Begründete Tempowahl Bach und Konsorten

  • Ersteller des Themas St. Francois de Paola
  • Erstellungsdatum

Gab es denn zu Bachs Zeiten eine stilistische Trennung von "kirchlicher" und "weltlicher" Musik?
Bach hat haufenweise weltliche Kantatensätze zu geistlichen umgearbeitet, indem er den Notentext beibehalten und lediglich einen neuen Text daruntergelegt hat. Die wurden bestimmt nicht plötzlich im halben Tempo musiziert.

Vielleicht war, mit heutigen Begriffen gesagt, damit der Gegensatz zwischen damaliger "E"- und "U"-Musik gemeint. Wobei die weltlichen Kantaten genauso zu Ersterem gehörten wie die Kirchenmusik. Und beim zum "Jauchzet, frohlocket" des Weihnachtsoratoriumsder umgearbeiteten "Tönet, ihr Pauken" (BWV 214) musste man vielleicht auch gar nicht das Tempo reduzieren, weil man auch weltliche festliche Musik nicht in so einem Wahnsinnstempo musiziert hat wie hier das WO:


View: https://www.youtube.com/watch?v=ggm0SZCWKZo



Und das Choraltempo war im 18. Jahrhundert regional noch sehr unterschiedlich.

Hast du da eine Quelle? Im 19. Jh. war das übrigens (auch noch) so.
 

Selbstverständlich:

"An einigen Orten singt man sehr langsam; an andern allzugeschwind. Ich liebe das Mittel. Wer singt und zugleich die Orgel zu spielen hat, dem ist es leicht die Gemeinde zum einen oder zu dem andern zu gewöhnen..."
Jacob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, Erfurt 1758, "Von dem Choral":

https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs3/object/display/bsb10598121_00835.html



weil man auch weltliche festliche Musik nicht in so einem Wahnsinnstempo musiziert hat

Hast Du da eine Quelle?
 
Vielleicht war, mit heutigen Begriffen gesagt, damit der Gegensatz zwischen damaliger "E"- und "U"-Musik gemeint. Wobei die weltlichen Kantaten genauso zu Ersterem gehörten wie die Kirchenmusik.

Du meinst, wenn in einer weltlichen Kantate ein Stück Tanzmusik - z. B. eine Gavotte oder ein Menuett vorkommt - dann wurde sie langsamer musiziert, als wenn man dazu getanzt hätte?

Ließe sich das durch eine Quelle untermauern?
 
Nein, ich denke nicht. Im Gegenteil, wenn das Bewegungsmuster einem Tanzsatz entspricht, gibt das einen Eindruck vom Tempo. Der Eingangschor von BWV6 ist z.B. eine Sarabande.
Interessant ist es, die Sachen mal zu tanzen. Dann hat das Tempo für ein Menuett schnell eine Obergrenze.
 
Letztlich kommen wir in der Diskussion eigentlich nicht wirklich weiter. Es besteht immer das Problem, was ist "langsam" und was genau heißt "schnell". Und ist ist durchaus möglich, dass sich so etwas über die Jahrhunderte verändert, eben weil die ganz Welt schneller geworden ist. Ein 3/8 ist eben ein hurtiger Takt. Wenn ich den heute schneller nehmen muss, damit bei modernen Menschen eben dieser Eindruck entsteht, so what?

@Lübeck: Koopman mit dieser Bruhns-Aufnahme (unautorisierter live Mitschnitt?) ist nun leider wirklich nicht schön und schlampig.
@MartinH: Ich würde sagen, die Britannic-Aufnahmen sind eher neu, da sind ja etliche Alben in den letzten Jahren herausgekommen. Das Problem bei Welte ist, dass das Tempo in gewissen Grenzen variabel ist. Es gibt von den gleichen Rollen Max Regers verschiedene Versionen auf Schallplatte/CD, die sich deutlich im Tempo unterscheiden.
 
Letztlich kommen wir in der Diskussion eigentlich nicht wirklich weiter. Es besteht immer das Problem, was ist "langsam" und was genau heißt "schnell". Und ist ist durchaus möglich, dass sich so etwas über die Jahrhunderte verändert, eben weil die ganz Welt schneller geworden ist.
Das glaube ich allerdings nicht. So grundlegende Dinge wie Atmung, Herzschlag etc. haben sich über die Jahrhunderte sicher nicht in relevant verändert. Und einen Beitrag vorher schreibst Du noch:
Interessant ist es, die Sachen mal zu tanzen. Dann hat das Tempo für ein Menuett schnell eine Obergrenze.
Und andererseits gibt es bei Tänzen, die Sprünge erfordern (z. B. Gigue), auch eine Untergrenze.

Und die Uhren gingen damals auch nicht langsamer (ungeachtet der skurrilen Hypothesen gewisser Tempohalbierer, die sich allen Ernstes bis zur Behauptung versteigen, eine Minute habe für die damaligen Musiker 120 Sekunden gedauert). Wenn also Quantz schreibt: "Man setze denjenigen Puls, welcher in einer Minute ohngefähr achtzigmal schlägt, zur Richtschnur", dann haben wir schon sehr konkrete Orientierungspunkte.

Apropos Quantz: Der bringt die Bezeichnung "Vivace" mit einem gemäßigt schnellen Tempo ('poco allegro') in Verbindung:
"Es giebt, vornehmlich im gemeinen geraden Tacte, eine Art von gemäßigtem Allegro, welche gleichsam zwischen dem Allegro assai und dem Allegretto das Mittel ist. Sie kömmt öfters in Singsachen, auch bey solchen Instrumenten vor, welche die große Geschwindigkeit in den Passagien nicht vertragen; und wird mehrentheils durch Poco allegro, Vivace, oder mehrentheils nur Allegro allein, angedeutet. Hier kömmt auf drey Achttheile ein Pulsschlag; und der zweyte Pulsschlag fällt auf das vierte Achttheil."

Im 4/4-Takt also Viertel = MM 120.
("Allegro assai" wären die Viertel laut Quantz = MM 160.)
 
Aber bitte auch die wirklich sehr suboptimale Aufnahme berücksichtigen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Traktur verstellt ist und Töne erst spät kommen und sich seinem Zugriff verweigern. Klar, als Sternstunde würde er das sicher nicht bezeichnen, dass er es wirklich ausdrücklich autorisiert hat kann ich ehrlich gesagt auch nicht glauben. Sehe aber auch Positives: -kein schlecht synchronisiertes Bild & 100% live. Welche Orgel in Florenz das wohl ist? Irgendwie neobarock in einem Konzertsaal?
 
@MartinH: Ich würde sagen, die Britannic-Aufnahmen sind eher neu, da sind ja etliche Alben in den letzten Jahren herausgekommen. Das Problem bei Welte ist, dass das Tempo in gewissen Grenzen variabel ist. Es gibt von den gleichen Rollen Max Regers verschiedene Versionen auf Schallplatte/CD, die sich deutlich im Tempo unterscheiden.
Schon klar, die Aufnahmen selbst sind neu. Habe noch zu wenig nachgeschaut, sicher gibt es einige Unklarheiten, das System wurde damals wohl auch als "top secret" behandelt (und war ja wirklich high tec). Lars von der IHORC hatte mir gestern geschrieben, dass er bei diesen Aufnahmen involviert war, vielleicht verrät er ja noch was dazu.
(Ihn hatte ich mal bei einer unvergessenen Orgel-Tour in Kopenhagen spielend und erklärend erlebt, kann übrigens auch sehr seine Einspielungen empfehlen, auch was explizit zur Tempofrage: http://www.klassik-heute.com/4daction/www_medien_einzeln?id=21098&Inter38311
 
Aber bitte auch die wirklich sehr suboptimale Aufnahme berücksichtigen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Traktur verstellt ist und Töne erst spät kommen und sich seinem Zugriff verweigern.
Klar. Ich habe auch das Gefühl, dass das Live sicher sehr eindrucksvoll wirken kann. Wobei der Anfang wie gewollt aber nicht gekonnt wirkt.
Den nicht durchgehaltene Orgelpunkt am Anfang, welcher sicherlich nicht historisch korrekt ist, finde ich persönlich bei diesem Tempo aber sehr passend.
Vielleicht spiele ich den Anfang mal in diesem Tempo in einem Gottesdienst, wenn ich die Besucher (ohne viel Ahnung von Orgelmusik) beeindrucken möchte :musik032:
 

Orgelpunkt am Anfang, welcher sicherlich nicht historisch korrekt ist

Wenn ich mich nicht irre, ist das Stück in Tabulatur notiert. Ich kenne die Handschrift von Bruhns nicht, aber die tatsächliche Länge ausgehaltener Noten ist aus solchen Tabulaturen oft nicht zweifelsfrei zu entnehmen - das bleibt mehr oder weniger dem Interpreten überlassen. Deshalb sollte man etwas vorsichtig damit sein, hier etwas als nicht historisch korrekt zu bezeichnen.
 
Wenn ich mich nicht irre, ist das Stück in Tabulatur notiert. Ich kenne die Handschrift von Bruhns nicht, aber die tatsächliche Länge ausgehaltener Noten ist aus solchen Tabulaturen oft nicht zweifelsfrei zu entnehmen - das bleibt mehr oder weniger dem Interpreten überlassen. Deshalb sollte man etwas vorsichtig damit sein, hier etwas als nicht historisch korrekt zu bezeichnen.

Die Tabulatur gibt es online (Möllersche Handschrift, kein Autograph). Da ist der Orgelpunkt schon eindeutig notiert.

upload_2020-5-16_22-45-9.png

https://www.bach-digital.de/zoomify...BachDigitalSource_source_00000724&XSL.index=0
 
Die Tabulatur gibt es online (Möllersche Handschrift, kein Autograph). Da ist der Orgelpunkt schon eindeutig notiert.

upload_2020-5-16_22-45-9-png.32348


https://www.bach-digital.de/zoomify...BachDigitalSource_source_00000724&XSL.index=0
Die Internetseite Bach digital ist übrigens sehr empfehlenswert für alle, die sich mal die Quellen selbst anschauen möchten (das kann recht interessant sein, außerdem haben sie sehr viel digitalisierte Quellen von einigen Komponisten).
www.bach-digital.de
 
Wenn ich mich nicht irre, ist das Stück in Tabulatur notiert. Ich kenne die Handschrift von Bruhns nicht, aber die tatsächliche Länge ausgehaltener Noten ist aus solchen Tabulaturen oft nicht zweifelsfrei zu entnehmen - das bleibt mehr oder weniger dem Interpreten überlassen. Deshalb sollte man etwas vorsichtig damit sein, hier etwas als nicht historisch korrekt zu bezeichnen.

Also da wäre nach meiner Erfahrung mit neuer deutscher Tabulatur kein gängiger Fehler. Was halt schon mal fehlt, ist ein Bogen. Das passiert aber mindestens genauso oft bei Musik in Liniennotation oder bei alten Drucken. Ein Bogen ist mit alten Federn oder im Kupferstich lästig zu schreiben, bei Couperin sind die Dinger eckig. Da fehlt dann schon mal etwas. Allerdings muss man auch überlegen, ob nicht manche ergänzte Überbindungen einem Legatobedürfnis des 19. oder 20. Jh. entsprungen sind. Die Überlieferung des e-moll (es gibt nur die eine Quelle) ist jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft. Wenn der Schreiber JSB gewesen ist, was man nicht ausschließen kann, ist das mit Sicherheit sehr sorgfältig gemacht.
 
Mal eine eher allgemeine Feststellung zur historischen Aufführungspraxis:
Nur weil bestimmte Techniken auf alten Instrumente schwieriger auszuführen waren, heißt es nicht, dass man es sich immer direkt zu einfach machen darf. Soll man die Werke von blinden Komponisten mit geschlossenen Augen spielen? Na also!
 
Mal eine eher allgemeine Feststellung zur historischen Aufführungspraxis:
Nur weil bestimmte Techniken auf alten Instrumente schwieriger auszuführen waren, heißt es nicht, dass man es sich immer direkt zu einfach machen darf. Soll man die Werke von blinden Komponisten mit geschlossenen Augen spielen? Na also!

Sicher nicht. HIP stellt uns vor eine grundsätzliche Frage: Was möchte ich (zumindest versuchen)? Finde ich es sinvoll zu versuchen, den Willen und die Klangvorstellung des Komponisten bestmöglich zu ergründen und das Werk in seinem Sinne darzubieten? Natürlich ergeben sich da auch bei genauer Betrachtung Fragezeichen, die sich nicht lösen lassen. Ich finde, das ist kein Grund, es nicht nicht zu versuchen.

Man kann natürlich auch den anderen Weg gehen und nur die reinen Noten nehmen und als Rohmaterial für eigene Phantasiespiele betrachten. Das finden wir genug Beispiele, mehr oder weniger überzeugend. Am Klavier z.B. Glenn Gould, der eben pp spielte, wenn f dasteht oder eine Cantilene bei Beethoven im staccato zerhäckselte. Seine Aufnahmen romantischer Musik sind eben daher auch eher ein Kuriosum als wirklich ein "must have". (Die Pianisten hier mögen mir widersprechen.) Bei Bach hieß es dann, da geht das ja, weil nichts drinsteht. Ich halte das für fraglich und ehrlicherweise GG auch nicht wirklich für einen guten Bachinterpreten.

Und dann gibt es ja Bearbeitungen, die ganz bewusst Sachen anders machen, weil die Rahmenbedingungen ebenverändert sind. Ich denke an Straubes Bearbeitungen barocker Musik für romantische Orgel. Das kann ja auch ergreifend sein, wenn man an so einem Gerät Konzert hat und nicht nur Rheinberger und Reger spielen will.

View: https://www.youtube.com/watch?v=PmLLCB25heI
 
Natürlich kann man barocke Stücke auch modern interpretieren. Jeder wie er möchte. Mir stellt sich diese Frage nicht wirklich, da ich die Möglichkeit habe, originale historische Orgeln oder Orgeln, die stark nach historischen Vorbildern gebaut wurden, zu nutzen. Somit möchte ich Stücke so spielen, wie es der Komponist wollte (der auch ähnliche oder die selben Orgeln gespielt hat). Und das gilt für alle Epochen.
Etwas unsinnig finde ich nur moderne Interpretationen an historischen Orgeln aus der Zeit des Komponisten, wenn sie noch in diesem Stil ist (also keine pneumatische Orgel im barocken Gehäuse der Orgel, an der der Komponist mal gespielt hat)
 
Hallo,
ich habe die Beiträge leider erst jetzt gelesen. Bezug nehmen möchte ich auf den Beitrag von Dussek am Donnerstag. Es wird ja sehr oft geschrieben, daß der Gemeindegesang damals bedeutend langsamer war als heute (eine Viertel rund 1 s). Wenn nun freie Orgelstücke im Metrum schneller genommen wurden als das Singtempo der Choräle, ist das ja erst mal egal, denn die beiden haben ja direkt nichts miteinander zu tun. Aber wie ist es denn dann mit den Choralvorspielen? Schlecht vorstellbar, daß der Grundschlag des Vorspiels nicht mit dem späteren Singtempo des Chorals übereinstimmt. Oder wurde der Grundschlag dann beim Singen halbiert?
 

Ähnliche Themen


Zurück
Top Bottom