Qualität der Vorlage, und die ist bei Bach, Mozart, Chopin, Liszt oder Ravel halt eine andere, als bei Moszkowski))))

oder die Mondscheinsonate: seit man Aufnahmen macht, ist sie immer wieder aufgenommen worden - hat es der Sonate geschadet? ist sie schon zu Ende interpretiert? mit Sicherheit nicht!!!

meist überleben die Kunstwerke, die dieser Bezeichnung wert sind, ihre Interpreten und ihre Interpretationen :p

und die Mißverständnisse über Epochen? eine Ursache für Mißverständnisse kann sein, sich nicht für die Epoche zu interessieren und vermeintlich besser zu wissen, was Mozart oder Mendelssohn gemeint haben... kurzum: je detaillierter man sich mit der jeweiligen "Epoche" und ihren nicht immer repräsentativen Vertretern befasst, umso geringer wird die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit von Mißverständnissen.

Gruß, Rolf
 
Aufschluss über die Musik vom 9.Jhd. bis zur Moderne gibt dieses PDF.

Mir hat diese Übersicht sehr viel Freude bereitet. Vlt geht es euch ebenso ;)

lg marcus
 
Die Diskussion dreht sich hier um Fragen auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Wenn man v.a. die Ebene der Benennung von Stilepochen aus der Perspektive der Musikwissenschaft (die ja die Begriffe wie "Klassik" oder "Romantik" geprägt hat), betrachtet, spielt doch die Klassifizierung eines Stils der Kunstmusik als Gegenbewegung zum Bisherigen eine sehr wichtige Rolle. Die Romantik, das wurde ja auch schon geschrieben, stellt eine neue, innerliche, gefühlsbetonte Bewegung vor allem individualistischerer Künstler zur eher (platt gesagt) dienstleistenden Klassik dar. Das hängt mit gesellschaftlichen Änderungen zusammen und auch mit dem Stand des Künstlers in der jeweiligen Gesellschaft. Neben dieser Erklärung der Sichtweise auf eine Stilspoche ist es aber auch ein Problem, dass insgesamt oft so getan wird, als sei mit dem Epochenbegriff ein klarer Schnitt anschaulich geworden. Das ist aber nicht so. Fast alle Komponisten schöpften doch aus dem Werk der Vorfahren, z. B. übernimmt Chopin viel von Hummel und Field, ja sogar von Czerny. Und - es wurde schon geschrieben - Beethoven ist ein Bindeglied zwischen Klassik und Romantik. Vivaldi bereitet bereits das Rokkoko vor mit seiner leichteren Kompositionsweise gegenüber dem "schwereren" Barock eines Bachs oder Händels. Die Übergänge sind so fließend, dass eine klare Abgrenzung nur scheitern kann - meiner Meinung nach.
 
Zunächst: Danke, diesen Thread emporgeholt zu haben. Er ist so alt, dass er meiner Aufmerksamkeit bislang entgangen war.

Neben dieser Erklärung der Sichtweise auf eine Stilspoche ist es aber auch ein Problem, dass insgesamt oft so getan wird, als sei mit dem Epochenbegriff ein klarer Schnitt anschaulich geworden. Das ist aber nicht so.
Die Übergänge sind so fließend, dass eine klare Abgrenzung nur scheitern kann

Kleine Ergänzung: Je größer und allgemeiner die Epochen gefasst sind, desto unmöglicher ist eine sinnvolle Periodisierung. Es ist zum Beispiel unsäglich, was gemeinhin über "Mittelalter" gesagt bzw. unter diesem Begriff verstanden wird. Je nach Datierung der Epochewechsel meint man damit rd. 1000 Jahre. Verblüffenderweise hat die Menschheit sich bzw. ihre Lebensumstände, Techniken, Anschauungen, Sozialverhältnisse etc. schon seinerzeit verändert.;-)

Bedenkt man ferner die teils gravierenden geographischen Unterschiede von Entwicklungen, sind historische Epochenbezeichnungen eigentlich nur sinnvoll, damit Schüler etwas zum Auswendiglernen haben und die Universitäten, wenn sie einen Lehrstuhl in Mediävistik ausschreiben, keine Bewerbungen von Personen bekommen, die bislang schwerpunktmäßig über britische Außenpolitik in den Jahrzehnten vor dem 1. WK geforscht haben. Aber sogar in letzterer (strikt pragmatischer) Hinsicht erweist die Periodisierung sich mitunter als Fluch.

Sinnvoller ist das Unterfangen "Epocheneinteilung" hinsichtlich einzelner Aspekte menschlichen Lebens und Schaffens. Beispiele: Mobiliar / Bekleidung ("Mode") / Baustil / Kunstgattungen (jeweils: Literatur, Bildende Künste, Musik). Ob man mit der Bezeichnung "Romantik" die semantisch beste Wahl getroffen hat, stelle ich ausdrücklich in Zweifel, da sie in sich ein Missverständnis birgt. Ein in Kunststilen unbewanderter Laie hat zwar eine recht treffsichere Vorstellung, was unter Experten als "barock" oder "klassisch" verstanden werden könnte, aber im allgemeinen Sprachgebrauch ist "romantisch" anders konnotiert als es dem Wesen der Kunstwerke der gleichnamigen Epoche entspricht, und das gilt für alle Gattungen künstlerischen Schaffens.
 

wow, »gefühlsbetonte romantik« vs. »dienstleistende klassik«, ja, das ist wirklich sehr platt gesagt. man muss auch mal fragen, woher diese kategorien kommen (und ob man wirklich so mausetote threads [7 jahre!!!] aus der grube ziehen muss). die kommen nicht von der musikwissenschaft schlechthin, sondern von einer ganz bestimmten musikwissenschaft. auch die historiographischen methoden haben sich gewandelt, kontinuitäten werden heute als wichtiger erachtet als fixierte epochendefinitionen. bis das mal in die leider oftmals miese schulmusikausbildung und somit auch in die oftmals von ebenso miesem musikunterricht gepeinigten schulen durchsickert, werden noch ein paar jahrzehnte vergehen, leider. so lange dürfen wir uns dann weiter gutenachtg'schichten vom serviceleister mozart und der romantischen rebellion gegen die wiener verwaltungssprache anhören. schnarch.
 
Ich würde gern mehr als ein "Like" geben... :super:

:-)

eigentlich mache ich mir keine illusion: gerade die klassische musikindustrie, deutsche grammophon etc., aber auch – mit wenigen ausnahmen – viele große rundfunkanstalten (die meines erachtens den gegenteiligen auftrag hätten) sind in geradezu frappierendem ausmaß von den emphatischen musikgeschichtlichen heldenerzählungen (bach–beethoven–brahms) abhängig und pfeifen auf die musikwissenschaftlichen errungenschaften der letzten jahrzehnte (zumal es grade in der hist. muwi auch noch genügend konservative erzähler*innen gibt). die gesamte vermarktungsästhetik etwa klassischer künstler*innen bedient sich hyperromantisierter ikonographien und ist zu 99% dermaßen unglaubwürdig, dass man das schon wieder als kunstfertigkeit aufzufassen geneigt ist.

aber klassik-stars und deren epigonen sind mir eigentlich recht egal, und die bestimmen das öffentliche bild von musikgeschichte vielleicht noch am allerwenigsten, daher war das nur ein exkurs.

wirklich verfehlt werden derartige bildungsaufträge in vielen bereichen der hochschul- und schulbildung, aber auch in auf den ersten blick so marginalen formaten wie programmheften etc. leider sind dramaturg*innen an konzert- und opernhäusern meistens so überarbeitet, dass sie die arbeit an programmtexten entweder in die hände mediokrer bis schlechter musikforscher*innen legen oder sich selbst ein paar bildungsbürgerliche halbphrasen aus den fingern saugen, die über den erkenntnisgrad eines erstsemester-essays kaum hinausweisen.

das aber ist auch nichts gegen die kritiklosigkeit, mit der an den hochschulen heute immer noch musikgeschichte als heroengeschichte unterrichtet wird...
 
:-)

eigentlich mache ich mir keine illusion: gerade die klassische musikindustrie, deutsche grammophon etc., aber auch – mit wenigen ausnahmen – viele große rundfunkanstalten (die meines erachtens den gegenteiligen auftrag hätten) sind in geradezu frappierendem ausmaß von den emphatischen musikgeschichtlichen heldenerzählungen (bach–beethoven–brahms) abhängig und pfeifen auf die musikwissenschaftlichen errungenschaften der letzten jahrzehnte (zumal es grade in der hist. muwi auch noch genügend konservative erzähler*innen gibt). die gesamte vermarktungsästhetik etwa klassischer künstler*innen bedient sich hyperromantisierter ikonographien und ist zu 99% dermaßen unglaubwürdig, dass man das schon wieder als kunstfertigkeit aufzufassen geneigt ist.

aber klassik-stars und deren epigonen sind mir eigentlich recht egal, und die bestimmen das öffentliche bild von musikgeschichte vielleicht noch am allerwenigsten, daher war das nur ein exkurs.

wirklich verfehlt werden derartige bildungsaufträge in vielen bereichen der hochschul- und schulbildung, aber auch in auf den ersten blick so marginalen formaten wie programmheften etc. leider sind dramaturg*innen an konzert- und opernhäusern meistens so überarbeitet, dass sie die arbeit an programmtexten entweder in die hände mediokrer bis schlechter musikforscher*innen legen oder sich selbst ein paar bildungsbürgerliche halbphrasen aus den fingern saugen, die über den erkenntnisgrad eines erstsemester-essays kaum hinausweisen.

das aber ist auch nichts gegen die kritiklosigkeit, mit der an den hochschulen heute immer noch musikgeschichte als heroengeschichte unterrichtet wird...

Daumen hoch.
 

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