Der Gap zwischen "abgehakt" und "vorführreif"

Habt ihr denn solche Top-5-Listen von Stücken, die ihr könnt?

Nein, und ich finde diese Herangehensweise komplett sinnlos. Man kann eine Stück nicht "können", man kann es nur einstudieren und die für das Stück notwenige Technik beherrschen. Vorspielkatastrophen rühren daher, dass man die Technik nicht oder nicht souverän beherrscht und dies durch ein unzuverlässiges motorisches Kurzzeitgedächtnis zu kompensieren versucht.
Man muss erkennen, dass man kein Problem mit einem speziellen Stück hat, sondern ein generelles Problem mit seiner Technik, das einen in anderen Stücken genauso plagen wird.
 
Liebe Alle,
das klingt, als ob zwischen den beiden Zeitpunkten abgehakt und vorführreif noch sehr viel Arbeit liegt. Vielleicht bin ich zu ungeduldig. Was meint ihr, wie lange es realistisch dauert, bis man so eine Top-5-Liste erarbeitet hat?
Das dürfte vorallem davon abhängen, welche Ansprüche Du an Dich selbst stellst.

Für das Klavier ein Repertoire aufzubauen steht für mich zwar noch nicht an, ich singe aber noch und würde bei Klavier und Gesang die gleichen Masstäbe anlegen.
Für mich als Laien bedeutet das, dass ich nach dem "Abhaken" im Unterricht an einem Stück noch über einen Zeitraum von sicher einem Jahr immer wieder arbeite, es eventuell auch nochmal jemandem vorsinge, bevor ich es dann wirklich so souverän beherrsche, dass ich anfangen kann mit anderen zu musizieren. Bis das Ergebnis dann einmal öffentlich zu Gehör gebracht werden kann, dauert es dann wieder ein paar Übungstreffen.

Ich rechne etwa mit einer Dauer von zwei Jahren, bis ich ein Repertoirestück soweit habe, dass es (im häuslichen Rahmen oder zur Ausgestaltung eines Gottesdienstes) präsentabel ist.
Mein Repertoire umfasst zwar deutlich mehr als 5 Stücke und wandelt sich auch, ich glaube aber nicht, dass es schneller gehen würde, wenn ich mich auf weniger Stücke beschränken würde, ich brauche einfach eine gewisse Zeit, bis sich alles gesetzt hat.

Beim Klavier wird das sicher ähnlich sein.
 
Man findet auf Youtube auch Profies, die zugeben, eigentlich immer wieder mal Fehler zu spielen, bloß die Zuhörer merken das selten bis nicht.

Bei Yulianna Avdeeva finde ich oft falsche Töne. macht mir aber nichts, ich liebe ihr Spiel trotzdem. Technik ist mehr, als richtige Töne spielen und bis zu einem bestimmten Grad sind ein paar falsche Töne nicht schlimm.
 
Bei uns wird vor dem Klassenvorspiel aufgenommen, als Generalprobe. Nach dem Klassenvorspiel wird auch gerne aufgenommen, um den erreichten Stand festzuhalten.
Der Klavierlehrer sagt vor jedem Vorspiel, dass Ausdruck wichtiger ist als Fehlerfreiheit.

Wie laufen denn diese Klassenvorspiele bei euch? Fehlerfrei? Ich höre da eigentlich bei allen Fehlern, die etwas fortgeschritteneren Spieler haben aber oft schon die Fähigkeit erlangt, so darüber hinwegzuspielen, dass der Zuschauer die Fehler nicht hört. Es sei denn, er kennt das Stück! Im Großen und Ganzen habe ich mir dabei schon öfter gedacht, dass da jetzt wahrlich nicht alles auf die Bühne gehört hätte.

Ich habe vor einiger Zeit eine wahre Goldgrube bei Youtube gefunden, es ist der Kanal von Danae Dörken. Es findet sich da Hilfe in so ziemlich jeder Frage und es wird nicht oberflächlich über so vieles hinweggesehen wie bei reihenweise anderen Leuten.

Ganz wichtig, um etwas wirklich "vorspielreif" zu machen, finde ich das Auswendiglernen.

 
Wie laufen denn diese Klassenvorspiele bei euch? Fehlerfrei?
Die Vorspiele sind natürlich nicht fehlerfrei. Es gibt verschiedene Arten Vorspiel. Einmal alle Schüler eines Lehrers (freiwillig). Hier gibt es natürlich völlig unterschiedliche Niveaus, von Anfängern bis zu JuMu Teilnehmern. Dann gibt es noch die Vorspiele von geförderten Schülern. Diese Schüler müssen regelmäßig vorspielen, damit sie weiter gefördert werden und sind von verschiedenen Lehrern.
Diese Vorspiele geben vielen Schülern ein ganz erheblichen Motivationsschub. Man hat ein Ziel. Wichtig ist es auch zu sehen, dass andere auch Fehler machen und trotzdem Applaus bekommen. Es ist eine Gemeinschaft, alle wollen musizieren und zeigen, was sie können. Fehler gehören dazu.
Die guten Schüler zeigen was möglich ist.
 

Ein Beispiel: Angenommen, ich fliege bei einem kritischen Lauf immer raus. Ich sage "Ich kann das Stück nicht", aber die wahre Ursache ist, dass ich keine Läufe kann.

Ich will in dem Zusammenhang auch nochmal auf das Busoni-Zitat mit den Fingersätzen eingehen. Ich kenne es nicht, verstehe es aber so, dass er tatsächlich rät, mit unterschiedlichen Fingersätzen zu üben. Wenn man ins unzuverlässige Muskelgedächtnis übt, erscheint das verrückt. Ein Abrutscher, und man ist komplett draußen. Ein Fortgeschrittener sollte aber dazu in der Lage sein, Fingersätze zu improvisieren und zu variieren. Das ist die technische Souveränität, die ich angesprochen habe. Man greift zwar immer noch daneben, aber die meisten Leute merken es nicht, weil man es überspielt.
 
Ein Beispiel: Angenommen, ich fliege bei einem kritischen Lauf immer raus. Ich sage "Ich kann das Stück nicht", aber die wahre Ursache ist, dass ich keine Läufe kann.

Ich will in dem Zusammenhang auch nochmal auf das Busoni-Zitat mit den Fingersätzen eingehen. Ich kenne es nicht, verstehe es aber so, dass er tatsächlich rät, mit unterschiedlichen Fingersätzen zu üben. Wenn man ins unzuverlässige Muskelgedächtnis übt, erscheint das verrückt. Ein Abrutscher, und man ist komplett draußen. Ein Fortgeschrittener sollte aber dazu in der Lage sein, Fingersätze zu improvisieren und zu variieren. Das ist die technische Souveränität, die ich angesprochen habe. Man greift zwar immer noch daneben, aber die meisten Leute merken es nicht, weil man es überspielt.
Jetzt verstehe ich Dich, danke.
 
Ein Beispiel: Angenommen, ich fliege bei einem kritischen Lauf immer raus. Ich sage "Ich kann das Stück nicht", aber die wahre Ursache ist, dass ich keine Läufe kann.
Das ist jetzt nur ein Beispiel für das Gegenteil. Wenn man technisch alles kann, das im Stück benötigt wird, sowie das Stück selber geübt hat und auswendig kennt - kann man das Stück dann trotzdem nicht?
 
Das ist jetzt nur ein Beispiel für das Gegenteil. Wenn man technisch alles kann, das im Stück benötigt wird, sowie das Stück selber geübt hat und auswendig kennt - kann man das Stück dann trotzdem nicht?
Ich schwätz mal dazwischen ... wahrscheinlich rückt J.S. Schwach "können" in die Nähe von "Ich bin damit fertig!" - und das ist man ja irgendwie nie.
Da wächst immer noch was nach (wenn das Stück es hergibt).
 
Zuletzt bearbeitet:
Irgendwie habe ich das Gefühl der Gap zwischen abgehakt und vorspielreif wird mit der Zeit immer größer. Jedenfalls bei mir ist das so. Zudem fällt es mir immer schwerer etwas überhaupt als Vorspielreif zu bezeichnen. Irgendwie ist das was man spielt so ein fluides Mosaik aus „geht gut bis geht schlecht“ und es ändert sich ständig weshalb man jedem beginnenden „erneut oder anders schlecht“ hinterherläuft. Das Spektrum der Dinge die man als ungenügend bezeichnen würde sind unendlich und diese zu verbessern eine Daueraufgabe und währenddessen tun sich unzählige neue Baustellen auf.

In diesem Zusammenhang wächt zum einen bei mir die demütige Erkenntnis, dass es kein „beherrschen“ gibt (auf der Ebene die man sich vorstellt, wenn man sagt „ich erarbeite das“), denn je tiefer man in die Materie einsteigt, desto unendlicher werden die Facetten und desto „unbeherrschbarer“ wird es. Ich glaube dass es für jede Vorspielreife eher um die Akzeptanz eines Moments geht, für den man vorher die größte Gewissenhaftigkeit aufgewendet hat, dessen Ergebnis man auch simpel in seiner Erscheinung akzeptieren muss. Das gilt für jedes Level. Sonst würde niemals jemand irgendwas vorspielen (können/dürfen). Aber gleichzeitig geht meine Bewunderung für Musiker die 60/90min Programm auf höchstem Level durchziehen ins unaussprechliche. Sich das mal vorzustellen, bei dem analytischen Tiefgang hinter diesen Stücken sich auf die Bühne zu stellen. Kann man wohl kaum ausreichend bewundern.
 

Ich glaube dass es für jede Vorspielreife eher um die Akzeptanz eines Moments geht, für den man vorher die größte Gewissenhaftigkeit aufgewendet hat, dessen Ergebnis man auch simpel in seiner Erscheinung akzeptieren muss. Das gilt für jedes Level.

Das dachten auch schon andere Künstler, die keine Musiker waren:

"So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan hat!" (Goethe)
 
Ich schwätz mal dazwischen ... wahrscheinlich rückt J.S. Schwach "können" in die Nähe von "Ich bin damit fertig!" - und das ist man ja irgendwie nie.
Da wächst immer noch was nach (wenn das Stück es hergibt).
Klar kann man immer noch etwas verbessern. Aber sage ja auch "Ich kann Auto fahren", obwohl ich keine Formel1-Lizenz habe. Also ich kann mit dem Satz
Man kann eine Stück nicht "können", man kann es nur einstudieren und die für das Stück notwenige Technik beherrschen.
nichts anfangen.

Spätestens, wenn ich ein Konzert gebe und das Publikum danach zufrieden ist, würde ich sagen, dass ich das Stück kann.
 
Und was willst du konkret damit sagen? Würdest du behaupten, dass GG die Goldbergvariationen zu einem der beiden Zeitpunkte nicht konnte?
Es kann ja zwei unterschiedliche Interpretationen geben und trotzdem keine der beiden falsch sein.
 
Ne, natürlich nicht, es geht ja immer weiter. Und "gekonnt" ist eben relativ, er war sicher der Meinung, sie 1981 besser zu können als 1955. Da war noch mehr drin. Deshalb hat er das alles nochmal eingespielt.
 
Man kann eine Stück nicht "können", man kann es nur einstudieren und die für das Stück notwenige Technik beherrschen.
Viel wichtiger wäre es, die für das Stück notwendige Musikalität zu beherrschen. Darin liegen so gut wie immer die größten Defizite. Wer ein Stück musikalisch wirklich verstanden hat, wird es auch technisch hinbekommen, weil sich aus dem Verständnis das sinnvolle, zielgerichtete Üben fast von allein ergibt.

Ohne ein tiefes musikalisches Durchdringen wird es auch bei perfekter Spieltechnik (die in solchen Fällen allerdings nur hypothetisch vorkommt, weil sie sich bei nicht entwickelter Musikalität gar nicht erst ausbildet) immer dilettantisch klingen.
 
die für das Stück notwendige Musikalität zu beherrschen
Das stimmt. Wenn meine KL was spielt, was ich auch flüssig spielen "kann", ist es trotzdem immer für mich unerreichbar besser. Das Problem ist, dass ich zwar eindeutig merke, dass es um Welten besser klingt, aber oft nicht genau feststellen kann, was es im Detail so viel besser macht. Und es deswegen auch nicht so spielen kann, teilweise nicht einmal so üben kann, weil dazu müsste ich die Details, die den Unterschied ausmachen, ja alle eindeutig erkennen.

Was kann man denn tun, um dieses musikalische Feingefühl zu üben? Auch wenn ich mir verschiedene Einspielungen von Stücken anhöre, finde ich es oft nicht leicht zu sagen, was genau im Detail eine Einspielung besser macht als eine andere. Ich glaube, ich höre höchstens einen Bruchteil dessen, was es zu hören gäbe.
 
Was kann man denn tun, um dieses musikalische Feingefühl zu üben?
Du brauchst einen scheißguten Lehrer der sich wirklich(!) die Mühe macht die winzigsten Details (am besten am 2. Instrument) permanent zu zeigen, dich imitieren lässt und dich permanent fordert die Unterschiede zu ergründen warum es jetzt wieder nicht gepasst hat. Ist irre unbequem, bringt aber unendlich viel. Da kann’s sein dass du in einer Stunde nur 3 Takte formst und 160 mal „Nein“ hörst. Das muss man aber wollen.

Oder du nimmst dir Aufnahmen, kürzt da einzelne Takte raus und vergleichst sie mit deinen eigenen Takten und dann versuchst du rauszuhören (für jede Note) ob sie länger, lauter, gebundener ist, früher oder später kommt etc.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ha, das hatte ich letzte Stunde. Meine KL wollte, dass ich was auf so ganz bestimmte Weise anschlage. Dann hat sie jedesmal ja oder nein gesagt, wenn es mir gelungen war. Aber ich hab einfach den Unterschied nicht gehört... :cry2:
 

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