Harmonisierung von "Allein Gott in der Höh sei Ehr"
Guten Abend!
Ein Forumsnutzer hat mich auf Zsolt Gardonyis Beiträge zu diesem Thema
aufmerksam gemacht. Die Texte sind im Wortlaut teilweise und die Pointen
in den Texten vollkommen identisch. Gardonyi ist enragierter Leitton-Verfechter.
http://www.google.de/url?sa=t&sourc...Xu3P00iCg&sig2=glKpFaluu-wvhNyEd8QBGg&cad=rja
http://www.google.de/url?sa=t&sourc...vfLmjmiew&sig2=_RYoGj0CPqjzxTPHOqt4MA&cad=rja
Die Texte sind elegant geschrieben, argumentieren aber nicht immer sorgfältig.
Zunächst einmal: Das Insistieren auf dem Melodieverlauf
des gregorianischen Originals interessiert die "Leitton"-Fraktion leider gar nicht.
Ein Fehler! Man achte in diesem "Gloria tempore Paschali"
aus der Missa "Lux et Origo" auf die Wendungen bei 2' 35'' -
zu den Worten "Quoniam tu solus sanctus. Tu solus Dominus":
http://www.youtube.com/watch?v=OVKC7oVWYBA&feature=related
Der Melodieabschnitt ist das exakte Vorbild zu "Ein Wohlgefall'n
Gott an uns hat, nun ist groß' Fried' ohn' Unterlaß."
Obwohl das Gloria in dem Tonbeispiel zu (dezenter) Orgelbegleitung
gesungen wird, kommt an keiner Stelle Kadenzierungsbedürfnis auf.
Gardonyi argumentiert mit Stimmführungsregeln aus der Zeit der modalen Mehrstimmigkeit,
unter Verweis auf die "Musica ficta", und hat damit nicht prinzipiell unrecht.
Natürlich gibt es in der vielstimmigen Chormusik der franko-flämischen Schule
Kadenz-Klauseln, die dem künftigen Tonalitätsbewußtsein zuarbeiten.
Sie werden aber nicht konsequent eingesetzt, sondern dienen innerhalb
der modal geprägten Klangbänder zur Ausformulierung von Zäsuren.
Gardonyi übergeht einen Entwicklungsschritt. Als Luther, Decius et al. anfingen,
deutschsprachige Gemeindelieder zu schaffen, haben sie sich
textlich wie musikalisch auf den Gregorianischen Choral bezogen.
Musikalisch heißt das: Sie haben aus ihm wie aus einem Steinbruch
Melodieteile extrahiert, von melismatischen Wendungen befreit etc.
Diese Vorlagen sind - wie wir gesehen haben - leittonfrei.
Es ist nicht ganz redlich, nun gleich mit Goudimel, Sermisy & Co. zu kommen,
deren mehrstimmige Sätze an allen Ecken und Enden kadenzieren,
aber bereits ein späteres Stadium der Rezeption darstellen -
nicht mehr der alten Choralmelodien, sondern der aus ihnen
transformierten evangelischen Gemeindelieder. Auch der Verweis
auf Loys Bourgeois als "Melodienspender" ist problematisch.
Erstens geht es um eine andere Melodie ("Was mein Gott will..."),
zweitens um einen anderen Kontext: frankophon und calvinistisch.
Loys Bourgeois wirkte in Genf, Lyon und Paris.
Wenn Gardonyi schon mit allem musikwissenschaftlichen Ernst
argumentieren will, muß er auch die Verbindungslinie
zwischen den Genfer Reformatoren und den mitteldeutschen Theologen,
Lieddichtern und -Komponisten belegen (Luther, Decius et al.),
was ihm schon von der Chronologie her Schwierigkeiten bereiten dürfte.
Auch theologisch sind diese Milieus kaum auf einen Nenner zu bringen,
mentalitätsgeschichtlich schon gar nicht - und musikalisch?
Niemand wird bestreiten, daß sich bei mehrstimmiger Aussetzung
der alten Gesangbuchmelodien Akzidentien eingebürgert haben.
Die Preisfrage lautet: Waren sie schon bei der Geburtsstunde dieser Melodien anwesend?
Und die zweite Frage: Ist ihre Anwesenheit dauerhaft verpflichtend?
So wie der Zeitgeschmack ihre Einführung ermöglicht hat,
könnte er jetzt zu ihrer Tilgung führen, und das eine kann von der Orgel
so plausibel begleitet werden wie das andere.
Wir erleben das Dilemma, in dem sich geisteswissenschaftliche Arbeit
seit eh und je befindet: Sie legitimiert - ohne es zu wollen -
den jeweils aktuellen Bewußtseinsstand. Gardonyi hat
das Non-Stop-Kadenzieren mit der Muttermilch aufgesogen.
Für seine Ohren klingt die leittonfreie Wendung unrettbar falsch.
Den Kindern der "liturgischen Bewegung" und des Sacro-Pop sind modale Wendungen vertraut -
ihnen geht eher der notorische Kadenzierungszwang auf den Senkel.
Wie geht es weiter?
Herzliche Grüße,
Gomez
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