Es gab Untersuchungen, bei denen mit Messgeräten die maximalen Abweichungen guter Stimmer in der Temperaturoktave mit etwa 1 cent vom Ideal ermittelt wurden. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass gute Stimmer sehr nah an die exakt gleichstufige Temperierung herankommen. Gleichwohl ist es auch ein bekanntes Phänomen, dass kaum zwei Klavierstimmer ein Instrument auf dieselbe Art und Weise stimmen werden, denn die Temperatur ist ja nur ein Aspekt.
Das Problem der Inharmonizität spielt in der Temperaturoktave übrigens keine sehr große Rolle, weil die Saitendurchmesser und Zugverhältnisse nicht sehr unterschiedlich sind. Die zusätzliche Spreizung, die man aufgrund der Inharmonizität in der Temperaturoktave verwendet, ist um ein cent. Allerdings ergeben sich hier auch gewisse Möglichkeiten, bereits die erste Oktave ganz leicht zusätzlich zu spreizen um mehr Raum für die Temperierung von Intervallen zu haben. Man muss dabei immer im Hinterkopf behalten, dass es bei der Temperatur um die Verteilung von Kompromissen geht. Gerade durch die Inharmonizität ergibt sich beim Oktavstimmen ein Spielraum, den man nutzen kann.
Ein normales chromatisches Stimmgerät wäre also durchaus geeignet, die Temperaturoktave zu messen, wenn - und das ist das eigentliche Problem - die Ablesegenauigkeit groß genug wäre. Hier sehe ich bei normalen Zeigerinstrumenten Grenzen in der Genauigkeit durch das Ablesen vorgegeben. Nicht umsonst arbeiten speziell für das Klavierstimmen geeignete Stimmgeräte mit Stroboskop-Anzeigen o.ä. genau ablesbaren Darstellungen.
Die starke Ablehnung anderer Temperierungen als der gleichstufigen, hat m.E. sehr viel damit zu tun, dass es nur wenige Stimmer gibt, die sich mit modifizierten Wohltemperierungen beschäftigen und diese stimmen können und ihren Kunden somit entsprechende Vorschläge oder Angebote machen können. Die gleichstufige Temperatur entspricht dem derzeit geltenden Zeitgeist, womit ich nicht sagen will, dass damit keine guten Ergebnisse erzielt werden können. Vieles hat auch mit Gewöhnung zu tun. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Komponisten, deren Werke heute auf gleichstufig gestimmten Instrumenten vorgetragen und geübt werden, im 17./18./19. Jahrhundert gewiss alles andere als gleichstufig gestimmte Instrumente hatten.
Wenn man sich den herben Klangcharakter älterer Temperierungen nicht antun möchte, so ist dies gewiss nachvollziehbar. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Temperierungen, die für das moderne Klavier geeignet sind und beispielsweise für die Tonarten um C-Dur reinere Klänge ermöglichen als bei der gleichstufigen Temperatur, was man sich mit stärker schwebenden Intervallen mit aufsteigenden Vorzeichen erkauft, wobei gerade der Wechsel zwischen Spannung und Entspannung ja auch ein Grundprinzip der Musik ist. Wenn man nach Temperierungen im Internet sucht, gibt es Grafiken, die sehr gut verdeutlichen, in welchem Maß die Stärke der Temperierung einer Tonart im Vergleich zur gleichstufigen Temperatur zu- bzw. abnehmen.
http://www.youtube.com/watch?v=41xRupc3Hz8&feature=related
(auch viele schöne Hörbeispiele mit dieser Stimmung)