Wie geht ein Berufsmusiker mit "ungeliebter" Musik um?

C

Cecilie

Dabei seit
20. Sep. 2020
Beiträge
239
Reaktionen
191
Ausgangspunkt ist mein Amateur-Dasein: Ich liebe Musik des 19. Jahrhunderts, mit Werken ab dem 20. Jahrhundert kann ich derzeit (!), verallgemeinert gesagt, nichts anfangen, sie gefaellt mir einfach nicht. Deshalb lege ich bei der Klavier-Ueben-Stueckauswahl sehr viel Wert darauf, dass mir die Musik auch zusagt.

Und so stellt sich mir die Frage: Wie macht das ein Berufsmusiker in einem Orchester? Da steht ein Werk eines Komponisten auf dem Programm, den dieser Musiker ueberhaupt nicht leiden kann, er jedoch seinen Part uebernehmen muss, es bleibt ihm nichts anderes uebrig.
Spielt er diesen sozusagen als sein Pflichtprogramm nach dem Motto "Augen zu und durch" oder kann er dem Werk doch irgendwie etwas Schoenes abgewinnen? Die Freude am eigenen Spiel hat doch wohl auch Einfluss auf den Klang. Geht er nur einfach professionell mit dieser Art von Widrigkeit um ... und keiner merkt's?
 
Zuletzt bearbeitet:
Nach meiner Erfahrung aus meinem Umfeld ist das eine Charaktersache. Manche begegnen Unbekanntem offen und differenziert, manche mit professioneller Distanz, und andere nutzen das, was ihnen nicht gefällt, als Möglichkeit, um sich selbst wichtig zu machen und toll zu fühlen.
 
Eine sehr interessante Frage! Ich bin seit vielen Jahren Berufsmusikerin und häufiger gab es Stücke, die ich beauftragt war, in Konzerten zu spielen, die mir zunächst nicht zusagten.
Sehr oft haben sie mich bei näherer Betrachtung doch durchaus gefangen genommen.
Und auch, wenn es schlechte Stücke waren - was auch , wenn auch selten, vorkam - konnte ich durch eingehende Beschäftigung mit ihnen, ihnen wenigstens etwas Charme verleihen.
Ich möchte sagen, dass die Beschäftigung mit Stücken, die einem zunächst nichts sagen, oder die man sogar ablehnt, ein schliesslich großartiger Gewinn sein können.
1. Man entdeckt Qualitäten, die man zunächst nicht wahrgenommen hat
2. Man wird etwas bescheidener in seinem Urteil, nicht gleich alles zu verwerfen, was unbequem scheint.
Als Kind mochte ich Bach nicht. Die stete Beschäftigung mit ihm hat mir die Ehrfurcht in die Seele getrieben. Ich finde, er sitzt neben Gott....falls es einen gibt.

Schwieriger ist die Situation für Orchestermusiker, die mit jedem Dirigenten klarkommen müssen, der ihnen vorgesetzt wird. Ein Dirigent geht an´s Eingemachte. Er lässt dem einzelnen Musikergeist keine Freiheit. Man muß also eine Interpretation übernehmen, die man um´s Verrecken nicht ausstehen kann.
Solche Dienste sind für manchen Musiker der Weg in die Depression...
Ich als Pianistin bin fein raus. Ich mach mir die Welt immer so, wie sie mir gefällt...(Nein, das ist Spass, natürlich gehe auch ich Kompromisse ein, aber meistens finde ich meinen eigenen Weg damit)
Also:
Ich möchte durchaus ermutigen, sich mit zunächst skeptisch beäugter Literatur zu beschäftigen.
Man kann daran wachsen!
 
Ein Dirigent geht an´s Eingemachte. Er lässt dem einzelnen Musikergeist keine Freiheit.
Ist das so? Kann man so große Kunst in einem Ensemble hervorbringen? (Ernstgemeinte Frage eines interessierten Laien)

In meinem persönlichen beruflichen Umfeld (das allerdings nichts mit Kunst zu tun hat), gehen gute Führungskräfte nicht so vor. Und die, die so vorgehen, scheitern irgendwann. (Was dummerweise nicht zwingend bedeutet, dass es ihrer Kariere schadet, aber das ist ein anderes Thema).
 
Ein Dirigent geht an´s Eingemachte. Er lässt dem einzelnen Musikergeist keine Freiheit.
Es gibt vielleicht solche Dirigenten, aber sie werden zum Glück immer seltener. Davon abgesehen hat man als Musiker nur dann absolute Freiheit, wenn man tatsächlich ganz alleine spielt. Schon zu zweit kann der Diskussionsbedarf groß werden, im Trio, Quartett oder Quintett kann es mitunter schon mal sehr schwierig werden.
 
Wenn der Dirigent ein wirklich guter ist, - und ich rede hier von Profiorchestern - , dann versteht er es, seine Interpretation so schmackhaft zu machen, dass alle sie mitgehen. Ob es seltener geworden ist, dass es auch unter den Dirigenten Egomanen gibt, weiß ich nicht.
Aber es ist klar, dass ein Orchester keine Demokratie ist, sonst würde es nicht funktionieren. Alle müssen das Vertrauen haben, dass der - oder die - der den Taktstock schwingt, es im Interesse der Musik tut und dass nur, wenn alle am gleichen Strang ziehen, etwas wirklich Grandioses dabei herauskommt.
Interessanterweise gehen Orchestermusiker ja auch nicht zur Probe, sondern zum Dienst. Das sagt schon viel aus... (Ich meine das nicht negativ.)
 
Wenn der Dirigent ein wirklich guter ist, - und ich rede hier von Profiorchestern - , dann versteht er es, seine Interpretation so schmackhaft zu machen, dass alle sie mitgehen.
Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Aber ein guter Dirigent sollte nicht nur das Vertrauen der Orchestermusiker haben, sondern umgekehrt auch den Orchestermusikern vertrauen. Ein "moderner" Dirigent wird beispielsweise das Oboensolo zu Beginn des 2. Satzes von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie begleiten wie ein Solokonzert und dem Oboisten nicht mit dem Taktstock vor dem Gesicht herumfuchteln - jedenfalls nicht dann, wenn dieser selbst ein toller Musiker ist. Wenn nicht, dann ist eh alles verloren.
 
@mick, ja, so sollte es sein.
Aber wir wissen alle, dass Menschen fehlbare Wesen sind und auch manche hochmusikalischen Menschen sind schwer in der Lage, gefühlvoll ein Orchester zu führen...
Das ist wie bei den Politikern. Manche haben brillante Ideen, manche können gut reden und überzeugen, manche haben ein großes Herz für ihre Idee.
Aber jeder einzelne von ihnen kann ein Egomane sein....
 
@Viva la musica
Da habe ich sofort ein pfundiges Beispiel:
Musik LK, ich junge 16 Jahre alt und unsere hochmotivierte und äußerst fähige Lehrerin kam uns mit Wozzeck.
Dicker Klavierauszug, und ich , noch voll im Rausch von Beethoven und Co voll der Abneigung, ja sogar Wut im Herzen, warum ich mich denn nun damit beschäftigen sollte.
Das sollte Musik sein? Die Rebellion war groß!
Es dauerte wenige Wochen und unser Kurs begegnete sich mit Musikzitaten wie: "Ich kann kein Mühlrad mehr seh´n" (selbstredend gesungen), oder "Er sieht immer so verhetzt aus!" Das klingt mir heute noch in den Ohren.
Wozzeck ist für mich seitdem ein äußerst geniales, zutiefst musikalisches und berührendes Werk. Ich möchte es in meinem musikalischen Schatz nicht missen und bin meiner Lehrerin ohne Ende dankbar, dass sie sich mit uns auf die Reise durch dieses Meisterwerk begeben hat.
 

Ich kann da noch etwas draufsetzen: Singen im Opernchor. Die Kompositionen - da war es für mich immer so, dass es natürlich Sachen gibt, die einem weniger gefallen, aber das war für mich nie ein Grund für Singen nach Vorschrift.
Aber man hat es dann nicht nur mit dem Dirigenten, sondern auch noch mit dem Regiesseur zu tun. Wenn beide schwierige Egomanen sind potenziert sich das.
Fidelio Schlußchor: die Regie hat den Einfall, dass der Chor in sich gefunden habenden Paaren ohne Bewegung - aber strahlend begeistert steht. Klar, kein Problem - was rauskommt ist eine Viertelstunde grinsen. Dirigent sowieso immer nur am Orchester interessiert - irgendwie schaut das, was er da in der Ferne macht, immer wie Händewaschen aus. Der Chor versucht zumindest einheitlich Einsätze gemeinsam zu singen - idealerweise irgendwie mit dem Orchester zusammen, was schwierig ist, weil man durch die Entfernung immer schon zu spät ist, wenn man nur gleichzeitig singt. Funktioniert also nicht. Dann wendet sich der Dirigent mehr oder weniger erstmals in der Produktion an den Chor und beschwert sich über mangelndes Engagement. Das müsse man mit Schwung singen. Daraufhin wäscht er weiter seine Hände und der Chor befindet sich weiterhin abgestellt auf der Bühne. Ich war nicht der einzige, der ab dann Noten reproduziert hat. Es wurde leider keine Aufführung mitgeschnitten, hätte ich gerne mal gehört. Die Kritik hat sich dann mehr am überforderten Solisten abgearbeitet.
 
Ich habe viele Dinge spielen müssen die ich nicht leiden konnte - aber es ist wie in jedem Job....wenn man sich nur "die Rosinen" rauspickt, sollte man nicht damit rechnen, Geld zu verdienen.
 
Die anfangs „ungeliebten Kinder“ sind auf lange Sicht diejenigen, die mir am meisten Vergnügen bereiten. Die eingängigen Stücke schmecken nach einiger Zeit schal (wie der Süßkram zu Weihnachten). Bei den sperrigen Kompositionen (die sich einem nicht sofort an den Hals schmeißen) gibt es häufig mehr zu entdecken. Auch, wenn @hasenbein es verwerflich findet: ich liebe die Herausforderung, gerade solche Stücke zu „knacken“, mir „die Zähne auszubeißen“. Fatal ist es nur, wenn sich beim Arbeiten herausstellt, daß die technischen Anforderungen eine Nummer zu hoch sind (oder mein Geist doch zu klein, um zum musikalischen Kern vorzudringen). Da nützt dann auch alles Verstehenwollen nichts. Dann heißt es: „Gehe zurück zur Badstraße. Ziehe kein Erfolgserlebnis ein ...“
 
Schon zu zweit kann der Diskussionsbedarf groß werden, im Trio, Quartett oder Quintett kann es mitunter schon mal sehr schwierig werden.

Schwierig und möglicherweise langwierig, wenn dies im Orchester passierte, denke ich. In Anbetracht dessen, dass manch einer eine andere Vorstellung der Interpretation hat, dürfte sich eine Probe mit Diskussionen zeitlich ausdehnen. Ist das nicht kontraproduktiv? Der Dirigent ist Leiter und ich dachte bisher, dass er das Sagen hat und die anderen seiner Kompetenz und Interpretation folgen. Das scheint - wenn ich die Aussage von Dir, @mick, richtig interpretiere, nicht der Fall zu sein. Ich habe als Fördermitglied des WDR Sinfonieorchesters etliche Proben in der Kölner Philharmonie erleben dürfen und nur selten kam ein Einwand aus dem Kreis der Musiker.
 
Die anfangs „ungeliebten Kinder“ sind auf lange Sicht diejenigen, die mir am meisten Vergnügen bereiten. Die eingängigen Stücke schmecken nach einiger Zeit schal (wie der Süßkram zu Weihnachten). Bei den sperrigen Kompositionen (die sich einem nicht sofort an den Hals schmeißen) gibt es häufig mehr zu entdecken. Auch, wenn @hasenbein es verwerflich findet: ich liebe die Herausforderung, gerade solche Stücke zu „knacken“, mir „die Zähne auszubeißen“. Fatal ist es nur, wenn sich beim Arbeiten herausstellt, daß die technischen Anforderungen eine Nummer zu hoch sind (oder mein Geist doch zu klein, um zum musikalischen Kern vorzudringen). Da nützt dann auch alles Verstehenwollen nichts. Dann heißt es: „Gehe zurück zur Badstraße. Ziehe kein Erfolgserlebnis ein ...“
Das ist entweder Masochismus (Du liebst Scheitern bzw. festzustellen, wie unfähig Du bist) und/oder vielleicht auch immer mal wieder schlechte Übemethodik / schlechter Unterricht (d.h. mit gutem Unterricht und/oder vernünftgem Vorgehen beim Üben würdest Du evtl. das eine oder andere Stück sehr wohl hinkriegen).
 
Wie liebe ich doch die unqualifizierten Ferndiagnosen unseres Klavier-Oberlehrers und Psychologen @hasenbein! Aber wahrscheinlich hat er nur den Coronablues ... (die Ferndiagnose von cb)
 

Zurück
Top Bottom