Haben Lehrer Angst vor "zu lautem" Klavierspiel

ich taste mich erst ganz ganz vorsichtig an die Klassik heran, also bitte köpft mich jetzt nicht, wenn ich eine dumme Anmerkung bringe: Ich frage mich gerade, ob nicht Aufzeichnungen oder Notizen von Chopin existieren, aus denen man das Tempo erfassen kann? Oder eine generelle Information, wie er seine Musik verstanden und gespielt haben will?
Gibt es in Pianistenkreisen so etwas wie künstlerische Freiheit oder wollen sich die Damen und Herren einfach nur profilieren?
Anscheinend sind sich auch die Kritiker nicht so ganz einig, ob sie die Interpretation der jungen Dame gut oder schlecht einschätzen sollten.
Jedenfalls hat sie die Haare schön.

Es gibt zum Teil Metronomangaben, z.B. für die Etüden, für die Balladen weiß ich nicht, ob es Metronomangaben gibt.
Die Tempoangaben sind recht hoch bei den Etüden. Meine Meinung: mit angegebenem Tempo ja, etwas langsamer ja, schneller nein.
Die leichteren Instrumente zu Chopins Zeit provozierten ein etwas höheres Tempo als die heutigen.
Manche Metronomangaben reichen auch für einen eigenen Thread, z.B. die von Beethoven Op. 106.

Und eine künstlerische Freiheit gibt es selbstverständlich in einem gewissen Maße, aber die Dame beispielsweise will sich selbst profilieren, indem sie sich über das Werk stellt, das ist einfach riesiger Mist.
Viele Leute mit wenig Kenntnissen halten so etwas dann für besonders ausdrucksvoll und individuell.
Dabei zeigen Leute wie Avdeeva, wie man hoch sensibel, werkgetreu und dennoch individuell Stücke interpretieren kann, ohne irgendwelche aufgesetzten, künstlichen Verschandelungen einzubauen.
Auch sehr exzentrische, charakterlich etwas seltsame Leute wie Gulda zeigen, dass man mit werkgetreuer (was das genau ist, kann auch Gegenstand von langer Diskussion sein) Interpretation dennoch durchaus herausstechen kann.
 
erst mal Danke an @St. Francois de Paola .
Was ich bei meinem arg begrenzten Repertoire feststelle ist, dass ich bei eher langsameren und vermeintlich einfacheren Stücken länger brauche, um die Musik spürbar zu machen und zum Leben zu bringen. Bei schnelleren ist es manchmal "leichter", man übt einfach die technischen Passagen so lange, bis man es kann. Ist dies bei anspruchsvoller Musik auch so? Haben die Profis da auch Probleme oder kommt die Musikalität automatisch mit der Perfektion des technischen Vortrags?
 
erst mal Danke an @St. Francois de Paola .
Was ich bei meinem arg begrenzten Repertoire feststelle ist, dass ich bei eher langsameren und vermeintlich einfacheren Stücken länger brauche, um die Musik spürbar zu machen und zum Leben zu bringen. Bei schnelleren ist es manchmal "leichter", man übt einfach die technischen Passagen so lange, bis man es kann. Ist dies bei anspruchsvoller Musik auch so? Haben die Profis da auch Probleme oder kommt die Musikalität automatisch mit der Perfektion des technischen Vortrags?

Also ich bin ja kein Profi, habe aber eine gewisse Erfahrung. Aber es gibt einige Stücke, die ich noch lange nicht technisch beherrsche, wenn ich sie nahezu fehlerfrei spielen kann. Man braucht halt auch eine gewisse Technik, um den Klang zu bekommen, den man haben will.
Das ist bei mir besonders ausgeprägt. Z.B. für die Introduktion vom Rondo capriccioso wurde ich sehr gelobt, allerdings erst nach einer ganzen Weile üben, vorher klang die nur Mist. Selbst meine Klavierlehrerin hat mir erst hinterher geglaubt, dass ich im Kopf schon die gute Interpretation hatte, diese nur mit den Fingern noch nicht umsetzen konnte, obwohl es ja nicht schwer ist, da die richtigen Töne zu spielen.
Und ich finde, dass das bei langsamen Stücken oft einfacher ist, wenn man nicht zu langsam spielt.
Man kann leichter den großen Bogen ausgestalten.
Meine Klavierlehrerin hat immer gesagt, es gäbe nichts Schwierigeres auf der Welt, als ein langsames Stück auf dem Klavier zu spielen.
 
Auf jeden Fall eine schreckliche Interpretation ohne Respekt vor dem Werk, erinnert an Lang Langs Verschandelung der zweiten ungarischen Rhapsodie von Liszt.
Wobei diese eher so angelegt ist, dass man da am Notentext etwas verändern könnte, ohne das Stück zu verschandeln (solange man da nicht so eine widerliche, nicht zum Rest passende Hamelin-Kadenz einfügt).

Eine Kadenz hat nun mal die Funktion, dem Solisten maximale Freiheit zu geben. Das beinhaltet die Möglichkeit, sich auch stilistisch weit vom Werk zu entfernen (obwohl Hamelin das gar nicht tut). Aus diesem Grund finde ich die Hamelin-Kadenz sogar ziemlich gut und vermute, dass sogar Liszt seinen Spaß daran gehabt hätte. Die ungarischen Rhapsodien sind in erster Linie Virtuosenmusik, da darf man dann die Virtuosität auch mal auf die Spitze treiben. Das ist doch kein Parsifal!

Aber auch bei musikalischen Schwergewichten sehe ich das nicht längst nicht so eng wie du. Ich finde beispielsweise die Schnittke-Kadenz zu Beethovens Violinkonzert ganz toll. Natürlich hätte man die zu Beethovens Zeit nicht spielen können - aber wir haben heute nun mal andere Hörerfahrungen als das Publikum im 19. Jahrhundert.
 
OK bei nochmaligem Anhören ist die nicht so schlimm wie ich in Erinnerung hatte, ich mag sie aber noch immer nicht, weil sie harmonisch nicht zum Rest passt. Gegen extrem virtuos habe ich nichts. Das ist sicher im Sinne von Liszt und passt auch dazu.
Wenn man dagegen in ein Mozart-Konzert eine zu virtuose Kadenz einfügt, wird dadurch die Spannung vom Rest irgendwie entwertet und die Kadenz klingt fremd und übertrieben.
Mir geht es nicht nur darum, dass Heiligtümer nicht zu entweihen sind, sondern dass Stücke einfach für ihre Stilepoche komponiert wurden und einfach nicht klingen, wenn man solche seltsamen Harmonien einbaut wie in der 4. Ballade von Chopin gegen Ende.
Gerade die 4. Ballade ist ein Stück, bei dem jeder einzelne Ton sehr gewählt gesetzt ist.
 
Aber auch bei musikalischen Schwergewichten sehe ich das nicht längst nicht so eng wie du. Ich finde beispielsweise die Schnittke-Kadenz zu Beethovens Violinkonzert ganz toll. Natürlich hätte man die zu Beethovens Zeit nicht spielen können - aber wir haben heute nun mal andere Hörerfahrungen als das Publikum im 19. Jahrhundert.
wessen Kadenz zu Beethovens Violinkonzert wird eigentlich meistens gespielt?
und in Mendelsohns e-Moll Konzert?
...stilistisch doch etwas verschieden von Beethovens c-Moll Konzert ist übrigens die Brahms-Kadenz :-)

und dann -- halt... was ist hier das Thema?
 
Thema ist eigentlich extreme Schwankung der Dynamik. Und da sage ich, hängt vom Stück und Komponisten und von der Epoche ab, wie sehr sie das soll.

Die auf der ersten Seite gepostete Interpretation von Orage ist sicherlich übertrieben und sicherlich keine gute Interpretation, ich finde aber, sie ist es wert, einmal angehört zu werden. Manche spielen dieses Stück zwar expressiv aber meiner Meinung nach zu verweichlicht - das geht immernoch um ein Gewitter, das sollte man nicht spielen wie einen Nocturne.
Und ich übe es derzeit (dafür brauche ich noch eine ganze Weile, ist stellenweise echt gemein) und ich kann nur sagen, mein Klavier wird leiden (wenn auch nicht so wie in dem Video).

Bei Mozart sollte man aber zu große Dynamikunterschiede eher vermeiden. Bei Chopin sind sie auch angebracht, aber das fortissimo sollte m.E. meist nicht ganz so hart und kämpferisch klingen dürfen wie oft bei Liszt (kommt natürlich immer auch auf das jeweilige Stück an).

Wichtig ist natürlich auch immer, dass es genügend Facetten gibt und nicht nur extreme Gegensätze, sondern eben auch extreme Gegensätze.
 
Wichtig ist natürlich auch immer, dass es genügend Facetten gibt und nicht nur extreme Gegensätze, sondern eben auch extreme Gegensätze.
Lies diesen Satz vielleicht noch mal... :-)

Ich bin der Meinung, dass eine Kadenz dem Interpreten zwar jede Freiheit gibt und er mit dieser Freiheit prinzipiell machen kann, was er will. Es ist aber schon die Frage, ob er sich selbst oder das Stück darstellen will. Die Kadenz hat zwar auch die Funktion, dass der Interpret sich darstellen und zeigen kann, aber wenn die Balance zwischen dem eigentlichen Werk und der Kadenz verloren geht, dann stimmt was nicht. Der Interpret sollte seine Freiheit so nutzen, dass die Kadenz sich in das eigentliche Stück sinnvoll einfügen kann. Dies ist z.B. schnell gefährdet, wenn man sich stilistisch und harmonisch zu weit vom gespielten Werk entfernt oder auch wenn es zu sehr ausufert und zu lang wird. Deshalb denke ich, dass eine Kadenz sich trotz aller Freiheit des Interpreten dem eigentlichen Werk eher unterordnen sollte bzw. ihren Sinn aus dem Werk heraus begründen sollte. Wie so oft: nicht alles, was gemacht werden kann, sollte auch gemacht werden.

Grüße von
Fips
 
@Fips7 es ist doch Hinweis genug, dass sich ab Chopin, Mendelssohn, Schumann fast keine freien Kadenzen mehr finden, sondern die Komponisten die Kadenzen lieber selber herstellten
:-)
 

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