Das System der "Stimmungen" – wer erklärt es mir?

  • Ersteller des Themas Tinnitus
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Nein.

Die "wohltemperierte Stimmung" ist nicht zu verwechseln mit der gleichschwebenden Stimmung.

Bachs WTK war auf die Werckmeister III Stimmung ausgelegt.

Diese , damals als "wohltemperierte Stimmung bezeichnet" hatte sehr wohl charakterlich sehr unterschiedliche Tonarten.

Durchgesetzt hat sich schlußendlich die gleichstufige Stimmung.

Aber auch die kann man nicht als charakterlos ansehen - man kann es zum Beispiel mal mit dem Regentropfenprelude ausprobieren; transponiert man diesen in As Dur, erscheint "der Regen" deutlich wärmen, hingegen in E - Dur, wird s schon arg frostig.

Gibt es dazu eine Quelle? Ausgerachnet Werkmeister III taugt da eigentlich nicht viel.

Bis ca. 1800 war im Orgelbau die mitteltönige Stimmung recht gängig. Da gibt es nur barfuß oder Lackschuh, entweder geht die Tonart sehr gut, oder es geht nicht. Der gruseligste Akkord nicht nicht etwas wie oben behauptet Fis, sondern As, weil der berühmte Wolf liegt. Es gibt dann verschiedene Kompromisse, die die Sache mildern, vor allem beim Ton dis/es.

Und dann gibt es die milden spätbarocken Stimmungen wie Neidthard, Valotti, Werkmeister oder Kirnberger. Da "gehen" im Prinzip alle Akkorde so, dass man nicht umkippt, aber in unterschiedlicher Schärfe. Wenn die Grundtonart eines Stückes schon "scharf" ist, ist das dann auch kein Vergnügen.

Werkmeister III ist eine low budget Stimmung, die dann geeignet ist, wenn man eine mitteltönige Orgel umstimmen will. Da muss man nämlich nicht alle Pfeifen anfassen, sehr ökonomisch. Ansonsten sehe ich kaum einen Grund, diese Stimmung zu legen, Werkmeister selbst vermutlich auch nicht.

Wie groß die Rolle dieser Stimmungen historisch wirklich gewesen ist, kann man zumindest für den Orgelbau diskutieren.

Die Sichtweise, dass alles durch gleichstufig "verdrängt" wurde, halte ich nur für begrenzt richtig. Kein Cembalist würde exakt gleichstufig stimmen, es sei denn, es steht DIstlers Cembalokonzert auf dem Programm. Auch bei Orgelrestaurierungen oder historisierenden Neubauten spielen solche Stimmungen eine Rolle. Man kann auch diskutieren, wie mathematisch exakt man im 19. Jh. wirklich gestimmt hat, oder ob eben kleine Differenzen gewollt waren.
 
Liebe Freunde des resilienten Elfenbeins,

ich wende mich heute mit einer Musiktheorie-Frage an euch.
Im Schulunterricht, Fach Musik, wurde dereinst (vor ca. 15 Jahren) auch das Thema Stimmungen besprochen.
Leider bin ich daraus absolut nicht schlau geworden.
Ich bilde mir ein, es ging um das System, wie sich aus Schallschwingungen bestimmter Frequenzen "unser" tonales System mit zwölf Stufen innerhalb einer Oktav bilden lässt.
Weiters bilde ich mir ein, dass dort unterrichtet wurde, es gäbe verschiedene historische Ansätze für diese "Stimmungen", die aber alle verworfen wurden, als sich – ich sag mal ganz plum – "Fixtoninstrumente" durchsetzten; ansonsten müsste man z. B. jedes Klavier neu stimmen, wenn man die Tonart ändert.
Und ebenso – aller guten Dinge sind drei – glaube ich verstanden zu haben, dass mit dem "modernen Stimmungssystem" zwar Instrumente wesentlich interkompatibler geworden sind, gleichzeitig aber von der Melodik her kein Unterschied mehr innerhalb der Dur- bzw. Moll-Tonarten wahrgenommen werden kann.

Sprich, habe ich eine Melodie in Dur und transponiere sie in eine andere Dur-Tonart, so merkt man zwar dass der Melodieverlauf rauf- oder runtergeht, der "Charakter", die "Blume" der Musik ändert sich aber nicht.

Meine Frage nun:
Kann mir irgendjemand dieses System erklären?
Wenn Willy Tanner zu Alf sagt, er solle in seinem Liebeslied an Rhonda lieber F-Dur wählen, da dies emotionaler klänge, hat das aus musikalischer Perspektive Hand und Fuß?
Oder ist es im Grunde vom Klangergebnis her egal, welche Tonart gewählt wird?

Liebe Grüße
der Tinnitus
Ich versuche mal eine ganz einfache Erklärung:
Stell dir vor, du hast 2 Klaviere nebeneinander. Du fängst beim tiefsten C an. Auf dem einen Klavier stimmst du saubere Oktaven, 7x nach oben. Das geht so gerade. Auf dem 2. Klavier fängst Du auch beim tiefen C an, aber Du stimmst saubere Quinten, 12x. Du kommst oben auf der gleichen Taste aus, klar, Du hast den Quintenzirkel rundgestimmt. Wenn Du jetzt die beiden c oben vergleichst, stellst du fest, dass du mit den Quinten viel höher auskommst. Das ist das pythagoräische Komma. Wenn das jetzt aufgehen soll, muss man pfuschen und die Quinten etwas kleiner machen. Bei den Oktaven ist nichts zu holen, das hört man sofort, während unser Ohr bei Quinten schon toleranter ist. Die Frage ist einfach: Wie verteilt man den "Fehler"? Auf alle Tonarten gleich oder eben so, dass Tonarten, die man eh kaum braucht, schlechter sind, dafür andere besser.
 
Nein, gibt es nicht. Es gibt allerdings ein paar Quellen, die sehr darauf hindeuten, dass Bach gerade keine „mathematische“ Stimmung wie Werckmeister III gelegt hat. Was genau er gestimmt hat, wissen wir nicht. Es gibt einige Versuche aus neuerer Zeit (Kellner, Barnes, Lindley), eine Bach-Stimmung nachzubauen. Aber da ist immer ein gehöriges Maß an Spekulation dabei. Plausibler als Werckmeister sind diese Versuche allerdings schon - denn sie sind verhältnismäßig einfach zu stimmen und sie sind - im Gegensatz zu Werckmeister III - tatsächlich auch für Tonarten wie Es-Dur oder As-Dur geeignet.
 
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Ich kann nur erkennen, dass sowohl Werkmeister wie Bach die Bezeichnung WOHL-Temperiert verwenden. Daraus herzuleiten, dass die Stimmungen gleich waren oder auch nur, dass Bach Werkmeisters Abhandlung gelesen hat, halte ich für gewagt.
 

Zu all dem, was hier schon vorgetragen wurde, möchte ich noch hinzufügen, dass das Gehör diverser Spezies Frequenzen sehr unterschiedlich wahrnimmt. Bei Menschen liegt der Hörbereich ungefähr zwischen 20 Hz und 20 kHz, aber jede Frequenz wird bereits in der Cochlea/Hörschnecke unterschiedlich stark "interpretiert" (deshalb ja die Einheit db(A), Schalldruck in Abhängigkeit von der Verarbeitungsstärke in der Cochlea). Das bedeutet, dass die wahrgenommenen Lautstärken einzelner Töne erheblich davon abhängen, wie hoch diese Töne sind. Spiele ich ein Stück in As-Dur, sind die weiteren Töne also zueinander unterschiedlich lauter oder leiser, als wenn ich dasselbe Stück in C-Dur spiele. Wenn das dann aus der Cochlea raus ins restliche Gehirn geht, dürfte das folglich ganz andere Hirnareale aktivieren.
Es geht eben nicht nur um das mathematisch bestimmbare Verhältnis von Tönen zueinander (die wohltemperierte Stimmung macht hier Kompromisse, damit As-Dur nicht völlig abartig klingt, wenn das Klavier perfekt auf das Tonverhältnis von C-Dur gestimmt ist). Es geht um die Wahrnehmung absoluter Tonhöhen, die dazu führt, dass As-Dur als weicher wahrgenommen wird als C-Dur.
Zusätzlich zur Cochlea wird der Schall auch noch durch den Rest des Körpers aufgenommen, beispielsweise durch die Knochen und das Fettgewebe, was weitere Informationen ans Gehirn liefert. Spinnen beispielsweise haben keine Ohren, hören aber durch ihre Beinbehaarung. Sicherlich sehr anders als Homo Sapiens, und man könnte damit experimentieren, ob sie As-Dur oder C-Dur als "weicher" erleben. (Menschen-)Frauen haben aufgrund unterschiedlichen Körperbaus aus demselben Grund eine andere Wahrnehmung von Frequenzen/Lautstärken als Männer, und ohnehin ist jedes Individuum unterschiedlich. Glücklicherweise sind die Abweichungen in der Wahrnehmung bei Homo Sapiens nicht sehr groß, sonst würden viele Meisterwerke der Klassik von den meisten als grotesk missklingend wahrgenommen werden.
Wer sich wie ich für so was interessiert und des Englischen mächtig ist, dem empfehle ich dieses nette kleine Büchlein (leider bislang nicht auf deutsch verfügbar): https://www.amazon.co.uk/Everybody-Hertz-Amazing-Frequency-Vibrations/dp/178816542X
Als nächstes auf der Agenda, wie klingt wohl Bachs "Wer nur den lieben Gott lässt walten" mit dem Grundton 440 GHz, also um den Faktor eine Million nach oben transponiert? :001: Wie viele weitere Tasten würde man auf dem Klavier benötigen? (Spoiler Alert: gar nicht mal so viele.) Und warum heilen Knochenbrüche und andere Schäden im Körper von Homo Sapiens, aber auch bei Felix Catus, deutlich schneller, wenn man sie mit dem tiefsten Gis auf dem Klavier beschallt (bei Kammerton A = 440 Hz)?
Die String-Theorie heißt übrigens nicht zufällig "Saiten-Theorie", sondern es geht genau darum. Was sie letztlich postuliert, ist, dass alles im Universum "Sound" ist. Wenn wir Musik machen, insbesondere auf dem Klavier mit seinem (für menschliche Verhältnisse) enormen Frequenzumfang, (re-)agieren wir quasi mit dem Urgrund unserer Existenz. Die wenigsten Tiere erschaffen visuelle Kunst, aber alle (übrigens auch Pflanzen, wie man seit Kurzem weiß) erzeugen Klänge. Wenn wir Musik machen, werden wir Teil des großen Ganzen. Ein tröstlicher Gedanke, wenn wir uns auf dem Klavier auch nach Wochen harten Übens immer noch verspielen! :009:
 
Die wenigsten Tiere erschaffen visuelle Kunst, aber alle (übrigens auch Pflanzen, wie man seit Kurzem weiß) erzeugen Klänge. Wenn wir Musik machen, werden wir Teil des großen Ganzen. Ein tröstlicher Gedanke, wenn wir uns auf dem Klavier auch nach Wochen harten Übens immer noch verspielen!
Tiere erschaffen überhaupt keine, auch nicht visuelle Kunst.
Wenn wir Musik machen, werden wir nicht "Teil eines großen Ganzen" sondern beschäftigen uns mit explizit menschlichem Vermögen.

Zur Kunst braucht es Verstand, Freiheit und Einbildungskraft: Ästhetische Urteile werden durch ein freies Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft getroffen. (Kant)
Selbst wenn man es nicht mit Kant zeigen will, kommt man doch um die Freiheit nicht herum. Daran haben Pflanzen und Tiere keinen Anteil.

Außerdem bezweifle ich, dass man mit diesem biologistischen Ansatz auch nur in die Nähe von dem kommt, was Musik bedeutet.
 
Die String-Theorie heißt übrigens nicht zufällig "Saiten-Theorie", sondern es geht genau darum. Was sie letztlich postuliert, ist, dass alles im Universum "Sound" ist. Wenn wir Musik machen, insbesondere auf dem Klavier mit seinem (für menschliche Verhältnisse) enormen Frequenzumfang, (re-)agieren wir quasi mit dem Urgrund unserer Existenz. Die wenigsten Tiere erschaffen visuelle Kunst, aber alle (übrigens auch Pflanzen, wie man seit Kurzem weiß) erzeugen Klänge. Wenn wir Musik machen, werden wir Teil des großen Ganzen. Ein tröstlicher Gedanke, wenn wir uns auf dem Klavier auch nach Wochen harten Übens immer noch verspielen! :009:

Musik ist eine Zusammenrottung von akustisch wahrnehmbaren Schallwellen, die Wohl oder Mißempfinden auslösen können.

Alles andere ist esoterischer Humbug.
 
Es ist erwiesen, dass Musik auf Pflanzen und Tiere Einfluss nehmen kann, sogar unterschiedliche Auswirkungen unterschiedlicher Musik wurden beobachtet. Mit Kreativität hat dies aber nichts zu tun.
 
Die „Forschungen“, die ich zu diesem Thema kenne, sind eher sehr (!) fragwürdiger Natur. Da ist wohl eher der Wunsch die Mutter der „Forschungsergebnisse“. Aber zum Füllen der Feuilletonseiten sind solche „wissenschaftlichen“ Veröffentlichungen allemal gut genug.
 
Zumal eine pianistisch ausgebildete Person diese psychoakustischen Lautheitsunterschiede beim Spiel ausgleichen dürfte, ganz intuitiv oder "automatisch", wie man heute sagt. Pianistisch nicht ausgebildet, steht mir das allenfalls an, zu vermuten.

Dass letzteres Wort "automatisch" ersteres "intuitiv" verdrängt hat in alltäglicher Sprache, vielleicht Eso- und Künstlermilieus ausgenommen, deutet daraufhin, dass die gesamtgesellschaftliche Stimmung heute eine ganz andere ist als zu Bachs Zeiten. Heute vergleicht man das Gehirn gern mit einer Maschine, die Maschine bildet den Bezugspunkt, früher, vor der industriellen Revolution, der Entstehungszeit des Klaviers, war die Maschine lediglich eine Werkzeugklasse von mehreren.

Zurück zum Thema: Umsomehr wundert es mich, der ich berufsverdorbenermaßen die maschinelle Weltsicht vertrete, wenn Musiker in die gleichschwebende Stimmung noch eine Tonartencharakteristik reinhören. Spielen da nicht etwa unbewusste Vergleiche mit früher erarbeiteten Stücken eine signifikante Rolle, in dem Sinne, dass, wenn die bisher erarbeiteten Stücke (die bei jedem zum Teil andere sind) in Tonart X inhaltlich diese oder jene Gefühle evozierten, diese Gefühle tendeziell auch in neue Stücke in Tonart X projiziert werden, bzw. wenn Stücke transponiert werden, die Gefühlswelt mit der Zieltonart in Einklang gebracht wird?

Das Gehirn als Maschine ist ja ein Mustervergleicher par excellence. Ohne Mustervergleich wären wir gar nicht in der Lage, die Welt um uns so wahrzunehmen, dass ihre Teile und Teilchen miteinander und mit uns in Wechselwirkung treten und wir diese Wechselwirkungen zweckorientiert beeinflussen können, ohne lange über jeden einzelnen Handgriff nachzudenken. Projektion und Pattern matching sind eigentlich zwei Seiten derselben Medaille.
 

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