Begründete Tempowahl Bach und Konsorten

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St. Francois de Paola

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Meist spielen ja die Anhänger der historischen Aufführungspraxis wie Koopmann und co. eher etwas schneller, Leute wie Varnus und Konsorten teils deutlich langsamer im Vergleich zum heute üblichen Mittelwert.
Natürlich hängt das gewählte Tempo auch davon ab, ob man in einer staubtrockenen, kleinen Barockkirche ein kleines Instrument von Silbermann oder in einer großen Kathedrale mit 8 Sekunden Nachhallzeit ein spätromantisches Instrument mit pneumatischer Traktur bespielt (so man denn in zweiterem Falle die Aufführung von Bach und ähnlichen Komponisten überhaupt für sinnvoll hält).

Nun wurden wahrscheinlich die Bachschen Orgelwerke insgesamt seltener in Konzerten und dafür häufiger in Gottesdiensten, in denen wohl seltener als heute üblich auf die Uhr geschaut wurde, gespielt.
Auch weiß man natürlich nicht, ob und wie stark Bach andere Fassungen als die heute vorliegenden gespielt oder halb improvisiert hat, was natürlich die Dauer beeinflusst haben kann.

Nun ist die Frage, gibt es eine Quelle, die die Dauer einer zeitgenössischen Aufführung von Orgelwerken Bachs, vielleicht auch von Werken eines Schülers wie z.B. Krebs oder wenigstens anderer Barockkomponisten wie Buxtehude angibt?
Oder vielleicht von irgendwelchen anderen Sachen von Bach?

Kommt das meist schnelle Spiel der HAP von der häufig eher trockenen Akkustik in den Kirchen, in denen die meisten historischen Instrumente stehen?
Oder wählen die eher konservativen Organisten häufig im Vergleich eher hohe Tempi, weil die konservativen Pianisten auch Beethoven und Chopin (die aber auch eher hohe, teils vieldiskutierte Metronomzahlen angeben) meist eher recht schnell spielen?

Ich muss gestehen, dass meine Wahl der Tempi bislang eher immer weniger intellektueller Natur war, sondern einfach nur ein Kompromiss aus technischem Können, persönlichem Geschmack und wie es mir auch in Bezug auf die Raumakkustik am besten gelang, die musikalische Struktur auf die Weise erkenntlich zu machen, wie ich es für angebracht halte.
 
Nun ist die Frage, gibt es eine Quelle, die die Dauer einer zeitgenössischen Aufführung von Orgelwerken Bachs, vielleicht auch von Werken eines Schülers wie z.B. Krebs oder wenigstens anderer Barockkomponisten wie Buxtehude angibt?

Auf die Schnelle fällt mir nur die postume Schilderung eines zweistündiges Konzerts (darunter einer halbstündigen Improvisation) ein:

"Während dieser Zeit, ungefehr im Jahr 1722, that er eine Reise nach Hamburg, und ließ sich daselbst, vor dem Magistrate, und vielen andern Vornehmen der Stadt, auf der schönen Catharinenkirchen Orgel, mit allgemeiner Verwunderung mehr als 2 Stunden lang, hören. Der alte Organist an dieser Kirche, Johann Adam Reinken, der damals bey nahe hundert Jahre alt war, hörete ihm mit besondern Vergnügen zu, und machte ihm, absonderlich über den Choral: An Wasserflüssen Babylon, welchen unser Bach, auf Verlangen der Anwesenden, aus dem Stegreife, sehr weitläuftig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschiedene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hamburgischen Organisten in den Sonnabends Vespern gewohnt gewesen waren, ausführete, folgendes Compliment: Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebet."
https://jsbach.de/bachs-welt/dokume...g-auf-johann-sebastian-bach-und-trauerkantate

Hier findet sich auch die Bemerkung: "Im Dirigiren war er sehr accurat, und im Zeitmaaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher."
 
Es gibt natürlich etliche Untersuchungen, die versuchen, einem Tempogefühl der Barockzeit nah zu kommen. Da gibt es in verschiedenen Traktaten ziemlich umständliche Anweisungen, die sich z.B. auf den Pulssschlag beziehen. Wirklich genau ist das alles nicht. Eine sehr ausführliche Abhandlung über das Thema ist diese hier:

https://www.amazon.de/Bach-schnell-Praktischer-Tempo-Wegweiser-Beispielen/dp/3825173712

Gibt es gebraucht schon für kleines Geld. Bitte nicht als Werbung für den Versand ansehen, mir ging es einfach nur darum, das Buch zu verlinken. Gibt es bestimmt auch anderswo.

Im Ergebnis kömmt man nach ersprießlicher Lektüre auf ein relativ langsames Tempo, aber das muss natürlich nicht die Wahrheit in unserem Herren Christo sein.
 
Wenn man sich Aufnahmen von Paul Denais anhört, wie er Bach spielt, so ist das ausgesprochen gemächlich und manchmal ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber ich habe den Eindruck, dass er sehr überzeugt ist von seinen Tempi.

Wie sagte einer meiner Lehrer mal so schön: "Du darfst das gerne so langsam spielen, wenn Du Dir das musikalisch gut überlegt hast - wenn Du es aber so langsam spielst, weil Du es nicht schneller kannst, dann übe!" ;-)

Wir müssen gerade an der Orgel ja immer schauen, wie das Instrument reagiert, wie die Akustik ist... aber das hast Du ja schon geschrieben.
 
Etwas genaueres ist zu Bachs früheren Werken (Toccaten) bekannt. Da gibt es Tempobezeichnungen, die einen großen Kontrast zeigen. Selbes gilt quasi auch für Bruhns. Walter Kraft spielt das kleine E-moll Präludium durchgehend im selben Tempo. Die Fuge ist nicht umsonst mit Vivace, lebhaft, betitelt. Die ist hier aber nicht wirklich lebhaft gespielt. Ob man da Rückschlüsse zu Bach ziehen kann, ist eine andere Frage. Bei Buxtehude ist das etwas anderes.
 
Der Bruhns klingt so besser, als ich das geglaubt hätte. Ich wusste gar nicht, dass von der echten Totentanzorgel noch Aufnahmen existieren.

Wie sagte einer meiner Lehrer mal so schön: "Du darfst das gerne so langsam spielen, wenn Du Dir das musikalisch gut überlegt hast - wenn Du es aber so langsam spielst, weil Du es nicht schneller kannst, dann übe!"

Ich finde, gerade bei Bach ist es, wenn man denn das Stück irgendwann einigermaßen beherrscht manchmal sogar schwerer langsamer zu spielen, weil es dann mehr Abstufungen zwischen legato und staccato gibt und es schwerer ist, das Tempo durchzuhalten.
 
Wobei man bedenken sollte, dass die Vorschrift "vivace" erst zu späterer Zeit ein rasches Tempo erzwingt. Im Früh- und Hochbarock ist damit eher gemeint, dass man lebhaft artikulieren soll.
Wobei ein etwas höheres Tempo die Fuge noch lebhafter erscheinen lässt. Außerdem ist mir hier zu legato gespielt. Dadurch wirkt auch nicht unbedingt lebhafter.
 
Natürlich hängt das gewählte Tempo auch davon ab, ob man in einer staubtrockenen, kleinen Barockkirche ein kleines Instrument von Silbermann oder in einer großen Kathedrale mit 8 Sekunden Nachhallzeit ein spätromantisches Instrument mit pneumatischer Traktur bespielt (so man denn in zweiterem Falle die Aufführung von Bach und ähnlichen Komponisten überhaupt für sinnvoll hält).
Wobei man natürlich auch sagen muss, dass viele barocke Organisten auch große gotische Kirchen hatte. Vincent Lübeck in der Nikolaikirche in Hamburg, Dieterich Buxtehude in der Marienkirche in Lübeck, Georg Böhm in der Johanniskirche in Lüneburg. Und das sind die größten Norddeutschen Komponisten des Barock gewesen. Nur sind zwei von den Orgeln verbrannt und eine mäßig gut erhalten. Die meisten Barockorgeln stehen aber in kleineren Kirchen. Das mag vielleicht auch ein Grund für das mittlerweile recht schnelle Tempo sein. Wobei ich nicht bezweifeln möchte, dass die Komponisten in Räumen mit kleinerer Akustik nicht auch schneller gespielt haben.
 
Wobei ein etwas höheres Tempo die Fuge noch lebhafter erscheinen lässt. Außerdem ist mir hier zu legato gespielt. Dadurch wirkt auch nicht unbedingt lebhafter.
Ich habe mir das gar nicht angehört, es war nur eine ganz allgemeine Feststellung von mir, weil der Begriff "vivace" oft fehlgedeutet wird. Ebenso übrigens wie "adagio" - in alter Musik ist damit nicht immer ein langsames Tempo gemeint; manchmal bedeutet die Vorschrift nur, dass man hier rhythmisch freier spielen soll und sich vom strengen Takt lösen darf.
 

in alter Musik ist damit nicht immer ein langsames Tempo gemeint; manchmal bedeutet die Vorschrift nur, dass man hier rhythmisch freier spielen soll und sich vom strengen Takt lösen darf.
Da hast du recht. Wobei die die Übergänge wohl fließend sind. Wir sind uns wohl einig, dass man bei Buxtehude (freie Werke) die einzelnen Teile nicht alle im selben Tempo spielen soll. Da Bruhns als Buxtehudes Schüler viele "Tempobezeichnungen" verwendet hat, kann man wohl davon ausgehen, dass diese sich (auch) auf das Tempo beziehen.
 
Wie ist überhaupt bei Bruhns die Quellenlage? Weiß man da sicher, dass die Anweisung vom Komponisten stammt? Könnte die auch bei irgendeiner Abschrift hinzugefügt worden sein?

Wir sind uns wohl einig, dass man bei Buxtehude (freie Werke) die einzelnen Teile nicht alle im selben Tempo spielen soll.

Nicht nur dass, man kann auch bei diesen ganzen Stilus phantasticus-Sachen sehr viel häufiger Riterdandi und Accelerandi anbringen als bei Bach - zumindest nach heutigem Empfinden.
Wobei natürlich einige Sachen von Bach auch sehr offensichtlich von diesem Stil beeinflusst sind und passagenwese auch freier im Tempo gespielt werden können.

Um die Frage ging es mir aber eigentlich weniger.
 
Wenn man sich Aufnahmen von Paul Denais anhört, wie er Bach spielt, so ist das ausgesprochen gemächlich und manchmal ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber ich habe den Eindruck, dass er sehr überzeugt ist von seinen Tempi.

Wie sagte einer meiner Lehrer mal so schön: "Du darfst das gerne so langsam spielen, wenn Du Dir das musikalisch gut überlegt hast - wenn Du es aber so langsam spielst, weil Du es nicht schneller kannst, dann übe!" ;-)

Wir müssen gerade an der Orgel ja immer schauen, wie das Instrument reagiert, wie die Akustik ist... aber das hast Du ja schon geschrieben.

Also, ich kenne mich ja schon ein wenig in der Orgelszene aus, aber den Herrn Denais habe ich auch erst mal googlen müssen.
https://www.bach-cantatas.com/Bio/Denais-Paul.htm
Diese Herleitung, die da immer noch propagiert wird, ist allerdings völliger Quatsch. Es gab in Frankreich die Legende, dass das völlig ahistorische Spiel von Widor und Dupré auf eine ungebrochene Tradition zurückgeht, die bis Bach zurückreicht. Die These ist längst widerlegt. Abgesehen davon, dass eben nicht eine getreue Überlieferung stattfindet, die jeder Mode trotzt, geht es spätestens bei Hesse und Lemmens schief, da dort kein wirkliches Lehrer-Schüler-Verhältnis zustande kam.
 
Ich habe nirgends gesagt, dass ich diese Mythen und Legenden teile. ;-) Wenn es um Bachinterpretationen geht, die eher auf der "gemächlichen" Seite sind, kam er mir halt in den Sinn. Gibt sicher auch andere Beispiele.

Ne, schon klar, aber es zeigt, aus welcher Schule er kommt. Das kann ja musikalisch schön sein, was er macht, aber damit ist er nun gerade nicht ein Vertreter einer historisch kritischen Betrachtungsweise.
 
Wie ist überhaupt bei Bruhns die Quellenlage? Weiß man da sicher, dass die Anweisung vom Komponisten stammt? Könnte die auch bei irgendeiner Abschrift hinzugefügt worden sein?
Als Beispiel nehme ich jetzt noch mal das große E-Moll von Bruhns. Davon ist nur eine Abschrift in der Möllerschen Handschrift erhalten. Diese ist aber, im Gegensatz zu allen anderen Werke der Möllerschen Handschrift, in Buchstabentabulatur. Dass er da Tempobezeichnungen hinzufügt hat, halte ich daher für sehr unwahrscheinlich. Das wäre aber auch kein Problem, wenn sie die Art und Weise beschreiben, wie Bruhns es gespielt hat. Um nochmal auf Bach zurück zu kommen. Die Schüler übernahmen oft die Schriftformen ihrer Meister. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass Bach, wie Bruhns, diese Art des Schreibens und Komponieren bei Buxtehude und Böhm gelernt hat (es sind tatsächlich Notenschriften im Stil von Böhm erhalten, die der 15-jährige Bach geschrieben hat). Somit könnte man ähnliche Regeln auf frühe Bachwerke anwenden. Ein gutes Beispiel könnte BWV 565 sein.
 
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Völlig d'accord. Das Problem dabei ist ja, wie schnell ist vivace oder andante oder allegro dann wirklich? Bei dem Bruhns mit Kraft ist halt das Präludium extrem schnell. Dann wirkt die Fuge etwas zäh, obwohl es gar nicht so langsam ist. Problematischer finden wir heute wohl tatsächlich das zähe legato.
 

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