Bestürzend ist der Einfluss von dem, was Adorno und Horkheimer „Kulturindustrie“ nennen, also der (halb) industriellen Erzeugung von -in diesem Falle- Musik zum leichten Konsum, die von einer massiven Werbepropaganda begleitet wird. Dieser Konsum entfernt und entfremdet den Hörer immer weiter von der „höheren“ Musik, indem sie wirkliches Zuhören unmöglich macht. Dies ermöglicht es, aus wirtschaftlichem Interesse den faktisch vorhandenen, großen Unterschied in der Qualität von Musik generell erfolgreich zu bestreiten, Bohlen ist dann Bach gleichzusetzen, um ein heutiges Beispiel zu erwähnen. Am Ende stellt dieser Prozess die Existenz besserer Musik überhaupt in Frage, weil ihr die wirtschaftliche Grundlage entzogen wird. Dieses wahrscheinliche und äußerst bedrückende Szenario erklärt die anfängliche Vehemenz und Aggressivität in der adornoschen Sprache bei der Diskussion des Gegensatzes von „niederer“ und „höherer“ Musik, zu der Adorno sich genötigt sah. Zwar wurde und wird die Rezeption der Adornoschen Feststellungen dadurch z. T. bis heute behindert, weil der weniger informierte Leser emotional reagiert, die Argumente selbst (hier in vereinfachter Sprache und mit Beispielen aus der Gegenwart) bleiben davon unberührt:
* niedere Musik ist in kompositionstechnischen Details nicht unbedingt schlecht oder veraltet. Rhythmisch z. B. kann Tanzmusik -und gerade diese- über Finessen verfügen, die z. B. die -nur in diesem Punkte- einfache Wiener Klassik nicht zu bieten hat. Es wäre also falsch, von einer generellen technischen Minderwertigkeit zu sprechen, so oft dies auch im einzelnen zutrifft
* allerdings ist es so, dass die Masse eher zu Titeln neigt, die wesentlich einfacher gestrickt sind, schon heutiger Jazz ist ein Minderheitenprogram, alles was progressiver daherkommt, ist ein Minderheitenphänomen. Es gibt nicht umsonst spezielle Sender oder Programme für harmlose Produktionen.
* die Kritik richtet sich zum einen gegen die die gesellschaftlich bestehenden Verhältnisse stabilisierende Funktion von niederer Musik, also Einlullen, Wunschbilder, dies würde also die „Aussage“ solcher Musik betreffen, auch in Verbindung mit entsprechenden Texten
* kompositionstechnisch richtet sich die Kritik dagegen, dass das Verhältnis von Gesamtform und Details, von Aufwand und Ergebnis nicht stimmt. Zum einen gibt es Bombast-Sound-Produktionen (mit Sinfonie-Orchester), deren eigentlicher kompositorischer Gehalt sehr nahe an dem eines einfachen Kinderliedes anzusiedeln ist. Zum anderen ist die Innovation -die es sicherlich in den besseren Sachen in glücklichen Momenten gibt- immer so in dem bestehende Formenschema gefangen (Strophe, Refrain, Strophe, …, Bridge, Strophe, Coda), dass sich kompositionstechnisch eben keine weiteren Konsequenzen daraus ergeben, denn dann würde man aus der Massenwirksamkeit gleichsam herauskatapultiert. Auch hier ist also wieder die Scheinhaftigkeit Anlass zur Kritik, diesmal nicht der Schein der heilen Welt, sondern der Schein der Modernität, der Avanciertheit, des gelungenen Kunstwerkes, der sich schon bei erster musikalischer Analyse als Trug erweist
* selbstverständlich kann man auch jede Stelle eines Werkes z. B. der Wiener Klassik ändern. Dies hat dann aber Konsequenzen, weil andere Teile davon abhängig sind, muss man diese auch ändern, usw. Ändert man z. B. auch nur eine Note des Themas in der Exposition, so muss nicht nur die gesamte Durchführung überarbeitet werden, dies betrifft nicht nur melodisch-harmonische Gesichtspunkte, sondern auch die Dynamik, ja es kann bis hin zum Abändern der gesamten Form kommen. Jedes Detail steht bei höherer Musik tendenziell sehr stark in Zusammenhang mit dem Ganzen (bis auf Ausnahmen, z. B. der Aleatorik, wo dieses Erbe Anlass zu einer kritischen Auseinandersetzung wurde)
* weil überwiegend in der niederen Musik Schemata auftreten und „Neuerungen“ entweder gar keine sind (weil sie in der höheren Musik schon längst erprobt wurden), oder ohne Konsequenz auf das gesamte „Werk“ bleiben, ist ein wichtiger Begriff der der Standardisierung. Obwohl z. B. im heutigen Jazz die Instrumentalisten durchaus auf allerhöchstem technischem Niveau spielen und z. T. starke Abweichungen vom Üblichen bringen, so tritt irgendwann der Solist wieder zurück, zu Gunsten eines anderen oder des gemeinsamen Spiels, alles unterlegt vom durchgehenden Beat der Basstrommel. Der Gesamtverlauf ist vorhersehbar und keineswegs überraschend. Kaum, dass einmal kontrapunktisch zwei Solisten gegeneinander antreten. Ist der Saxophonist erkrankt, so ist dies eben kein Beinbruch, das Solo kann auch vom Organisten übernommen werden, es hat keine Konsequenzen, es gibt keine Zusammenhang zum Ganzen. Bei z. B. Beethovens Streichquartetten wäre es dagegen unmöglich, eine Violine durch einen gerade verfügbaren Kontrabass zu ersetzen, der gesamte Verlauf käme hoffnungslos durcheinander. Wird die Standardisierung aber verlassen, (z. B. „Free-Jazz“), so ist sofort von einer Massenwirksamkeit nicht mehr die Rede, sondern man befindet sich bei experimenteller Musik für sehr kleine Kreise
* bei den simpleren Produktionen muss man gar nicht mehr darauf hinweisen, dass ein Titel wie der andere klingt, nach Schema F und dass bei Erfolg so einer Masche sofort Nachahmer auftreten, wir also auch unter verschiedenen Interpreten ein gemeinsames Schema feststellen können. So ist z. B. zu beobachten, dass das, was früher einmal ein Fehler war, nun bewusst als Klangreiz in Produktionen genutzt wird (z. B. schräge Intonation, Jodler, Kiekser oder lautes Atemholen vor dem Mikrofon, bzw. Stöhnen) und dies inflationär. Was als individuelles stilistisches Merkmal eines Interpreten gelten soll, ist in Wirklichkeit ein Standard, der auch in Kursen so gelehrt wird
* wehe dem Interpreten, der die vorgezeichnete Bahn verlässt, weil fortschreitendes Alter und Erfahrung sehr oft ein Weitermachen auf diesem simplen Niveau unerträglich macht. Die Fans werden bitter enttäuscht von der „unverständlich neuen“ Ausrichtung sein, ja sie werden aggressiv reagieren
* es gibt durchaus „schöne Stellen“ in der „niederen“ Musik (sei es nun die „hook line“, der „lick“, oder das „Gitarrensolo“). Der Rest bleibt Schematik und kann schadlos überhört werden. Dies fördert das atomistische Hören, das sich von einer schönen Stelle zur nächsten weiter hangelt, immer nur die unmittelbare Gegenwart im Bewusstsein, unfähig, eine Gesamtform, einen Gesamtverlauf zu hören, den es in dieser Musik deshalb gar nicht erst zu geben braucht
* wer nur so hören kann, dem bleibt der Verlauf des Ganzen auch bei höherer Musik verborgen, sie erscheint dann eben nur als weitere Folge von schönen, oder vielleicht sogar langweiligen Momenten. Solchem Hören ist der Unterschied zwischen guter und schlechter Musik kaum vermittelbar
* allerdings hat man die schönen Stellen des einen Titels irgendwann satt und muss zum nächsten greifen, ein durchaus nützlicher Effekt zur Umsatzsteigerung
* der atomistische oder unerfahrene Hörer ist der festen Überzeugung, dass Musik zunächst -wenn nicht gar ausschließlich- mit „großen Emotionen“ verbunden sei, was auch immer das sein mag. Die andere Seite, das Basteln an Einfällen, das Probieren, die Kompositionstechnik, die Strukturen der Komposition kann und will er nicht sehen. Die Medien bestärken ihn in dieser Einseitigkeit, ja Einfältigkeit. Schlimmer noch: der Konsument verwechselt seine Groschenroman-Gefühle mit dem dem eigentlichen Gehalt der Musik, entgegen der Intention des Komponisten (auch z. B. Beethoven und Stravinsky haben sich in diesem Sinn geäußert).
* das einzige, was T.W.A. über diesen Typus des emotionalen Hörers zu sagen hat, ist, dass „er leicht zum Weinen zu bringen ist“, was ja durchaus -bis zur Massenhysterie- in Veranstaltungen der niederen Musik zu beobachten ist.
* dies darf nicht als Emotionsfeindlichkeit verstanden werden, im Gegenteil: wer z. B. beim ersten Hören von Mahlers 7. Sinfonie nicht zutiefst erschüttert und verunsichert ist, also emotional zutiefst getroffen, der hat diese Komposition nicht verstanden und hält sie vielleicht nur für ein merkwürdiges Potpourri. Gegröle wäre freilich an dieser Stelle nicht die passende Reaktion. Nur haben diese Emotionen etwas mit den Gehalt der Komposition zu tun, der geisterhaften Doppelbödigkeit, dem Zerbrechen eines Systems, der Vorausschau auf Schrecken der Zukunft (1905), und nicht mir einer aufgesetzten Show.
* Zum Scheincharakter der sozialen Funktion, der scheinbaren kompositorischen Modernität tritt also noch das Moment der Schein-Emotionen, der Bewegtheit ohne Grund.
* erhebliche Teile der Verkaufssparte „Klassik“ sind unter niederer Musik einzuordnen. Das sind selbstverständlich viele Operetten (!), viele Opern und Aufführungen eigentlich gar nicht so schlechter Musik, die jedoch an der sinnlosen Inszenierung der Fräcke, Blumensträuße, Umarmungen usw. usw. ernsthaften Schaden nehmen, weil es nur noch um den Betrieb geht, nicht mehr um den Gehalt, die Interpretation und vielleicht sogar die Konfrontation, die in der höheren Musik tendenziell immer enthalten ist.
* wenn -so sagt Adorno- nach Hegel Musik als Erscheinungsform von Wahrheit auftreten kann, so ist die auf Konsum ausgelegte Musik die Erscheinung von Unwahrheit.
* wahr ist diese Musik jedoch insofern, als dass wir gerade an ihren Defiziten etwas über Markmechanismen, soziale Erscheinungen, geistige Defizite und diejenige Form von Kontrolle lernen können, deren Kräfte in dieser Welt, sei es nun bewusst oder als blinder Mechanismus, stets versuchen, wahre Kunst zu unterdrücken
* denn gute Musik -so sagt Adorno- ist nach Bloch auch immer Sprengstoff