Begründete Tempowahl Bach und Konsorten

  • Ersteller des Themas St. Francois de Paola
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Aber wie ist es denn dann mit den Choralvorspielen? Schlecht vorstellbar, daß der Grundschlag des Vorspiels nicht mit dem späteren Singtempo des Chorals übereinstimmt. Oder wurde der Grundschlag dann beim Singen halbiert?
Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich glaube aber, dass man das deuten kann, wie man möchte. Man sollte wohl da aber auch Choralvorspiele und Choralbearbeitungen unterscheiden.
 
Es wird ja sehr oft geschrieben, daß der Gemeindegesang damals bedeutend langsamer war als heute (eine Viertel rund 1 s)

Es wird viel geschrieben, wenn der Tag lang ist. Z.B. auch das:
Zitat von Vorwort zum Gesangbuch des Fürstentums Rügen 1724:
Es ist leider die schändliche Unart eingerissen, daß die Lieder gar zu geschwinde abgesungen, gerade, als wäre man auf der Jagd.

Oder:
Zitat von Vorwort zum Gesangbuch Wernigerode 1712:
Indem auch dieser Unrat daher mit entstehet, weil an manchem Orte mit den Liedern so sehr gejaget wird, dass eine Syllabe die andere nicht räumen kann, wodurch die Gemüter in Unordnung gesetzet und die Andacht gestöret wird [...]
 
Schlecht vorstellbar, daß der Grundschlag des Vorspiels nicht mit dem späteren Singtempo des Chorals übereinstimmt.
Das ist heute so, hat aber mit der Praxis des Barock wenig bis gar nichts zu tun.



"An einigen Orten singt man sehr langsam; an andern allzugeschwind. Ich liebe das Mittel. Wer singt und zugleich die Orgel zu spielen hat, dem ist es leicht die Gemeinde zum einen oder zu dem andern zu gewöhnen, zumal wenn in der Schule ein gute Ordnung gehalten wird."

Was heißt "Wer singt und zugleich die Orgel zu spielen hat"?
Damit ist gemeint, daß Kantor und Organist ein und dieselbe Person sind.
Das war aber nicht die Regel.

Für den Gemeindegesang war nicht der Organist zuständig, sondern der Kantor = Vorsänger. Seine selbständige Rolle wird noch in Schriften des 19. Jahrhunderts ausführlich gewürdigt, z. B. "Ueber den Gesang in den Kirchen der Protestanten" (Bernhard Christoph Ludwig Natorp, 1817):
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10591076_00005.html

Bis weit ins 17. Jahrhundert wurde die Gemeinde nicht einmal durch Orgelspiel begleitet. Der Organist führte Choralvorspiele und Versetten aus, die Gemeinde sang unbegleitet - unter Anleitung des Kantors. Das heißt, der Organist konnte sein Tempo frei wählen, das Singtempo der Gemeinde war dann Sache des Kantors.

In manchen Gemeinden war es (bis ins 19. Jahrhundert) üblich, daß nur jede zweite Strophe von der Gemeinde begleitet wurde, in manchen Gemeinden war es üblich, daß die Gemeinde jede Strophe unbegleitet zu singen begann und die Orgelbegleitung erst einige Takte später einsetzte.

Siehe: Daniel Gottlob Türk, Vn den wichtigsten Pflichten eines Organisten (1789)
https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10591807_00001.html
 
Bis weit ins 17. Jahrhundert wurde die Gemeinde nicht einmal durch Orgelspiel begleitet.

Ich würde sogar behaupten, häufig noch deutlich länger, bis dahin war es nur komplett unüblich. Aber ich habe meine Zweifel, dass Orgeln Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts flächendeckend auch in jeder Dorfkirche verfügbar waren.
 
Auch da, wo orgelbegleiteter Gemeindegesang üblich war, wurden bestimmte Choräle grundsätzlich unbegleitet gesungen. Vielerorts wurde auch in der Advents- und Passionszeit und an Bußtagen ohne Begleitung gesungen.
 

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