Harmonisierung "Allein Gott in der Höh" für Liturgie

Ich bin recht sicher, dass fis original ist.
Nichts gegen Kirchentonarten...

Hi, Axel!

Es freut mich, daß Du nichts gegen Kirchentonarten hast.

Nikolaus Decius hatte auch nichts gegen sie.
Aus diesem gregorianischen "Gloria tempore Paschali"
hat er sein deutsches "Allein Gott in der Höh sei Ehr" geformt:


http://files.libertyfund.org/img/2057/lf1393-03_figure_008.jpg


Wenn Du Dir Phrase (7) der Originalmelodie anschaust,
findest Du den "grauenhaften" Ganztonschritt.
Erst durch die Gepflogenheiten des Kantionalsatzes
wurde die Diskantklausel an dieser Stelle offenbar als so notwendig empfunden,
daß sie die Melodie in der uns heute vertrauten Art entstellen konnte.

In ihrer Originalgestalt läßt sich die Melodie mindestens genauso plausibel harmonisieren,
und der Verzicht auf den Halbtonschritt ist schon deswegen sehr erfrischend,
weil er sich dem ewigen zwanghaften Kadenzierungsbedürfnis widersetzt.
 
Faszinierend, Gomez, und herzlichen Dank für den Quellenbeleg.

(Wo kommst du bloß an das alte Zeug? ;) )

Das F finde ich nicht im mindesten "grauenhaft" - zumal die nächste Choralzeile ja auch mit einem Ganztonschritt (A-G-A) endet. Dort ein Gis hinzusetzen, wäre dann wohl die ultimative "Diskantverklausulierung". :rolleyes:

Auch ich empfinde das Kadenzierungsbedürfnis als zwanghaft. Die Choralzeile "Ein' Wohlgefall'n..." (mit Ganztonschritt) hat nach meinem Empfinden einen schlichten, sehr angenehmen Halbschlusscharakter (I-V), während die Kadenzler :p dort unbedingt die Doppeldominante anpeilen und entsprechend einen Halbtonschritt einbauen.

Donbos, deine Harmonisierung an dieser Stelle ("... uns hat") ist m.M.n. recht unglücklich, da sich zwischen Bass (H-C) und Melodie (F-G) eine Quasi-Parallele aus einer verminderten Quinte (H-F) in eine Quinte (C-G) gibt. Mir wurde jedenfalls im Unterricht nahegelegt, dass man auch solche Quasi-Parallelen vermeiden solle - erst recht zwischen den außenliegenden Stimmen.

Ich verwende an dieser Stelle dasselbe Harmonieschema, aber in einer anderen Umkehrung, so dass der Bass sich dort kontrapunktal zum Sopran bewegt: D-C. Dabei ergibt sich zwar dieselbe Quasi-Parallele, aber sie ist weniger auffällig, weil sie zwischen Alt und Sopran liegt.

Manchmal, wenn mir die Starrköpfigkeit der Fis-Vertreter mal wieder stinkt, spiele ich sogar die gesamte Choralzeile unisono. :klavier:

Ciao,
Mark
 
"Weiterhin wundert es mich, dass Meister Bach ausgerechnet bei "groß Fried ohn Unterlaß" mit schrägen Harmonien um sich schmeißt, ganz anders als wir es von anderen Stücken der "Klangrede" Bachs gewohnt sind. Evtl. ändere ich für mich die Harmonien dort auch noch, damit es "friedfertiger" klingt. :D"


Bach hat keine schrägen Harmonien. :rolleyes:
 
Aber vielleicht hatte Bach Zweifel an dem ganz großen Frieden? :D
 

Oh, da hast du sicher recht. Gerade die Stelle ist ja soooo glattgebügelt, glatter gehen die Harmonien ja gar nicht mehr...:D

Also nochmal die Stelle im Anhang zum Genießen.

Es bleibt natürlich dabei, dass es zumindest mich sehr verwundert, dass ausgerechnet an der Stelle, wo von "groß Fried ohn Unterlass" die Rede ist, Bach anfängt, mit derart gewagten Harmoniefortschreitungen loszulegen, dass nicht nur damals die Gemeinde "confudieret" war ob der "vielen frembden Töne, die hereingemischet wurden", sondern dass man sich fragen muß, ob das selbst heutigen Gemeindeohren nicht auch noch so geht - und das will viel heißen.

Warum ausgerechnet an so einer Stelle, wo es um Friede ohne Unterlass geht - er macht genau das Gegenteil, was man gewohnt ist von seiner sonstigen Klangrede, wo die Musik und Harmoniefortschreitungen dem Text angepasst sind? Ich kann es mir einfach nicht erklären...

Aber vielleicht hatte Bach Zweifel an dem ganz großen Frieden? :D

Die Zweifel hätte er dann zumindest überdeutlich zum Ausdruck gebracht.:D
 

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Harmonisierung von "Allein Gott in der Höh sei Ehr"

Guten Abend!

Ein Forumsnutzer hat mich auf Zsolt Gardonyis Beiträge zu diesem Thema
aufmerksam gemacht. Die Texte sind im Wortlaut teilweise und die Pointen
in den Texten vollkommen identisch. Gardonyi ist enragierter Leitton-Verfechter.

http://www.google.de/url?sa=t&sourc...Xu3P00iCg&sig2=glKpFaluu-wvhNyEd8QBGg&cad=rja
http://www.google.de/url?sa=t&sourc...vfLmjmiew&sig2=_RYoGj0CPqjzxTPHOqt4MA&cad=rja

Die Texte sind elegant geschrieben, argumentieren aber nicht immer sorgfältig.
Zunächst einmal: Das Insistieren auf dem Melodieverlauf
des gregorianischen Originals interessiert die "Leitton"-Fraktion leider gar nicht.
Ein Fehler! Man achte in diesem "Gloria tempore Paschali"
aus der Missa "Lux et Origo" auf die Wendungen bei 2' 35'' -
zu den Worten "Quoniam tu solus sanctus. Tu solus Dominus":

http://www.youtube.com/watch?v=OVKC7oVWYBA&feature=related

Der Melodieabschnitt ist das exakte Vorbild zu "Ein Wohlgefall'n
Gott an uns hat, nun ist groß' Fried' ohn' Unterlaß."
Obwohl das Gloria in dem Tonbeispiel zu (dezenter) Orgelbegleitung
gesungen wird, kommt an keiner Stelle Kadenzierungsbedürfnis auf.

Gardonyi argumentiert mit Stimmführungsregeln aus der Zeit der modalen Mehrstimmigkeit,
unter Verweis auf die "Musica ficta", und hat damit nicht prinzipiell unrecht.
Natürlich gibt es in der vielstimmigen Chormusik der franko-flämischen Schule
Kadenz-Klauseln, die dem künftigen Tonalitätsbewußtsein zuarbeiten.
Sie werden aber nicht konsequent eingesetzt, sondern dienen innerhalb
der modal geprägten Klangbänder zur Ausformulierung von Zäsuren.

Gardonyi übergeht einen Entwicklungsschritt. Als Luther, Decius et al. anfingen,
deutschsprachige Gemeindelieder zu schaffen, haben sie sich
textlich wie musikalisch auf den Gregorianischen Choral bezogen.
Musikalisch heißt das: Sie haben aus ihm wie aus einem Steinbruch
Melodieteile extrahiert, von melismatischen Wendungen befreit etc.
Diese Vorlagen sind - wie wir gesehen haben - leittonfrei.

Es ist nicht ganz redlich, nun gleich mit Goudimel, Sermisy & Co. zu kommen,
deren mehrstimmige Sätze an allen Ecken und Enden kadenzieren,
aber bereits ein späteres Stadium der Rezeption darstellen -
nicht mehr der alten Choralmelodien, sondern der aus ihnen
transformierten evangelischen Gemeindelieder. Auch der Verweis
auf Loys Bourgeois als "Melodienspender" ist problematisch.
Erstens geht es um eine andere Melodie ("Was mein Gott will..."),
zweitens um einen anderen Kontext: frankophon und calvinistisch.
Loys Bourgeois wirkte in Genf, Lyon und Paris.

Wenn Gardonyi schon mit allem musikwissenschaftlichen Ernst
argumentieren will, muß er auch die Verbindungslinie
zwischen den Genfer Reformatoren und den mitteldeutschen Theologen,
Lieddichtern und -Komponisten belegen (Luther, Decius et al.),
was ihm schon von der Chronologie her Schwierigkeiten bereiten dürfte.
Auch theologisch sind diese Milieus kaum auf einen Nenner zu bringen,
mentalitätsgeschichtlich schon gar nicht - und musikalisch?

Niemand wird bestreiten, daß sich bei mehrstimmiger Aussetzung
der alten Gesangbuchmelodien Akzidentien eingebürgert haben.
Die Preisfrage lautet: Waren sie schon bei der Geburtsstunde dieser Melodien anwesend?
Und die zweite Frage: Ist ihre Anwesenheit dauerhaft verpflichtend?
So wie der Zeitgeschmack ihre Einführung ermöglicht hat,
könnte er jetzt zu ihrer Tilgung führen, und das eine kann von der Orgel
so plausibel begleitet werden wie das andere.

Wir erleben das Dilemma, in dem sich geisteswissenschaftliche Arbeit
seit eh und je befindet: Sie legitimiert - ohne es zu wollen -
den jeweils aktuellen Bewußtseinsstand. Gardonyi hat
das Non-Stop-Kadenzieren mit der Muttermilch aufgesogen.
Für seine Ohren klingt die leittonfreie Wendung unrettbar falsch.
Den Kindern der "liturgischen Bewegung" und des Sacro-Pop sind modale Wendungen vertraut -
ihnen geht eher der notorische Kadenzierungszwang auf den Senkel.

Wie geht es weiter?

Herzliche Grüße,

Gomez

.
 
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Ich weiß es nicht. Ich kann nur meine tiefe Not aussprechen, die mir die
an dieser Stelle mancherorts fast allsontäglich erwartungsgemäß einsetzende Kollision zwischen Gemeindegesang (fis) und Orgel (f)

bereitet. Der Inhalt des Gesangs, und die Sammlung der Gemeinde um das Lob Gottes, scheint darob komplett verlorengegangen zu sein.

Dasselbe passiert übrigens in unserer Liturgie wenige Augenblicke zuvor: im Kyrie
KyrieEleison.png

und im Lobgesang (dessen erste Zeile bei uns der Liturg singt)
EhreSeiGott.png

die beide in f-mixolydisch notiert sind, singt die Gemeinde stets ein e statt es.

Ich habe nicht wie Gardonyi etwa den Eindruck, dies
zeigt eindrucksvoll, daß die Gemeinde beim spontanen Versuch, an dieser Stelle den historisch überlieferten Leitton singend zu realisieren, nur genau das nachvollziehen möchte, was die Musikgeschichte lange vor der Entstehung dieses Liedes bereits auch vollzogen hatte
,
sondern dass unsere Gemeinde es sich einfach durig-mollig-gemütlich gemacht hat.

Die Gemeinde, in der ich aufwuchs und selber Orgelspielen lernte, hat an diesen Stellen keine Leittöne eingesetzt, und der Gesang war keineswegs unnatürlich. Im Gegenteil, er war lebendiger als das mühselige Dahinschleifen, das ich in meiner jetztigen Gemeinde allsonntäglich anschleppen muss.

Was macht man als Organist da?

"Aus tiefer Not schrei ich zu dir...":cry:
 
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Was macht man als Organist da?

"Aus tiefer Not schrei ich zu dir...":cry:

Hallo Klimperer,
nimm die Melodien für eine Improvisation zum Einzug.
Dann hat es die Gemeinde schon mal wieder 'richtig' gehört und vielleicht auch ein bißchen im Unterbewußtsein.
Harmonisiere modal, daß kein 'Leitton' möglich ist, daß es dann schräg klingt.
Die Gemeinde wird sich im Lauf der Zeit ganz langsam wieder umgewöhnen.
Nicht aufgeben und dranbleiben, so was dauert sehr lange. Es hat bestimmt auch einige Zeit gedauert bis es sich eingeschlichen hat. (Vielleicht bei Deinem Vorgänger, oder einem Pastor, der unbegleitet gesungen hat...)
Kollegiale Grüße
Toni
 
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@ Gomez:

Vielen Dank für deine - wie immer sehr fundierte- Recherche zur Leittondiskussion am Beispiel "an uns hat"!

@ Klimperer:
An der Eingangsliturgie wird zumindest in unserem Kirchenkreis schon an den von dir bezeichneten Stellen das "es" und kein "e" gesungen.

Ob man nun unbedingt der Meinung sein muß, als Organist die Gemeinde "umerziehen" zu wollen in einer - je nach Gemeinde vielleicht seit Generationen (wie man erkennen kann, sogar schon seit Bach-Zeiten!) gewachsenen Gewohnheit, wie an dieser prominenten Stelle bei "Allein Gott in der Höh" zu singen sei? :rolleyes:
Noch dazu, wenn eine Gemeinde z.B. von mehreren Organisten "versorgt" wird, die das dann mglw. unterschiedlich handhaben?
Noch dazu, wo man offenbar verschiedener Meinung sein kann, wo ein "richtig" oder "falsch" ziemlich fragwürdig ist?

Bzgl. des Bach-Satzes macht mir eigentlich eine andere Melodiestelle Kummer, da sie im Widerspruch zur gängigen Sangespraxis steht: bei "Nun ist groß Fried" hat Bach "h" notiert statt "b" (siehe Notenanhang):

Ich habe daher, um die gewürzten Harmonien beibehalten zu können, inzwischen den Kompromiss gewählt, und spiele dort einen Achteldurchgang von "b" über "h" nach "c". So passt es besser zum Gemeindegesang, und ich kann die Harmonien beibehalten.

Habe inzwischen den Bach-Satz, wie er mit den Vereinfachungen vorgestellt wurde, in weiter leicht veränderter Form mehrfach in der Gottesdienstpraxis gespielt. Der Pfarrer meinte, dass ihm zwar die Harmonien interessant vorkämen, aber die Gemeinde doch irritiert sei. Eventuell werde ich versuchen, eine andere Registrierung zu wählen, wo die Melodiestimme auf getrenntem Manual stärker durchkommt und die Harmonisierung etwas zurücktritt. Schließlich soll die Gemeinde zum Singen animiert werden und nicht abgeschreckt werden.
 

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Dasselbe passiert übrigens in unserer Liturgie wenige Augenblicke zuvor:
Im Kyrie und im Lobgesang (dessen erste Zeile bei uns der Liturg singt),
die beide in f-mixolydisch notiert sind, singt die Gemeinde stets ein e statt es.

Lieber Klimperer,

e statt es? Das klingt ja wie Musikantenstadl!

Dabei läßt sich die Modalität sogar theologisch rechtfertigen. Das irdische Gotteslob
wurde als akustisches Äquivalent zum himmlischen Gotteslob verstanden.
Als wichtigstes Textzeugnis für diese Wahrnehmung dient Psalm 29,
dessen erster Vers die Bene Elohim zum Kabod, d.h. zum Gotteslob aufruft:

הָבוּ לַיהוָה, בְּנֵי אֵלִים; הָבוּ לַיהוָה, כָּבוֹד וָעֹז

In der 1912er Luther-Übersetzung:

Bringet her dem HERRN, ihr Gewaltigen, bringet her dem HERRN Ehre und Stärke!

Damit korrespondiert der in Vers 9 b genannte Kabod des Tempelgesangs:

וּבְהֵיכָלוֹ-- כֻּלּוֹ, אֹמֵר כָּבוֹד

Bei Luthern:

und in seinem Tempel sagt ihm alles Ehre.

Das menschliche Gotteslob korrespondiert mit dem Gesang der Engel.

Den Gesang der Engel hat man sich als musikalisches Kontinuum vorgestellt,
als unaufhörlich, nie abbrechend. Näheres dazu bei ---> Oliver Huck, dessen Arbeiten
über die menschlichen Vorstellungen von "Engelsmusik" spannender als ein Kriminalroman sind.
Hier dazu ein Hinweis - leider nur auf "Spiegel"-Niveau:
http://www.google.de/url?sa=t&sourc...Cq_NIiZrA&sig2=ZFr5PA5bQpq4ZnTW8j3_HQ&cad=rja.

Musikalisch ist gerade die Vermeidung des Leittons eine Chiffre für Unabgeschlossenheit,
Unendlichkeit - ein wesentliches Merkmal vorneuzeitlicher Sakralmusik.
Die in der Renaissance-Vokalpolyphonie gebräuchlichen Klauseln,
auf die sich Gardonyi unter Verweis auf die 'musica ficta' beruft,
dienen der Strukturierung längerer Musikabschnitte, im "Gloria" und "Credo",
den besonders textlastigen Meßteilen, unvermeidbar. Dessenungeachtet
sind die Meßvertonungen von Dufay bis Ockeghem, Josquin des Prez u.v.a.
schier unendlich wirkende Klangbänder - und sollen auch so wirken:
als tönendes Abbild der Himmelsmusik. Kadenziert im Sinne des forumsintern
sprichwörtlich gewordenen "Schluß.Peng.Aus!" wird dort gerade nicht.

Für den Gemeindegesang in lutherischen oder reformierten Kirchen müßte eigentlich
dasselbe gelten; auch er korrespondiert mit dem himmlischen Gotteslob.
Das Wissen darum scheint mit dem zunehmenden Gebrauch liedhaft gebauter Melodien
verlorengegangen zu sein, und die Gepflogenheiten des Kantionalsatzes haben
zum Verlust beigetragen. Letztes Refugium der Leitton-Freiheit sind (oder waren)
im lutherischen Wortgottesdienst "Herr, erbarme Dich" und "Ehre sei Gott",
im Abendmahlsgottesdienst ergänzt um das "Christe, Du Lamm Gottes".

Und jetzt wird da wie bei einem Karnevalsschlager kadenziert?
Schunkelt die Gemeinde dann auch dazu?

Herzliche Grüße (eines entsetzten)

Gomez

.
 
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Ja, Christoph, was soll ich noch sagen...

Ich hatte bei meinem Vater Orgelunterricht, der 1963-65 in Hannover an der Kirchenmusikhochschule studiert hat - u.a. bei Immelmann, Löffelholz... (und dort auch meine Mutter kennenlernte - welch ein Glück für mich :)) - und beide, Vater und Mutter, haben es mir schon immer nahegelegt: der Gemeindegesang und die Kirchenmusik reihen sich zwar in das ewige Gotteslob ein, aber sind und bleiben eben menschlich. Dies ist das spannende, stets herausfordernde Wirkungsfeld des Organisten. Vater sagte mir das u.a. mal in einer Orgelstunde, als ich wegen meiner Spielfehler und Unzulänglichkeiten (musikalisch-technisch ebenso wie teenager-menschlich) zutiefst frustriert war.

Und dass genau die Vermeidung des Leittons genau diese unvollkommene Menschlichkeit symbolisiert, sagte er mir gerade neulich wieder, vor wenigen Wochen, als ich ihn zu diesem Thema anrief!

Ja, in den hiesigen Gemeinden wurden (und werden bis heute) tatsächlich Karnevalsschunkeleien aus der Liturgie gemacht. Ex Africa semper aliquid novum, es lebe der Leitton.

Arbeitet man dagegen an? Oder stinkt man etwa dagegen an? Motzen, schimpfen, Hasstirade? Das kann's ja auch nicht sein! Meine Aufgabe ist es doch, die Gemeinde zu rufen, sammeln, tragen, führen - aber nicht zum "es" oder "e", sondern zu Gott.

Und wenn nun die röhrenden Elche (junge wie alte) da jeden Sonntag einen Leitton hineinschmettern - ausgerechnet ins Kyrie, wo doch JUST der erlösungsbedürftige, unvollkommene Mensch fleht!!! - was soll man(n) da noch machen?

Wenn ich hier und dort mal versuche, im kleinen Kreise etwas zum Thema zu sagen, laufe ich sofort die Gefahr, als besserwesserisch dazustehen... "Wir haben das schon immer so gesungen, junger Mann." (Ich bin ja nur 40, und Laie dazu, was ist das schon, gegen 250 Jahre Diasporageschichte.)

Du, der du das hier wohl zum ersten Mal liest, bist ganz zu Recht entsetzt. Ich bin mittlerweile, zwanzig Jahre und fünf Gemeinden später, einfach nur noch traurig-resigniert, und merke jetzt erst, welche Bärenarbeit meine Eltern damals in meiner Heimatgemeinde geleistet haben müssen.

Mein Vater hat in den vergangenen Jahren eine Handleitung zum evangelischen Gottesdienst geschrieben, die versucht, in nur wenigen Seiten diese Zusammenhänge und Hintergründe aufzuzeigen. Ganz schlicht, aber mit triftigem Quellenverzeichnis für den, der mehr wissen will.

Aber es interessiert sich (fast) keiner dafür. Jedenfalls nicht die Leittonbrüller.

Ein trauriges Adieu vom leittongebeutelten
Klimperer.
 

Mein Vater hat in den vergangenen Jahren eine Handleitung
zum evangelischen Gottesdienst geschrieben, die versucht, in nur wenigen Seiten
diese Zusammenhänge und Hintergründe aufzuzeigen. Ganz schlicht,
aber mit triftigem Quellenverzeichnis für den, der mehr wissen will.

Lieber Klimperer,

darüber möchte ich gerne mehr wissen.
Verrätst Du mir den Titel des Buchs - und den Namen seines Verfassers?
Notfalls per PN?

Herzliche Grüße,

Gomez
 
Und dass genau die Vermeidung des Leittons diese unvollkommene Menschlichkeit symbolisiert,
sagte er mir gerade neulich wieder, vor wenigen Wochen, als ich ihn zu diesem Thema anrief!

Wobei ich gerade an diesem Punkt Deinen Vater nicht verstehe -
für mich ist das notorische Kadenzieren Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit:
ein Ausdruck geistiger Trägheit, Kurzatmigkeit, eines permanenten Ausruh-
und Absicherungsbedürfnisses.

Wer das Gegenteil erleben will, müßte einmal singend oder hörend
den weitgeschwungenen gregorianischen Choralmelodien nachlauschen -
oder sich mit einer Messvertonung des 15. oder 16.Jahrhunderts beschäftigen.

Das ideale Heilmittel bei Leitton-Unverträglichkeit!
 
Wobei ich gerade an diesem Punkt Deinen Vater nicht verstehe -
für mich ist das notorische Kadenzieren Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit:
ein Ausdruck geistiger Trägheit, Kurzatmigkeit, eines permanenten Ausruh-
und Absicherungsbedürfnisses.

Ich sehe da keinen Widerspruch. Mein Vater meinte die Symbolik im Gesang - nicht das, was die Gemeinden daraus gemacht haben.

Sich seine Unvollkommenheit einzugestehen, und bewusst mit ihr umzugehen, und in diesem Sinne "leittonfrei zu singen", erfordert geistige Wachheit, ist keine Sache der Gemütlichkeit.

Ciao,
Mark
 
Um mal im Stil eines pietistischen Erweckungspredigers zu argumentieren:

Halbe Sachen macht ein frommer Christenmensch nicht, er ist ganz bei Gott.
Also singt er auch den Ganztonschritt.

Und er läßt sich nur von Gott leiten, nicht von Tönen - also meidet er den Leitton.

To be Born Again is to avoid the halftone!

Ciao,

Gomez
 
Gute Sätze! Die werde ich meinem Freund und Mitstreiter, dem Chorleiter unserer Gemeinde, mal weiterleiten...:)
 
Nachtrag - mir ist ein Buch in die Hände geflattert:

Philipp Wolfrum:

Die Entstehung und erste Entwickelung des deutschen evangelischen Kirchenliedes
in musikalischer Beziehung - für Theologen und kirchliche Musiker
dargestellt von Ph.Wolfrum

Leipzig, 1890 (Breitkopf & Härtel)

unveränderter Nachdruck, Wiesbaden 1972 (Dr.Martin Sändig oHG)

darin ist auf Seite 193 die Melodie von "Allein Gott in der Höh sei Ehr" wiedergegeben,
und zwar in der Version des Wolffschen Gesangbuchs von 1570:

Kirchen Ge=|säng/ Auß dem Witten=|bergischen/ vn[d] allen andern den |
besten Gesangbüchern/ so biß anhero | hin vnd wider außgangen/ colligirt vnd gesam=let/
In eine feine/ richtige vnd gute Ordnung ge=|bracht/ vnd auffs fleißigest/
vnd nach den | besten exemplaren/ corrigiret | vnd gebessert.|
Fürnemlich den Pfarherrn/ Schul=|meistern vnd Cantoribus/ so sich mit jren |
Kirchen zu der Christlichen Augspurgi=|schen Confession bekennen/ vnd bey
den=|selben den Chor mit singen/ regie=|ren vnd versorgen müssen/ zu |
dienst vnd zum be=|sten. | P | Gedruckt zu Franckfurt am | Mayn/ bey Joan. Wolffen. |
M. D. LXX.

In Johannes Wolffs Gesangbuchversion ist die Melodie leittonfrei.

.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Das F finde ich nicht im mindesten "grauenhaft" -
zumal die nächste Choralzeile ja auch mit einem Ganztonschritt (A-G-A) endet.
Dort ein Gis hinzusetzen, wäre dann wohl die ultimative "Diskantverklausulierung".

Helau, Alaaf etc.!

Hier die ultimative Harmonisierung, in der f und fis, g und gis zugleich erklingen.

Freunde und Gegner des Leittons fallen sich versöhnt in die Arme.

Gruß, Gomez
 

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  • Ein Wohlgefalln.pdf
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Versöhnt... oder ("Nachbarin, Ihr Fläschchen!!!") ohnmächtig. :p

Als ich heute morgen auf'm Kalender den 11.11.11 sah, fragte ich mich, was der Tag so alles bringen würde, aber mit SO etwas hatte ich nicht gerechnet. (Bei mir steht zwar 12:11, aber wenn ich es recht verstehe, war es bei dir genau 11:11, als du den Beitrag einstelltest.) Herrlich, Christoph!

Ich bin doch sehr versucht, deine Harmonisierung beim nächsten Gottesdienst einzusetzen - zumal die Gemeinde eh schon ein Fis gegen mein F singt. Wenn schon, denn schon... pecca fortiter. :D

Närrische Grüße aus den stinkheißen Subtropen!
Mark
 
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