Auszug (aus so vielem Bedenkenswerten):
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Neue Musik beginnt auch für einfache Menschen überall da und dort, wo man (nach Nietzsche) die Kraft hat, "das Allbekannte-zum Niegehörten umzuprägen", wo der Terrorismus einer neurotischen Zwangsharmonik gebrochen wird, wo melodische, rhythmische und klangliche Potenz jenen Normen-Katalog aufsprengt, den ein dekadentes Europa erstellte
(und der übrigen Welt kolonialistisch aufzwängen zu müssen glaubte).
Diejenigen Substanzen, die im Sinne Nietzsches als Allbekanntes "umgeprägt "werden
können, sind -zumindest in unserem deutschsprachigen Kulturbereich- zweifellos das
Volks-und das Kirchenlied. Schon als Student richtete sich mein instinktiver Widerspruch gegen jene falsche "Volkstümlichkeit" und Choralbuch-Routine, der diese an
sich so wertvollen Materialien unterworfen waren. Unsere europäische Harmonik war schön und interessant in ihrem Werden: als Metamorphose ehedem naturaler
Klangkräfte, die in zunehmendem Maß (von Monteverdi bis Wagner) schöpferisch erfüllbar und stilistisch entfaltbar wurden. (In diesen ihren h i s t o r i s c h e n Ausprägungen
wird Harmonik immer unverzichtbar bleiben.) Aber diese produktive Potenz ist seit 100 Jahren erloschen; schöpferisch legitim kann seitdem nur eine "Neue Musik" sein,
die aus ganz andersartigen Kräften sich nährt. (Ein profitabler Historismus allein verstellt uns den Blick für diese Tatsachen.) Der harmonische Funktionalismus ist heute eine
entleerte Hülse, eine sterile Hinterlassenschaft, die in einem überhaupt nicht mehr vorstellbarem Ausmaß Gegenstand kommerzieller Ausbeutung wurde und damit zu jenem
Konsumsound verkam der die kulturellen Restbestände unserer Erde total und global zerstört.
Der Dreiklang als solcher ist also ein Stück naturaler Physik gegen ihn, als "Tonalität" wird keine Musik je sich richten können, solange sie eine "humane Akzeptanz" zum Ziel hat hat.
Harmonischer Funktionalismus hingegen, im Endstadium seiner Totalvermarktung,
ist für jedes Humanum genau so bedrohlich, wie es unsere Zivilisalionsrückstände für die Ökosysteme einer geschundenen Erde sind. Die zunehmende Banalisierung und
Brutalisierung des Globalsounds verläuft haargenau parallel zu den weltweit beängstigend ansteigenden Kurven von Gewalt, Terror, Kriminalität und Drogenmif]brauch.
lch bilde mir bei Gott nicht ein, mit meinem bißchen Musik "die Welt verbessern zu
können". Aber ganz so dumm, wie mir manche Kritiker unterstellen, ist es vielleicht
doch nicht, wenn man sich über das Woher und Wohin unserer Musik ein paar Gedanken
zu machen versucht.
Nach diesem Exkurs wird man vielleicht etwas eher verstehen, warum ich die B e g l e i t s ä t z e für die eigentliche Keimzelle meiner Lebensarbeit halte. Ich liebe ganz
einfach diese melodischen Schätze des Kirchenlieds und möchte sie deshalb in einer Art erschlossen sehen, die ihrer Würde und Fülle entspricht, befreit von entstellender
Übermalung und Verniedlichung. Wenn ihnen dieserweise eine neue Form gegeben wird
-nicht funktionell nivelliert, sondern linear und motivisch angereichert, rhythmisch und
klanglich aktiviert-dann verkörpern sie damit ejn Stück "neuer Tonalität", die für den
Hörer sehr wohl einen gewissen Zugang schaffen kann zu den abenteuerlichen Bereichen autonomer-Progressivität. Selbst an einer traditionellen Kirchengemeinde wird
es nicht spurlos vorübergehen, wenn ihr das "Allbekannte" immer wieder in neuem Licht als "Aufforderung zum Fortschritt" angeboten wird. Die sechs Hefte der Begleit-
sätze (BA 221 2-2217) machen mit allem später Hinzugekommenen weit über 200
Stücke aus; ein Material also, das nicht nur punktuelle Eindrücke, sondern immerhin ein gewisses Continuum ermöglicht.