"Freiere" Gedankengänge während des Übens

Es ist ein Unterschied vorhanden zwischen analytischem passivem Hören und aktivem während des Spielens - es könnte ja keinerlei ernstzunehmende musikkritische und musikwissenschaftliche Äusserung geben, wenn deren Verfasser nicht angemessen zu hören in der Lage wären ;)

Naja, wenn ich manche Kritiken so lese...
"Angemessen hören" ist ein dehnbarer Begriff: erwartet man von einem Kritiker, dass er erkennt, wenn hier und da in einer 4-oder 5-stimmigen Fuge ein Tönchen fehlt, mal ein Ton statt einer Viertelnote + Viertelpause eine Halbe Note lang gespielt wird und so weiter?
Sehe ich anders - von einem Kritiker erwarte ich eine fundierte - subjektive - Einschätzung des Gesamteindrucks. Natürlich gehört auch polyphone Wahrnehmung dazu. Jedoch: z.B. jede Stimme lückenlos einzeln für sich im Detail verfolgen zu können - ist doch wohl etwas viel verlangt für einen Kritiker, der das Stück nicht oder wenig kennt. Von einem guten Spieler wird das aber erwartet.

Wie gesagt, ich sehe einen Unterschied darin, ob man ein polyphones Stück erschlossen hat, indem man es z.B. auswendig spielen kann und wirklich alle Stimmen gleichzeitig und genau verfolgen kann (weil man es sich erarbeitet hat), oder ob man den Gesamteindruck von außen wahrnimmt, ohne das Stück dermaßen genau zu kennen. Wieviel Leute beim allerersten Hören eines Stückes wirklich alle Stimmen gleichzeitig nicht nur bewußt wahrnehmen, sondern deren Verlauf einzeln auch verfolgen zu können, weiß ich nicht, wage aber zu bezweifeln, dass es die meisten Musikkritker wirklich können. Von Mozart ist bekannt, dass er bei einem Italienaufenthalt alle Stimmen eines 8-stimmiges Chorstückes beim einmaligen Hören sofort gespeichert hatte und aus dem Kopf danach aufschrieb. Wie gesagt, von Mozart ist das bekannt...;)
 
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Mindenblues,
ich verstehe nicht so recht, worauf Du hinaus willst - - aber wie dem auch sei: es gibt miese Kritiker, und es gibt gute; unter den guten befanden wie befinden sich auch studierte Praktiker.
Was Deine Argumentation betrifft: ich kann weder singen, noch dirigieren - aber ich nehme in einer Opernaufführung jede Stimme wahr, kann auch die Qualität der gesanglichen und orchestralen Darbietung beurteilen (obwohl ich - fachfremd - ja nur klimpern kann) --- sollte ich jetzt über Opern womöglich das Maul halten?
Des weiteren: bist Du sicher, dass Du praktisch den Anforderungen zur Darbietung/Realisierung einer dreistimmigen Fuge derart gewachsen bist, dass Du allein daraus schon mehr von Musik verstündest, als ein versierter und kenntnisreicher Musikkritiker? (in diese Richtung wirken Deine Zweifel am passiven analytischen polyphonen Hören auf mich - und ich muss sagen: ich teile diese Zweifel nicht)
 
Rolf,
du verstehst nicht so recht, worauf ich hinaus will?

Ganz einfach: Meine Aussage ist, dass man ein Stück im allgemeinen, und ein polyphones Stück im ganz besonderen, umso tiefgründiger "hören" kann, je länger man sich damit beschäftigt.

Das es unter den Kritikern wie unter den Spielern gute und miese gibt, ist eine ganz andere Geschichte.

Im übrigen finde ich, dass es wesentlich leichter ist, die Einzelstimmen einer vielstimmigen Polyphonie beim ersten Anhören in ihrem Verlauf verfolgen zu können, wenn diese Einzelstimmen stark unterschiedliche Klangfarben haben, weil unterschiedliche Instrumente beteiligt sind. Das ist bei Orchester- und Chorwerken eher der Fall als bei z.B. Klavierwerken. Bei Orgelwerken gibt es die Besonderheit der Triosonaten, wo jede Hand auf separatem Manual mit unterschiedlicher Klangfarbe nebst Pedal spielt. Damit kann man die 3 Stimmen sehr viel leichter getrennt gleichzeitig erfassen, und das macht diese Triosonaten auch so tückisch: auch der etwas "miesere" Kritiker hört hier leicht, wenn was gepfuscht wird.
Bei einer Klavierfuge ist das schon schwieriger, insbesondere die Innenstimmen zu verfolgen (Außenstimmen sind immer leichter zu verfolgen). Wenn ein Kritiker das Stück nicht kennt, behaupte ich erstmal, wird es auch einem guten Kritiker schwerfallen zu erkennen, wenn man z.B. hier und da mal in den Innenstimmen etwas weglässt. Wenn man das Stück kennt, ist das natürlich was anderes...
 
Ganz einfach: Meine Aussage ist, dass man ein Stück im allgemeinen, und ein polyphones Stück im ganz besonderen, umso tiefgründiger "hören" kann, je länger man sich damit beschäftigt.
Das ist sicher richtig!
Allerdings gilt das sowohl für den Spieler als auch für den Zuhörer.

Der Spieler muss polyphon denken und gestalten können - auf das gestalten können kann der Hörer verzichten; dennoch kann er ebenso differenziert wahrnehmen. Dass man umfassender denken als spielen kann, sollte nun nicht allzu verwunderlich sein: Wagner oder Verdi (als zwei Beispiele) haben Fugen komponiert (Meistersinger, Falstaf), welche vollumfassend von einem Spieler nicht auf dem Klavier gespielt werden können.

Problematisch kann natürlich das allererste hören sein, z.B. bei Uraufführungen - da konnten und können vermutlich nur wenige sofort alles wahrnehmen, jedenfalls dann nicht, wenn das gehörte stilistisch sehr ungewöhnlich bzw. vom bekannten abweichend ist.

Wie auch immer: differenziertes verständiges Hören erwirbt man eher und leichter, als ebenso zu spielen.
 
Wie auch immer: differenziertes verständiges Hören erwirbt man eher und leichter, als ebenso zu spielen.

Ich gestehe, dass es mir tatsächlich schon das eine oder andere Mal so gegangen ist, dass ich eine Fuge schon wochenlang übe und von den Noten her spielen kann und dann erst der Groschen fällt, dass sich ja irgendwo in einer Innenstimme nochmal das Fugenthema wiederfindet, was mir vorher bloß nicht auffiel:oops: Und bei verzahnten Engführungen oder beim Erkennen von Umkehrungen usw. passiert mir sowas noch viel öfter.
Also mir als Amateur hilft das Spielen von polyphoner Musik auch für das immer differenziertere Hören der einzelnen Stimmen dieser Musik, mit der man sich gerade beschäftigt. Von daher dauert es bei mir seeeehr lange, bis mir das Spiel einer Fuge langweilig wird...Bei einem Vollprofi, der per se die Flöhe husten hören kann - differenziert, versteht sich - :), mag es anders sein.
 
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Also mir als Amateur hilft das Spielen von polyphoner Musik auch für das immer differenziertere Hören der einzelnen Stimmen dieser Musik, mit der man sich gerade beschäftigt.
das ist natürlich einer der Gründe, weshalb z.B. die Inventionen, Fughetten etc. viel Verwendung im Unterricht finden ;):)

aber zurück zum Wahrnehmen sowie zum Wahrnehmen von Polyphonie:
- das verstehende und differenzierte Hören erwirbt man eher und leichter, als ebenso zu spielen (um Musik verstehen und detailliert wahrnehmen zu können, muss man nicht zwingend notwendig auf sehr hohem Niveau musizieren können; auch ein Flötist, der nie allein eine Fuge auf seinem Intrument spielen kann, kann polyphon wahrnehmen)
- wenn man schon fortgeschritten ist, sowohl manuell als auch im Kopf, dann kann man sich - weil man in beidem Platz hat - abschweifende Gedanken beim spielen genehmigen: nicht selten spielt jemand was sehr gut und erklärt es gleichzeitig.
 

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