Begründete Tempowahl Bach und Konsorten

  • Ersteller des Themas St. Francois de Paola
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Dieses "einigermaßen" reicht halt oft nicht. Nicht nur bei Bach ;-)

Ich verwende den Begriff allerdings völlig bewusst, ich bekommen es zwar, wenn ich die Tage vorher gut geübt habe, durchaus hin, aktuell das Präludium BWV 541 fehlerfrei zu spielen und werde das auch mit der Fuge hinbekommen, gleiches wird dann später auch für die Fuge gelten. Trotzdem wird man immer ein paar kleinere Ungenauigkeiten in der Artikulation oder so hören, es gibt da halt nunmal Dinge, die ein Koopmann besser macht.
Ich unterstelle, dass auch du nie zu 100% den Klang erreichst, den du erreichen möchtest.
Deshalb halte ich mich sehr mit Begriffen wie "zu 100% beherrschen" etc. zurück. Falsche Töne, offensichtlich ungewollte Ungenauigkeiten und dergleichen habe ich auch schon bei renommierten Konzertorganisten gehört.

Und zurück zum Thema, solche Ungenauigkeiten zu vermeiden finde ich bei niedrigem Tempo oft schwieriger.
 
Deshalb halte ich mich sehr mit Begriffen wie "zu 100% beherrschen" etc. zurück.

"100% beherrschen" und "einigermaßen beherrschen" liegen für mich noch recht weit auseinander. Natürlich bin auch ich kein Roboter und verspiele mich mal, auch bei Konzerten, und meine Erfahrung ist, dass es gerade in der Vorspielsituation wesentlich stressfreier ist, wenn man in der Vorbereitung eben nicht mit "einigermaßen" zufrieden war, sondern sich den persönlichen 100% so weit wie möglich genähert hat.

Und zurück zum Thema, solche Ungenauigkeiten zu vermeiden finde ich bei niedrigem Tempo oft schwieriger.

Für mich gibt es einen Unterschied zwischen Ungenauigkeit (mal daneben gelangt) und Noch-nicht-genug-gekonnt (z.B. wenn man immer im gleichen Takt daneben langt). Aber es gibt für mich auch kein grundsätzliches "es ist langsam leichter oder schwieriger" oder "es ist schneller leichter oder schwieriger", denn das hängt von vielen Faktoren ab. Unter anderem von der persönlichen Wahrnehmung und Herangehensweise, wie man hier im Thread ja auch sieht. Das bedeutet nicht automatisch, dass das eine oder das andere "richtiger" ist.
 
sondern sich den persönlichen 100% so weit wie möglich genähert hat.

Das auf jeden Fall. Man sollte immer das Bestmögliche herausholen und sich natürlich nie zufrieden geben. Ich backe nur lieber kleinere Brötchen, wie ich das bezeichne. Für mich gibt es weniger ein "gekonnt" und "nicht gekonnt", sondern ein gut und schlecht in 1000 Abstufungen.


Das meine ich noch nichtmal mit Ungenauigkeiten. Falsch ist - in unterschiedlich störendem Maße - falsch. Ich meine eher, wenn beispielsweise ein non legato hier etwas näher am legato, dort etwa näher am staccato ist und das weder so gewollt ist, noch Sinn ergibt, wenn einzelne rhythmische Figuren nicht exakt stimmen, man irgendwo auffallend das Tempo nicht richtig hält...

z.B. wenn man immer im gleichen Takt daneben langt

Das ist in der Regel einfach Schlamperei. Passiert je nach Übephase denke ich jedem Mal. Spätestens wenn einem das auffällt, sollte man natürlich handeln, sonst hat man nicht doppelt, sondern dreifach oder mehr Arbeit.

Aber es gibt für mich auch kein grundsätzliches "es ist langsam leichter oder schwieriger" oder "es ist schneller leichter oder schwieriger"

Natürlich nicht. Aber gewisse Dinge sind tendenziell eher in höherem Tempo schwieriger, andere eher in niedrigerem Tempo.
 
Das meine ich noch nichtmal mit Ungenauigkeiten. Falsch ist - in unterschiedlich störendem Maße - falsch. Ich meine eher, wenn beispielsweise ein non legato hier etwas näher am legato, dort etwa näher am staccato ist und das weder so gewollt ist, noch Sinn ergibt, wenn einzelne rhythmische Figuren nicht exakt stimmen, man irgendwo auffallend das Tempo nicht richtig hält...
Genau!
Dazu möchte ich auch mal den Herren Marpurg zitieren: "Ferner muß der Vortrag oder die Ausführung eines Stückes leicht und fliessend seyn. Wenn man mercket, daß der Thonkünstler nur mit Angst arbeitet, und alle Augenblicke fürchtet, zu fehlen, so machet diesesdem Zuhörer zugleich Angst und Furcht. Auch hierinn ist es besser, mit einem galanten Leichtsinn einige Fehler zu machen, als pendantisch gar zu sorgsam zu seyn."
Diesem Zitat stimme ich vollkommen zu.
 
Wobei man bedenken sollte, dass die Vorschrift "vivace" erst zu späterer Zeit ein rasches Tempo erzwingt.

Bei Leopold Mozart z. B. ist das noch nicht der Fall:

Vivace, (Vivace.) heißt lebhaft, und Spiritoso, (Spiritoso.) will sagen, daß man mit Verstand und Geist spielen solle, und Animoso (Animoso.) ist fast eben dieß. Alle drey Gattungen sind das Mittel zwischen dem Geschwinden und Langsamen, welches uns das musikalische Stück, bey dem diese Wörter stehen, selbst mehrers zeigen muß.
https://dme.mozarteum.at/digital-editions/violinschule#1-3-27
 
Ich frage mich immer, was "schnell" früher im Vergleich zu heute wirklich war. Wo doch quasi alles vielfach schneller ist im Leben heutzutage. Auch die z.T. grobschlächtigen Barockinstrumente nicht vergessen...
Gut, außer der menschl. Puls.. Auch die Hörgewohnheiten dürften andere sein, der Reiz von Musik überhaupt ist auch deutlichst zurückgegangen, weil sie immer und überall verfügbar ist (ich höre zuhause grundsätzlich keinerlei Hintergrundmusik mehr und liebe Stille, soweit überhaupt möglich, mittlerweile sehr).
Vorhin zufällig über BWV541 gestolpert auf einem Retro-Trip, reproduziert über eine Welte-Rolle. Hatte irgendwo gelesen, dass hier gewollt sehr wenig korrigiert wurde, obwohl es ja durchaus machbar gewesen wäre und sicher auch "verführerisch modern" damals, man war trotzdem ganz scharf auf dieses "Live-Erlebnis". Ja, da sind Parallelstellen mal nicht identisch, manches wacklig/zufällig, gefällt mir trotzdem.. (Sittard war zu der Zeit übrigens einer der besten/bekanntesten Organisten überhaupt)

View: https://www.youtube.com/watch?v=6CB5RfP0nws

Orgel: https://www.musikautomaten.ch/mma/de/home/britannic-orgel.html

PS Ich schätze mal, das war eine sehr frühe "Aufnahme", so früh, dass man das elektroakustisch vielleicht nur mit Ach und Krach hingekriegt hätte (und natürlich nicht in Stereo, hier allerdings teils etwas phasig und merkwürdiger künstl. Hall oder täusche ich mich?)
 
Wobei man bedenken sollte, dass die Vorschrift "vivace" erst zu späterer Zeit ein rasches Tempo erzwingt. Im Früh- und Hochbarock ist damit eher gemeint, dass man besomders lebhaft artikulieren soll.

Dazu habe ich noch in Daniel Gottlob Türks Klavierschule (S. 364) etwas gefunden:

"Besonders habe ich bemerkt, daß die Tonstücke mit der Überschrift: Vivace, gewöhnlich zu geschwind gespielt werden. Vermutlich wendet man diesen Ausdruck, welcher vorzüglich die Art des Vortrages bestimmt, (S. 110) unrichtig nur allein auf die Bewegung an."
https://ks.imslp.net/files/imglnks/usimg/1/1d/IMSLP273876-PMLP144200-klavierschuleode00trkd.pdf

Daraus ist zu schließen, daß Türk noch 1789 die Angabe Vivace in erster Linie auf lebhafte Artikulation bezog, während es zu dieser Zeit schon Kollegen gab, die darin eine bloße Tempoangabe sahen.
 
Sollte da auch nicht unterschieden werden zwischen Satzüberschrift, ergänzender Satzüberschrift und Spielanweisung? Ich würde Vivace nicht unbedingt als das Erstgenannte interpretieren. Oder steht das sonst in den Autographen auch immer an der Stelle?
Z.B. im Falle vom hier erwähnten BWV 541 ist die Frage, ob das überhaupt als Satzüberschrift wie in einer Beethovensonate zu verstehen ist, meines Erachtens nach eher nicht:

View: https://www.youtube.com/watch?v=SY7zXdy2tbc


Die Interpretation finde ich außerdem zu schnell.

Als Zusatz in einer Satzüberschrift z.B in einer Beethovensonate hat es ja Sinn, ob man Allegro molto, Allegro con brio oder Allegro vivace schreibt.

Ich denke auch, dass es in den P&F für Orgel eher keine Satzüberschriften gibt, wie es die z.B. bei den Triosonaten. Bei BWV 541 steht zwar Vivace, aber meist steht da gar nichts.
Gut, bei BWV 552 und BWV 538 steht auch was zur Dynamik und sonst nichts (von Angaben des obligaten Spiels abgesehen).

Alles Gründe, warum das Vivace zumindest hier aus meiner Sicht nicht primär Tempoangabe ist.
 
Daraus ist zu schließen, daß Türk noch 1789 die Angabe Vivace in erster Linie auf lebhafte Artikulation bezog, während es zu dieser Zeit schon Kollegen gab, die darin eine bloße Tempoangabe sahen.
Ich glaube insgesamt, dass die Angabe Vivace sich zu der Zeit auf beides Bezogen hat. Auch bei einer lebhaften Artikulation wirkt die Passage nicht unbedingt lebhaft, wenn sie extrem langsam gespielt wird.
 
Ich glaube insgesamt, dass die Angabe Vivace sich zu der Zeit auf beides Bezogen hat. Auch bei einer lebhaften Artikulation wirkt die Passage nicht unbedingt lebhaft, wenn sie extrem langsam gespielt wird.

Von "extrem langsam" hat ja niemand was geschrieben. Leopold Mozart ordnet Vivace/Spiritoso/Animoso im "Mittel zwischen dem Geschwinden und Langsamen" ein.
 

Ich frage mich immer, was "schnell" früher im Vergleich zu heute wirklich war. Wo doch quasi alles vielfach schneller ist im Leben heutzutage. Auch die z.T. grobschlächtigen Barockinstrumente nicht vergessen...
Gut, außer der menschl. Puls.. Auch die Hörgewohnheiten dürften andere sein, der Reiz von Musik überhaupt ist auch deutlichst zurückgegangen, weil sie immer und überall verfügbar ist

Der Choralgesang im Gottesdienst war, zumindest im 19. Jh., im Vergleich zu heute unfassbar langsam, so etwa 30-60 bpm, wobei die Noten (wie auch zu Bachs Zeiten) alle den selben Wert hatten und meist im geraden Takt standen. Heute singt man so um die 100-120. Das hatte vor allem seinen Grund darin, damit der kirchliche Gesang sich durch seine "Feierlichkeit" deutlich von weltlichem unterschied. Ich frage mich aber, ob nicht auch die in der Kirche erklingende Orgelmusik entsprechend langsam gespielt wurde, um nicht "weltlich" zu klingen ...

Angenommen, Bach hätte bei BWV 541 "lebendig" artikuliert, ansonsten aber das Tempo kirchlich-gemächlich genommen (max. 60 bpm), würde das heute noch jemand so hören wollen? Und würden Organisten Bachs Tempo wählen, auch wenn es sie evtl. selbst gar nicht überzeugt?
 
Ich glaube aber nicht, dass man sich bei dem Tempo freier Orgelstücke von barocken Kirchenmusikern an das langsamer Tempo der Choräle halten soll.
Orgelmusik hat eine gewissen Zusammenhang und Ähnlichkeit mit Cembalomusik. Diese ist wiederum oft weltlich. Deshalb glaube ich nicht, dass Bach seine (Orgel)werke / kirchlichen Werke (auf dem Pedalcembalo) grundsätzlich langsamer als weltliche Musik gespielt hat (ist jetzt vielleicht etwas weit hergeholt und mit wenig Bezug zur Orgel).
Man sollte auch bedenken, dass wohl nicht nur geistliche Musik für Bach von Gott kam.
 
Video auf Wunsch entfernt /mod

Hier nochmal ein schlechtes Beispiel. Ton spielt hier über sehr viele Feinheiten hinweg. Dabei könnte man aus dem Stück viel mehr rausholen. Auch sollte man hier bedenken, dass Bruhns auch Violine gespielt hat. Der Anfang klingt sehr von diesem Instrument beeinflusst. Doch könnte man den Beginn damit nie so schnell spielen.

Vielleicht wollte Ton aber auch nur das Publikum beeindrucken:party:. Das ist aber wohl nicht sein Beweggrund.

Zur Verbindung mit der Violine ist hier nochmal ein interessantes Video, falls es wen interessiert.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Der Choralgesang im Gottesdienst war, zumindest im 19. Jh., im Vergleich zu heute unfassbar langsam, so etwa 30-60 bpm, wobei die Noten (wie auch zu Bachs Zeiten) alle den selben Wert hatten und meist im geraden Takt standen. Heute singt man so um die 100-120. Das hatte vor allem seinen Grund darin, damit der kirchliche Gesang sich durch seine "Feierlichkeit" deutlich von weltlichem unterschied. Ich frage mich aber, ob nicht auch die in der Kirche erklingende Orgelmusik entsprechend langsam gespielt wurde, um nicht "weltlich" zu klingen ...

Gab es denn zu Bachs Zeiten eine stilistische Trennung von "kirchlicher" und "weltlicher" Musik?
Bach hat haufenweise weltliche Kantatensätze zu geistlichen umgearbeitet, indem er den Notentext beibehalten und lediglich einen neuen Text daruntergelegt hat. Die wurden bestimmt nicht plötzlich im halben Tempo musiziert.
Und das Choraltempo war im 18. Jahrhundert regional noch sehr unterschiedlich.
 
Die wurden bestimmt nicht plötzlich im halben Tempo musiziert.
eben
Und das Choraltempo war im 18. Jahrhundert regional noch sehr unterschiedlich.
Das mag sein. Wobei auch der Choralgesang in der Kirche heute auch noch oft langsamer ist.
Gab es denn zu Bachs Zeiten eine stilistische Trennung von "kirchlicher" und "weltlicher" Musik?
Das meinte ich damit, dass alle Musik für Bach himmlische Musik von Gott war.
 
Gab es denn zu Bachs Zeiten eine stilistische Trennung von "kirchlicher" und "weltlicher" Musik?
Bach hat haufenweise weltliche Kantatensätze zu geistlichen umgearbeitet, indem er den Notentext beibehalten und lediglich einen neuen Text daruntergelegt hat. Die wurden bestimmt nicht plötzlich im halben Tempo musiziert.
Ja, aber es gab immer nur die Richtung weltlich-geistlich, nicht andersherum. Oder ist mir da was entgangen? Für die Tempofrage aber eher nicht brauchbar.
Und da gibt's doch einen Arnstadter "Allein Gott in der Höh'", heute brav als Konzertstück zwischen unpassendem gespielt, früher wohl eher ein ein bisschen extravaganter Begleitsatz, der entsprechnend langsames Singetempo/Zäsuren erforderte.
 
Gab es denn zu Bachs Zeiten eine stilistische Trennung von "kirchlicher" und "weltlicher" Musik?

Meines Erachtens nach gab es eine fließende Grenze zwischen der Matthäuspassion und z.B. den Cembalotoccaten.
Beispielsweise wird in die Passacaglia in c-Moll (eigentlich ein Tanz!) sehr oft von Zahlensymbolik bis Choralzitaten sehr viel Religiosität hineininterpretiert und das finde ich nicht allzu weit hergeholt. Diese ganzen, meist in Weimar komponierten Sachen wurden ja auch im Gottesdienst gespielt und haben mit Sicherheit auch religiöse Gefühle des Komponisten verarbeitet.
Zwar nicht aus Weimar, aber ganz offensichtlich in religiösem Kontext steht ja z.B. BWV 552.
 
Doch könnte man den Beginn damit nie so schnell spielen.

Ich habe es gerade mal zum Spaß meiner Frau vorgelegt. Sie kann es auf der Geige sogar noch schneller als Koopman auf der Orgel.

Womit nicht gesagt sein soll, dass das musikalisch sinnvoll ist. Die immanente Zweistimmigkeit der Figur ist ja schon bei Koopman nicht mehr erkennbar.
 

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