agogik - zufall, willkür, objektiv messbar?

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adatschio

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mahlzeit!

eine frage zur verdauung hätte ich:

mit welchen mitteln wird beispielsweise ein rubato beim zusammenspiel in der klassischen musik (also ab zwei aufwärts) erarbeitet?
durch tempoangaben? also von tempo x auf tempo y in diesem takt.
oder durch einfaches auswendiglernen nach gehör?
oder sonstwie?

im weitesten sinne betrifft das ja den klavierspieler auch, der rubato in seinen chopin einbaut.
wie verfährt ihr da im allgemeinen?


gibt es für den (vom dirigenten angewiesenen) einzelspieler/klavierspieler irgendwelche objektive parameter die man anwenden, nach denen man sich richten kann?


lg
 
Mahlzeit.

Das ist eine sehr gute Frage, die sich aber leicht beantworten lässt.

Mein Papa ist seit Jahrzehnten Uhrmacher. Ich hab mit ihm einen Test gemacht. Und zwar habe ich ihm ein Metronom ticken lassen und er sollte bestimmen, ob das Ticken gleich 60 Schlägen pro Minute ist (also das Ticken einer Uhr) oder ob es langsamer oder schneller ist. Bei einer Toleranz von 8 bpm lag er noch ziemlich richtig. Aber danach meinte er, dass ca. 56 Schläge pro Minute das Fortbewegen eines Sekundenzeigers ist.

Also: Es geht nicht! Es gibt zwar in seltenen Fällen Menschen, die ein absolutes Gehör besitzen, aber es gab noch niemanden auf der Welt, der ein absolutes Tempogefühl hat.

Das wird wohl auch für Agogik gelten. Auch Agogik kann man nur relativ, nicht absolut (nicht z. B. von 100 Schlägen pro Minute auf 86) ausführen. Und das ist Übung der musikalischen Vorstellung.

Beim Zusammenspiel ist der Augenkontakt und Zeichen durch Körpersprache bei Agogik wichtig. Und bei einem Orchester bestimmt die Agogik der Dirigent, wobei ich schon oft bei amateurhaften Orchestern erlebt habe, dass ein Rubato in ein Chaos enden kann.

Das Zeitgefühl ist aber auch vom Herzschlag abhängig. Es gibt viele, die bei einem Vorspiel schneller spielen, als sonst, weil ihr Herz wegen Lampenfieber viel schneller schlägt.

Außerdem ist das Zeitgefühl auch von der Eigenfrequenz des Körpers abhängig. Kinder mögen schnellere Musik als Erwachsene.
 
Ja, es gibt objektive Parameter, die man aber nicht "messen" oder wissenschaftlich verhackstücken kann:

Musikalität, Sensibilität und Können!

Wissenschafts- und Meßwahn haben in der Musik nichts zu suchen. Der Wahn besteht darin, zu glauben, daß nur real sei (bzw. nur relevant sei), was meß- und quantisierbar sei.

Begib Dich wirklich in die Musik hinein, übe, lerne sie wirklich zu fühlen - dann wirst Du solche Fragen nicht mehr stellen.

LG,
Hasenbein
 
Mein Papa ist seit Jahrzehnten Uhrmacher. Ich hab mit ihm einen Test gemacht. Und zwar habe ich ihm ein Metronom ticken lassen und er sollte bestimmen, ob das Ticken gleich 60 Schlägen pro Minute ist (also das Ticken einer Uhr) oder ob es langsamer oder schneller ist. Bei einer Toleranz von 8 bpm lag er noch ziemlich richtig. Aber danach meinte er, dass ca. 56 Schläge pro Minute das Fortbewegen eines Sekundenzeigers ist.

Also: Es geht nicht! Es gibt zwar in seltenen Fällen Menschen, die ein absolutes Gehör besitzen, aber es gab noch niemanden auf der Welt, der ein absolutes Tempogefühl hat.

Bist du dir da sicher? Ich kann keine Belege vorweisen, allerdings ist ein absolutes Gehör nichts anderes als eine Gedächtnisleistung bezüglich Frequenzen, warum sollte man sich andere physikalische Größen wie die Dauer nicht auch merken können?

Ich hab zwar keine Ahnung, was man genau als Uhrmacher können muss...als Klavierstimmer brauch man allerdings auch kein absolutes Gehör, es kann sogar ziemlich hinderlich sein. ;)

Alles Liebe
 
Hallo adatschio,

in der Kammermusik hört man sich einfach nur gut zu und folgt seinem Partner, wenn der Glück hat :D .

Wenn man dann miteinander probt, setzt man sich mit den jeweiligen Vorstellungen, die schon mal sehr unterschiedlich sein können auseinander und bemüht sich, eine gemeinsame Interpretation zu finden. Da geht es natürlich auch darum, wo man etwas nach vorne geht, wo man ritardandi einbaut etc.. Eventuell notiert man sich das in den Noten - gespielt wird es durch gutes Zuhören aufeinander. Dabei ist meistens einer der Führende, oft der, der nicht klavierspielt. :p Das ist viel weniger schwierig, als es sich anhört. Gute Begleiter sind immer oder fast immer mit ihren Partnern zusammen, ob geprobt oder nicht. Da braucht man auch keine Zeichen, die aber grundsätzlich schon mal gegeben werden können.

Solo im Klavierkonzert achtet man auf den Dirigenten, der die Schnittstelle zwichen Solist und Orchester bildet. Zuhören ist aber trotzdem nicht verkehrt :D !

Grundsätzlich ist rubato in einer Phrase ja so auszuführen, dass es den Verlauf der Phrase unterstützt, also beispielsweise anfangs etwas nach vorne geht, dann wieder etwas ritardiert. Ganz allgemein kann man vielleicht sagen, dass die Phrase einen Topf voll der Zeit hat, die sie in ihrem Verlauf über dem Metrum benötigt. Wenn man am Anfang nun langsamer wird, muss das Tempo dann wieder angezogen werden, damit das "Zeitkontingent" nicht überschritten wird. Sonst verliert man vor lauter rubato den Puls und alles wird verzerrt und unstrukturiert. - Das ist natürlich sehr, sehr allgemein gehalten.

Viele Grüße

chiarina
 
Bist du dir da sicher? Ich kann keine Belege vorweisen, allerdings ist ein absolutes Gehör nichts anderes als eine Gedächtnisleistung bezüglich Frequenzen, warum sollte man sich andere physikalische Größen wie die Dauer nicht auch merken können?

Hi silversliv3r,

ich bin mir absolut sicher, dass niemand auf der Welt ohne technischer Hilfsmittel ein absolutes Zeitmaß messen kann.

Und wenn - wie sollte das denn funktionieren? Hat man dann im Gehirn eine Quartz-Mechanik implantiert? ;)

Vielleicht könnte man das irgendwie an seinem Ruhepuls des Herzschlags messen, aber der ist ja auch immer verschieden.
 
Hi silversliv3r,

ich bin mir absolut sicher, dass niemand auf der Welt ohne technischer Hilfsmittel ein absolutes Zeitmaß messen kann.

Und wenn - wie sollte das denn funktionieren? Hat man dann im Gehirn eine Quartz-Mechanik implantiert? ;)

Vielleicht könnte man das irgendwie an seinem Ruhepuls des Herzschlags messen, aber der ist ja auch immer verschieden.

Klar gibt's wahrscheinlich niemanden, der eine Stunde lang zählen kann und immer noch synchron mit ner Atomuhr ist (und mit nem GPS-Satelliten mitfliegen kann und die Zeitdilatation mitrechnet :D).

Allerdings gibt's ja auch kein absolut absolutes Gehör. Ich kenne jedenfalls niemanden, der mir genau sagen kann, wie viel Hertz ein Ton hat, es reicht ja schon, wenn man Halbtöne unterscheiden kann, dass man als Absolutgehörer gilt. Und so glaub ich auch, dass es Menschen gibt, die Tempi bis auf die erste Stelle vorm Komma bestimmen können (und vielleicht noch genauer).

Alles Liebe
 
Das Thema hat mich so sehr interessiert, dass ich doch glatt im Lexikon nachschlagen musste :)

Aus Wikipedia:

Untersuchungen haben ergeben, dass es für die Dauer eines objektiven Vorgangs keine speziellen Zellen im Gehirn gibt, die eine Messung des Zeitablaufs vornehmen. Das Gehirn stützt sich bei der Einschätzung der Verlaufsdauer eines objektiven Vorgangs auf ein Maß der geistigen Tätigkeiten, die aus der Beschäftigung während des Vorgangs resultieren. Dabei stellen sich folgende Empfindungen ein:
  1. Erregt ein objektiver Vorgang eine hohe geistige Tätigkeit, so entsteht die Vorstellung, dass der Vorgang längere Zeit andauert
  2. Erregt ein objektiver Vorgang eine geringe geistige Tätigkeit, so entsteht die Vorstellung, dass der Vorgang nur geringe Zeit andauert
Unter geistige Tätigkeit ist hierbei die Anzahl der Denkprozesse im Gehirn zu verstehen. Eine typische Versuchsanordnung ist das Abschätzen des Zeitabstands zwischen zwei Signalen, die sinnlich wahrgenommen werden. Sind die Signale der Versuchsperson bekannt, so wird das Intervall zwischen den bekannten Signalen kürzer eingeschätzt als zwischen zwei unbekannten Signalen, wobei die Versuchsanordnung immer gleiche Zeitintervalle zwischen den bekannten und unbekannten Signalen wählte.


Eine weitere Schlussfolgerung über die Empfindung der Zeitdauer einer zurückgelegten Strecke ergibt sich aus den Eindrücken bei der Fahrt zur Arbeitsstätte. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Rückfahrt kürzer andauert als der Hinweg zur Arbeit, weil der Rückweg als bekannt erscheint und weniger Aufmerksamkeit mit Denkprozessen erfordert.

Nur sagt das jetzt nichts darüber aus, ob es einen oder mehrere Menschen auf der Welt gibt, die ein Tempo à la Metronomzahl bestimmen können.

Wobei sich mir auch die Frage stellt: Wenn ein Dirigent ein Orchester leitet, woher weiß er, mit welchem Tempo er anfangen muss? Nimmt er sich dazu das Metronom? Wohl eher nicht, oder?
 
Wobei sich mir auch die Frage stellt: Wenn ein Dirigent ein Orchester leitet, woher weiß er, mit welchem Tempo er anfangen muss? Nimmt er sich dazu das Metronom? Wohl eher nicht, oder?
Nimmst du dir vor jedem Spielen eines Stücks das Metronom, bevor du anfängst?
Wohl eher auch nicht, oder?

Und trotzdem dürftest du wohl dein Zieltempo immer ziemlich gut treffen, weil du einfach eine gewisse Vorstellung des Beginns des Stücks "im Ohr" hast, bevor du anfängst.
Schon minimale Tempounterschiede können einem Stück einen komplett anderen Charakter verleihen, und wer sich mit einem Stück auseinandergesetzt hat und einen gewissen eingeübten Klang-, Artikulations- und Rhythmuscharakter im Kopf hat, der wählt automatisch das dazugehörige Tempo.
Zumindest empfinde ich selbst das zu einem großen Stück weit so (ohne dass ich darüber üblicherweise nachdenken muss).
 
Trotzdem habe ich (und auch andere) bei Vorspielen immer das Gefühl, dass ich schneller spiele als zu Hause und versuche mich zu bremsen.

Das kann ich nur auf meinen Herzschlag zurückführen.
 

Ja - vom Grundpuls. Aber waren sie auch im Stande morgens früh nach dem Aufstehen ein Tempo nach Schlägen pro Minuten zu bestimmen?
 
Aber waren sie auch im Stande morgens früh nach dem Aufstehen ein Tempo nach Schlägen pro Minuten zu bestimmen?

eine merkwürdige Frage... Bartok hatte sehr genau metronomisiert, und er hörte, wenn man davon abweichende Tempi nahm; ob er damit allerdings schon vor dem Frühstück oder im Bad zu tun hatte, wird wohl niemand mehr feststellen können, indes dürfte aber das Metronom weder beim Frühstück noch im Badezimmer sonderlich relevant gewesen sein ;)
 
Ja, aber das was ihr beschreibt, ist keine absolute Tempoangabe, sondern eine relative. Und absolute Tempoangaben kann man ohne Hilfsmittel nicht exakt bestimmen.
 
Ja, aber das was ihr beschreibt, ist keine absolute Tempoangabe, sondern eine relative. Und absolute Tempoangaben kann man ohne Hilfsmittel nicht exakt bestimmen.

Bartok hat gehört, ob man z.B. Viertel = 50 oder Viertel = 52 gespielt hat - für diese Fähigkeit wurde er auch bestaunt.
Ich nehme an, er konnte das besonders gut, wenn er wach und konzentriert war.
 
Um mal zur Anfangsfrage zurückzukehren - in der Kammermusik erarbeitet man ein Rubato oder Tempoänderungen mit viel proben, sich gut kennen, Führung und Erfahrung.

Ich hab es mal bei einer Aufnahme einer Musicalszene in einem Tonstudio geschafft, ein accelerando von 62 auf 84 in einem Takt ohne Klick auf dem Ohr zu spielen. Ich weiß nicht genau, wie das ging. Der Tonmeister war auch relativ baff. Aber ich hatte auch beide Tempi auf dem Ohr vorher. Ohne halte ich das für quasi unmöglich...(es mag Ausnahmen geben, wie immer)
 
Hallo allerseits,

ich muss sagen, ich habe noch nie in meinem Leben irgendein rubato oder irgendwelche Agogik mit Metronom geübt/kontrolliert! Wozu soll das gut sein? Man spielt doch auch ein Stück nicht immer gleich. Interpretation bedeutet doch auch Lebendigkeit, immer wieder neues entdecken, zuzuhören .... . Kein Pianist spielt an zwei Konzertabenden ein Stück genau gleich. Auch seine Idealvorstellung einer Interpretation ändert sich.

Warum sollte man bei Kammermusik ein Metronom zur Absprache agogischer Parameter brauchen? :confused:

Vielleicht hat's ja hier auch keiner gesagt :p, dann bitte melden :p !

Viele Grüße

chiarina

P.S.: Natürlich ist der innere Puls wichtig, um ein rubato schön spielen zu können.
 

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