Früher war alles besser?

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koelnklavier

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Beim Internet-Surfen bin ich auf ein Interview mit dem Pianisten Friedrich Höricke gestoßen (ursprünglich wohl ein Beitrag in PianoNews).

In der zweiten Hälfte geht es um die Frage, was die Interpretationen der "alten" Virtuosen von den gegenwärtigen unterscheidet:
"[...] Ich bin der Meinung, daß wir uns durch die Verwissenschaftlichung der Musik, haben wir uns die Sympathie des Publikums verscherzt haben. Als wir früher die großen Feuerköpfe waren, von Bach über Beethoven, bis zu Liszt und Rachmaninoff, die aus dem Vollen geschöpft haben und sich von niemanden reinreden ließen, haben uns die Leute zu Füßen gelegen. Und seitdem wir dies nicht mehr gemacht haben, sind sie uns weggelaufen.

[...] Das Problem ist die Sinnenfeindlichkeit vieler Pianisten, es ist ein bürokratischer Stil. Wenn ich meine Grundüberlegung an das Metier zusammenfassen sollte, dann ist es so: Irgendwann hatten wir eine große Breitenwirkung in der Musik. Daher schaue ich mir an, was die Pianisten gemacht haben, die diese Breitenwirkung erzielt haben. Die weitere Frage ist dann: Was müssen wir heute machen, um diese Breitenwirkung wieder zu erzielen? Und ich denke: Wir müssen zurückgehen und gucken, was hat man früher gemacht. Dann allerdings müssen wir das adaptieren und neu verpacken, so wie man es im 19. Jahrhundert neu verpackt hat. Den Klavierabend hat es ja auch vorher nicht gegeben. Und dann kam Franz Liszt und hat das gemacht. Und das Ding wurde ein Renner. Ich will nicht sagen, daß der Klavierabend keine Zukunft mehr hat, aber man muß sich auch etwas anderes überlegen. Wir müssen die Innovationskraft übernehmen, die Liszt aufbrachte, dann erst stehen wir wirklich in der Tradition von ihm. Doch versuchen Sie mal jemanden zu finden, der das mitmacht im heutigen Business. [...]"​
Das ganze Interview gibt's hier:
http://www.conductor.de/pianisten/hoericke.htm

Ich habe noch keine eigene Meinung dazu, finde die Gedanken aber durchaus einiger Überlegung Wert.
 
Danke für den Link! Mich würde mal interessieren, ob er mit seiner Meinung tatsächlich so alleine da steht, wie es scheint. Vorstellbar ist es ja.

Hochinteressant ist auch, was über frühere Instrumente gesagt wurde. Ich glaube, solche Statements muß man im Geiste sammeln und anhand eigener Erfahrungen durchleuchten, damit man irgendwann seine eigene fundierte Meinung hat. Es war aber vermutlich damals nicht viel anders als heute, daß man schon einen gewissen Namen haben muß, um sich mit Neuem Gehör verschaffen zu können.
 
Mir kommt in diesem Zusammenhang noch ein anderer Gedanke: "früher", also ca. 19. Jahrhundert, war es normal im sog. Bürgertum, daß musiziert wurde. Ein Instrument zu lernen und aktiv Musik zu machen war sozusagen selbstverständlich. Einschließlich einer gewissen Bildung in Sachen Musik (und Kultur allgemein). Dh. ein großer Teil der Bevölkerung hatte einen ganz anderen, intensiveren, direkteren Zugang zur Musik. Nicht umsonst haben die Komponisten damals viel Kammermusik geschrieben.
Für uns hier im Forum ist das genauso normal. Aber wie sieht es denn allgemein aus? Was hören die Leute? Wie viele spielen ein Instrument? Wie viele (prozentual gesehen) haben denn wirklich Zugang und Interesse an klassischer Musik? Auf jeden Fall zu wenige. Wenn es auf irgendeine Weise wieder "in" sein würde, zu musizieren, wenn ein Instrument zu spielen für die Mehrheit der Leute normal würde, würde sich vieles ändern. Meine ich zumindest. Nicht nur was Auftritte von Pianisten oder deren Wahrnehmung angeht, worum es eigentlich bei diesem Interview geht, sondern auch so, ganz allgemein, kulturell und gesellschaftlich gesehen. Ich finde, das wäre ein riesiger Gewinn.
OK, jetzt leg' ich mich wieder hin und träume weiter...:D
 
Ein spezielles Problem für heute sehe ich darin, daß einem Internet und Billiginstrumente vorgaukeln, man könne mal eben nebenbei lernen und dann die tollste Musik machen - natürlich Metal, Hip-Hop und so weiter. Die älteren schon eher Blues, vielleicht sogar Klassik. Ich hatte ja mal die Idee, in Altenheimen aufzutreten. Vielleicht sollte ich stattdessen lieber in Kindergärten gehen - natürlich mit entsprechendem Programm. Wenn ich in der Kirche Orgel übe und eine Gruppe Kinder durchkommt, bemerke ich durchaus Interesse - das sind die richtigen Adressaten!

Aber mal ehrlich, war "klassische Musik" nicht vor der Verbreitung des Radios auch schon elitär? Wieviele Bauern, Mägde, Fischverkäufer und so weiter hatten denn früher die Möglichkeit, Geld und Muße, ein Konzert zu besuchen? So gesehen sollte man die heutige Situation vielleicht eher als Chance statt als Problem sehen.
 
Wieviele Bauern, Mägde, Fischverkäufer und so weiter hatten denn früher die Möglichkeit, Geld und Muße, ein Konzert zu besuchen?

Aber die Highlights aus Mozart- und Rossini-Opern waren schon nach wenigen Tagen in aller Munde und wurden regelrecht von den Dächern gepfiffen. Zumindest die Oper war im 17. und 18. Jahrhundert musikalisch nicht so elitär, wie sie sich heute gibt. Die Frage bleibt allerdings: Wer "streute" die Arien unter das Volk?
 
Heute muss eigentlich niemand ein Instrument selber spielen oder in ein Konzert gehen, um Musik zu hören. Durch Radio, Fernsehen und vor allem Platten/CD-Einspielungen lässt sich jeder Top-Pianist ins eigene Wohnzimmer holen.
In jedem Restaurant, jeder Kneipe, ja selbst jedem Geschäft dudelt irgendwas im Hintergrund.
Ich vermute, dass das den meisten Menschen völlig reicht.

Diese Allgegenwart von Musik - und ja durchaus auch von qualitativ sehr guter Musik - setzt für jedes Livekonzert sofort unglaubliche Ansprüche. Wir haben permanent die "Super-Einspielung" irgendeines ganz Großen im Ohr. So wird die Latte immer höher gehängt.
Es haben "früher" ja auch nicht alle wie Liszt oder Rachmaninoff gespielt. Aber diese Großen mal zu hören, war dann eben auch was besonderes.

lg
 
Diese Allgegenwart von Musik - und ja durchaus auch von qualitativ sehr guter Musik - setzt für jedes Livekonzert sofort unglaubliche Ansprüche. Wir haben permanent die "Super-Einspielung" irgendeines ganz Großen im Ohr. So wird die Latte immer höher gehängt.
Es haben "früher" ja auch nicht alle wie Liszt oder Rachmaninoff gespielt. Aber diese Großen mal zu hören, war dann eben auch was besonderes.

Sehe das ganz genauso. Die Meßlatte wird heutzutage immer höher gehängt. Selbst bei Internet-Plattformen, wo Amateur- und Profimusiker ihre Ergebnisse präsentieren wie z.B. bei www.PianoSociety.com, sollte man bemüht sein, notentreu zu spielen. Das ist etwas, was man vor 50 oder 100 Jahren nicht mal von den weltbesten Pianisten erwartet hatte. Man braucht ja nur mal alte Cortot- oder Rachmaninoff-Aufnahmen anzuhören.

Meine Klavierlehrerin sagte mir, was heute als Aufnahmeprüfung für eine Pianistenausbildung erwartet wird, hat man früher zur Abschlußprüfung gespielt.

Auf der anderen Seite kommt es mir so vor, dass heutzutage der Perfektionsanspruch größer ist als was von der künstlerischen Gestaltung erwartet wird. Wie beim Eiskunstlauf - A und B-Note. Wer sich verspielt wie Cortot in fast jeder Schallplattenaufnahme, würde heute dermaßen Punktabzug in der A-Note bekommen, dass man noch so schön spielen könnte, die B-Note kann es nicht rausreißen. Daher das Ergebnis heute: Pianisten, die perfekt spielen können, absolut clean. Aber wer kann noch so schön auf dem Klavier singen wie Cortot (Seufz)...
 
Wir haben permanent die "Super-Einspielung" irgendeines ganz Großen im Ohr. So wird die Latte immer höher gehängt.

Die Latte wird höher gehängt, allerdings - wie auch MIndenblues richtig bemerkt hat - eben in erster Linie die Latte für "richtige Noten" und für "technische Perfektion". Die Latte für musikalischen Ausdruck muß irgendwann verlorengegangen sein. Solange exakt das gespielt wird, was in der Urtextausgabe steht, geht der Daumen nach oben, und sei es noch so unmusikalisch und uninspiriert.

Daß der Notentext nur der Ausgangspunkt ist, sozusagen das Knochenskelett, das war den Musikern früher so selbstverständlich, daß es garnicht nötig war, Worte darüber zu verlieren. Heute werden uns eben zumeist solche Knochenskelette als "werktreue" Musik vorgeführt.

Ich würde nun allerdings nicht so weit gehen, den Kitschfaktor, der der Rock- und Popmusik so hohe Absatzraten garantiert, nun auch in die E-Musik zu übernehmen. Nicht alles, was sich gut verkauft, ist deshalb auch gut - und nicht alles, was sich schlecht verkauft ist deshalb schlecht.
 
Ich finde das Interview super und der Mann ist mir durchaus sympathisch (auch wenn ich aufgrund des Fotos eher der Meinung war, das es ein sehr trauriger Mensch sei).

Seine Einstellung zur Musik gefällt mir, insbesondere daß es ihm sehr wichtig ist seine persönliche Note in jedes von ihm gespielte Stück zu bringen.
Musik ist nur so gut, wie der, der sie auch macht, da kommt es auf die Noten eigentlich doch garnicht mehr an.

Bei einem wirklich guten Stück, das mich musikalisch vom Hocker reißt, ist es mir eigentlich ziemlich wurscht, ob der gute Mann genau das gespielt hat, was da auf dem Fetzen Papier steht.

Wenn ich ein Stück in Perfektion hören will, dann kann ich das auch vom PC spielen lassen, der macht es wesentlich perfekter als es ein Mensch je könnte, aber genauso tot ist es dann auch.

Liebe Grüße
Pflaume
 
Da ich verrückt genug bin, das Präludium 23/5 von Rachmaninoff anzufangen, habe ich mich auch bei youtube etwas umgesehen. Die Aufnahmen von Horowitz, Rachmaninoff und Richter bestechen jeweils durch einmalige Persönlichkeit, auch wenn die von Rachmaninoff nur von einem Papierstreifen stammt.

Der Einbruch müßte dann frühestens nach 1971 gewesen sein (die Aufnahme von Richter).

Vielleicht hat man heute den Eindruck, daß frühere Pianisten besser gewesen sein müssen, weil eben die schlechten heute nicht mehr bekannt sind, während man heute ja alles in die Ohren geknallt bekommt, was sich irgendwie vermarkten läßt. Die "großen" unserer Zeit werden nach dieser Theorie unseren Kindern, Enkeln etc. bekannt sein.
 

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