Geringschätzung vereinfachter Versionen - eine Deutsche Ideologie?

  • Ersteller des Themas Bernhard Hiller
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Absolut. Der Motivationsschub, gerade für Kinder, ist erheblich, wenn sie Gassenhauer zum Spielen kriegen, irgendwas, was auch alle Freunde wiedererkennen.
Muss ein Gassenhauer denn vereinfacht sein? Muss es die Elise sein oder Mozarts ala Turca, die man auf Erstklässler Niveau hinpfuscht? Wie wärs denn mal aus dem einstimmigen "alle mein Entchen" ein mehrstimmiges Stück zu machen mit Variationen? Da geht bestimmt einiges, ohne dass es zu schwer wird. Aber dafür fehlt die Phantasie, die künstlerische Begabung. Da wird lieber der arme Mozart oder Beethoven verkrüppelt.

Meine Tochter hat irgendwann nach einem halben Jahr ein ziemlich unbekanntes Anfängermenuett von Mozart gespielt - im Original, das hat sie jedem, der es nicht wollte vorgespielt und alle waren beeindruckt. Auch ganz ohne Wiedererkennungswert. Leider hat sie danach die Lust verloren...
 
Ich selber habe drei kleine Kinder die Klavierunterricht nehmen. Sie sind vor kurzem gewechselt von einer Lehrerin, die Originalstücke a la "Russische Klavierschule" mit ihnen gespielt hat, zu einem Lehrer, der auch mal gerne vereinfachte bekannte Stücke nimmt. Ob es mir passt oder nicht, ich muss anerkennen dass die Motivation meiner Kinder dadurch einfach deutlich steigt. Der künstlerische Wert der Stücke ist mir im Moment ehrlich gesagt ziemlich egal; im Moment zählt für mich, dass sie erstmal dabeibleiben und nicht das Handtuch schmeissen.
 
Wenn ich jetzt böse wäre und die beiden Postings mit dem 'bildungsbürgerlichen Schaulaufen' und "gestiegener Motivation bei Kindern' kombiniere, hätten wir: Der durchschnittliche Zuhörer weiß von Musik nicht mehr als ein kleines Kind.

OK, das war mir eigentlich auch schon vorher klar. :-)

Grüße
Häretiker
 
Da spiele ich mich als Anfänger lieber langsam weiter von meinem Anfänger Level 1 bis 3 hoch anstatt direkt zu versuchen "zu posen".
Deshalb mein Stichwort „Mogelpackung“: Posen, obwohl das Dargebotene nicht zum Posen ausreicht und man sich lediglich eine wohlbekannte Vorlage ausgeborgt hat.

Andererseits ist es immer noch mehr wert, mit reduziertem Anspruch zu musizieren als überhaupt nicht. Trotzdem gibt es gute Gründe für die Klarstellung, ob das Original oder eine Bearbeitung gespielt wird. So viel Ehrlichkeit sollte schon möglich sein.

LG von Rheinkultur
 
Wie wärs denn mal aus dem einstimmigen "alle mein Entchen" ein mehrstimmiges Stück zu machen mit Variationen? Da geht bestimmt einiges, ohne dass es zu schwer wird. Aber dafür fehlt die Phantasie, die künstlerische Begabung.
Hier auch? Könnten wir nicht mal wieder einen Kompositions-Workshop starten und jeden mit tonsetzerischen Ambitionen eine Variation schreiben lassen? Gab es hier schon zu anderen Gelegenheiten und die Ergebnisse waren ganz ordentlich.

LG von Rheinkultur
 
Bist nich böse. Was denkste wohl, warum ich bei dem Konzert überhaupt anwesend war? Weil ich (bzw. mein Kind) da mitmache, bei dem bildungsbürgerlichen Schaulaufen. Und mich manchmal frage, was das soll, und ob das alles so richtig ist. Aber was ist der richtige Weg, Kinder auch an Musik heranzuführen, und wie geht man damit um, wenn ein Kind muszieren möchte, die Eltern aber überhaupt keine Vorstellung davon haben, was das bedeutet?

Also ... vielleicht muss es dieses bildungsbürgerliche Schaulaufen geben? Sozusagen als Sprungbrett für die, die irgendwann die extra Meile (also Stufe 3) gehen werden?

* * * * *​

Und außerdem kann ich es mir wie folgt schönreden: Die Stufe 1 (Wiedererkennen eines Gassenhauers) funktioniert ja nur, weil wir den Gassenhauer irgendwann mal auf Stufe 3 (tolle Darbietung) gehört haben. Nur dadurch wurde es ja zum Gassenhauer. Unser Gehirn arbeitet assoziativ; schon die Erinnerung an die gehörte Version verschafft uns ein erneutes positives Erlebnis. Insofern ist der Hörer, der sich mit Stufe 1 zufriedengibt, moralisch entlastet.
:-):super:

Mit Blick auf den Interpreten ist diese Sichtweise natürlich erst recht negativ: Statt über das eigene Spiel erreicht er den Hörer über die Erinnerung an das Spiel eines anderen. Huckepack, sozusagen. Schmarotzend. Ei ei, ich mag gar nicht weiter drüber nachdenken.
 
Warum wird die Wahrheit so oft als böse bezeichnet?

Weil wir Menschen sie weder gerne hören, noch ertragen. Sie zerstört im Regelfall unser Selbstbild und führt uns in die Depression. Das Nicht-wahr-haben-wollen sogenannter "Wahrheiten" ist ein völlig normaler und notwendiger Schutzmechanismus der menschlichen Psyche. Das ist auch der Grund, warum Psychologen oft mehr Schaden anrichten, als dass sie heilen. Jeder Mensch hat seine eigenen Wahrheiten und es macht wenig Sinn, diese eigenen Wahrheiten über andere Menschen aus zu schütten.

Andreas
 
Also ... vielleicht muss es dieses bildungsbürgerliche Schaulaufen geben?
Ist es das überhaupt?

Sind Deine Tochter und Du dort gewesen, um andere zu beeindrucken oder hat Deine Tochter es gemacht, um Erfahrungen zu sammeln und zu zeigen, was sie gelernt hat und Du warst da, weil Deine Tochter noch keinen Führerschein hat und um sie moralisch zu unterstützen?
 
Sind Deine Tochter und Du dort gewesen, um andere zu beeindrucken oder hat Deine Tochter es gemacht, um Erfahrungen zu sammeln und ...
Die positive Selbstwahrnehmung ist natürlich: Um Erfahrungen zu sammeln. Aber ein bisschen Angeben ist doch auch immer dabei. Sonst würde ich doch hier gar nicht drüber schreiben.
warst da, weil Deine Tochter noch keinen Führerschein hat
Nein, weil ich sie immer selbst am Klavier begleite. Ich hab also immerhin selbst gepost und nicht (nur) mein Kind vorgeschickt.
:-D:-D:-D

Du hast es ja nicht gehört. Teilweise ist das, was da vorgeführt wird, so schlecht, dass es selbst mit Kinderbonus auf keine Bühne gehört und auch keinen Applaus verdient. Da wird mit der rechten Hand einstimmig eine Melodie getippt, ohne jeden Rhythmus, und die KL spielt dazu die Begleitung. Das sollte ein Kind in 2 Stunden lernen können, ohne Begabung und ohne Unterricht. Da zeigt sich der allgemeine Trend, Kindern eine realistische Selbsteinschätzung durch angemessenes Lob, aber auch angemessene Kritik, abzugewöhnen.

Auf der anderen Seite soll man den Eltern vielleicht nicht die Schuld geben. Wie das so ist: Die Schule möchte sich auch präsentieren, also wird das Event angesetzt, und dann werden alle Instrumentalisten gedrängt, mitzumachen, damit die Zeit irgendwie ausgefüllt wird.

Anmerkung: Es handelt sich um die Grundschule. Einige Instrumentallehrer bieten in den Räumen und zeitlich innerhalb der Ganztagsbetreuung Unterricht an (der aber privat zu bezahlen ist). Die gleichen Lehrer unterrichten auch an einer Musikschule. Aus Gründen, die sich mir nicht erschließen, ist das Niveau der Schülerkonzerte an der Musikschule um Größenordnungen höher. Bei gleichen Lehrkräften.
 
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Ich selber habe drei kleine Kinder die Klavierunterricht nehmen. Sie sind vor kurzem gewechselt von einer Lehrerin, die Originalstücke a la "Russische Klavierschule" mit ihnen gespielt hat, zu einem Lehrer, der auch mal gerne vereinfachte bekannte Stücke nimmt. Ob es mir passt oder nicht, ich muss anerkennen dass die Motivation meiner Kinder dadurch einfach deutlich steigt. Der künstlerische Wert der Stücke ist mir im Moment ehrlich gesagt ziemlich egal; im Moment zählt für mich, dass sie erstmal dabeibleiben und nicht das Handtuch schmeissen.

Lieber Klaus6,

da setzt du aber in Korrelation, was sein kann, aber nicht sein muss. :) Es kann auch sein und ist sogar sehr wahrscheinlich, dass die steigende Motivation deiner Kinder mit etwas ganz anderem zu tun hat (netter Lehrer etc.).

Bearbeitungen a la Heumann sind für mich ein No Go. Wenn jemand unbedingt eine bekannte Melodie wie "Freude, schöner Götterfunken" o.ä. spielen wollte, würde ich nach Gehör spielen, begleiten, transponieren lassen. Aber niemals so ein fürchterliches Arrangement nehmen. Man will die Ohren seiner Schüler doch schulen und nicht verkorksen. :-D

Liebe Grüße

chiarina
 
Wenn jemand unbedingt eine bekannte Melodie wie "Freude, schöner Götterfunken" o.ä. spielen wollte, würde ich nach Gehör spielen, begleiten, transponieren lassen.

Boah, ich kenne da leider viele, die bei 'nach Gehör spielen' sofort streichen, und zwar die Segel. Ist leider so.

Mein Saxophonlehrer arbeitet gerne auch mal mit: Hören, Nachspielen, Call & Response, usw. Das geht - schon wegen verfügbarer Instrumente - mit sechs Saxophonisten im Kreis leichter als mit sechs Klavierspielern. :-)

Liebe Grüße
Häretiker
 
Boah, ich kenne da leider viele, die bei 'nach Gehör spielen' sofort streichen, und zwar die Segel. Ist leider so.

Wenn sie das nicht wollen, können sie eben das Stück nicht spielen, zumindest nicht bei mir. Ich habe bisher bei Erwachsenen selten totale Ablehnung gehabt (kam vereinzelt auch vor). Die meisten trauen sich das nicht zu, weil sie es noch nie gemacht haben, finden es dann aber doch interessant und sind überrascht, dass es nicht so schwer ist, wie sie glaubten. :)

Liebe Grüße

chiarina
 
Wenn ich seinerzeit das Thema auf "vereinfachte Versionen" gebracht habe, pflegte der Klavierlehrer zu fragen: "Wollen Sie Klavier spielen lernen? Es gibt doch so viele schöne Originalstücke aller Schwierigkeitsstufen....." Das JA hat er unterstellt. Damit war das durch. Es hat mir nicht geschadet, im Gegenteil. ;-)
 
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Manchmal wurden auch die Urkompositionen zu Bach-Zeiten abgeändert …. diesmal sogar leicht spielerisch schwieriger und zugleich schöner gemacht. Was sagen die Puristen dazu?

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Dagegen Anna Magdalena Bach, so die Vermutung, hat auch "Galanterie-Stücker" (modische Stücke) zum ersten Unterricht der Kinder Benutzt. Scheinbar musste sie ihre Kinder auch ein bisschen mit Gassenhauer motivieren ;-)
 
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kontraproduktiven intellektuellen Eitelkeit
Das ist ein schöner Begriff, der die Situation gut beschreibt.

Gewiss, ein Berufsmusiker (oder jemand, der das anstrebt), sollte die Originale drauf haben - Werke von einem Schwierigkeitsgrad, der zur Zeit ihrer Entstehung nur für die besten der Profis machbar war. Und dann ist die Beschäftigung mit einer Vereinfachung für ihn nur Zeitverschwendung.

Aber nicht nur ich, sondern vielleicht die Mehrheit der Leute hier, sind Freizeitklimperer. Ich erwarte nicht, jemals das Niveau eines Liszt zu erreichen (oder auch "nur" eines Schumann bevor er seine Hand ruinierte). Schön klingende Stücke spielen macht Spaß, egal ob sie original oder vereinfacht sind. Wenn das Erlernen auch eine passende Portion Anstrengung ("Eustress") erforderte, umso besser.

Warum muß man als Hobbyspieler mit der Einstellung ans Werk gehen "Wenn schon Klavier spielen, dann auch richtig", d.h. sich quälen um das Niveau der Großmeister anzustreben?
Das ist die "intellektuelle Eitelkeit".
 

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