JC

  • Ersteller des Themas Gomez de Riquet
  • Erstellungsdatum

G

Gomez de Riquet

Guest
Am 5.September 2012 würde John Cage hundert Jahre alt.

Ich habe hier im Forum schon ein paar Mal die Gelegenheit genutzt, ihm meinen
Dank abzustatten. Er bedeutet mir unendlich viel – nicht nur wegen seiner Musik,
sondern auch seiner Art zu denken.

Von Henry Cowell und Richard Buhlig wurde er früh gefördert. Bei Adolph Weiss
bereitete er sich auf die Arbeit mit Schönberg vor, die ihn fürs Leben prägte:
Da er das Honorar nicht bezahlen konnte, mußte er Schönberg als Gegenleistung
für den Unterricht versprechen, sein Leben der Musik zu widmen.

Im Grunde genommen war Cage Autodidakt – von ungeheurem Wissensdurst
und einer beständigen Neugierde und Experimentierlust getrieben.
Auf seine ersten Arbeiten, reihentechnisch gebundene Musik, folgte in den
frühen 40er Jahren eine Reihe bedeutender Werke für reines Perkussionsensemble,
darunter die „Constructions in Metal“, und die ersten Arbeiten mit Live-Elektronik:
die „Imaginary Landscapes“. Auch die Idee, das Klavier zu präparieren, ist ein Abkömmling
dieser Zeit. Cage bekam den Auftrag, Musik für ein Tanzensemble zu schreiben;
die Aufführungsbedingungen waren jedoch miserabel; für ein Perkussionsorchester fehlte
der Platz. Aus der Not heraus präparierte Cage das vorhandene Klavier mit Schrauben,
Metall-, Holz- und Plastikteilen, so daß es perkussionsartige Klänge von sich gab.
In der Folgezeit bis Anfang der 50er Jahre schrieb Cage vorzugsweise Musik für
das präparierte Klavier, darunter als umfangreichstes Werk die „Sonatas and Interludes“.

Ende der 40er Jahre übertrug er mit der Idee des ,Aggregats' eine Hörerfahrung aus den
Werken für präpariertes Klavier auf „normale“ Tonhöheninstrumente, was seine Abkehr
vom traditionellen, die Akkordfolgen hierarchisierenden Harmoniebegriff beschleunigte.
Auf überraschende Weise konvergierte Cages Idee des Aggregats mit der Harmonik
der frühen neogregorianischen Klavierstücke Erik Saties (deren Zusammenklänge oft
wie auskomponierte Aggregate wirken) und mit den späten reihentechnischen Arbeiten
Anton Weberns, in denen sich aus dem Zusammenklang einzelner, in ihrer Oktavlage
fixierter Reihentöne ebenfalls aggregat-artige Klänge ergeben (worauf → Martin Erdmann
hingewiesen hat). Satie und Webern sind die beiden abendländischen Komponisten,
die Cage am stärksten beeinflußt haben.

Den Höhepunkt dieser Schaffensphase bildet nach dem „String Quartet in four parts“,
den „Six Melodies for violin and keyboard“, den „Sixteen Dances“ für Kammerensemble
und dem „Concerto for prepared piano and orchestra“ die „Music of Changes“ (1951) für
– nichtpräpariertes – Klavier. Von Christian Wolff, dem Sohn Kurt Wollfs (dem ersten
Verleger Franz Kafkas und Karl Kraus'), erhielt Cage als Geschenk die Erstausgabe
der englischsprachigen Übersetzung des „I-Ching“, unter dessen Einfluß er verstärkt
mit Zufallsoperationen zu arbeiten begann. Unter dem Einfluß von Daisetz Teitaro Suzuki
öffnete er sich dem Zen-Buddhismus. Das „I-Ching“, der Zen-Buddhismus und ausgiebige
Henry David Thoreau-Lektüre haben Cage sehr stark beeinflußt. Anfang der 50er Jahre
hörte er auf, im traditionellen Sinne zu komponieren.

Mit Zufallsoperationen arbeitete Cage vorallem, um seine Musik von Intentionen,
persönlichen Vorlieben und Abneigungen zu befreien. Es gibt keine Hierarchisierung
der Klänge mehr, Ton und Geräusch sind gleichberechtigt – und beiden tritt die Stille
als gleichberechtigt gegenüber. In seinem Tacet-Stück 4' 33'' hat er Stille – unter dem
Einfluß der weißen Bilder von Robert Rauschenberg – „auskomponiert“. Die Musik
entsteht durch von außen hereindringende Alltagsgeräusche bzw. durchs Publikum.

Es gibt auch keine Hierarchisierung der Stimmen mehr. Jeder an der Aufführung Beteiligte
ist gleichberechtigt. Cages Musik antwortet mit ihren Mitteln auf die Erfahrungen
von Anonymität und Entindividualisierung in einer Massengesellschaft:

„Ich war ensetzt, als ich im College sah, wie in der Bibliothek Hundert meiner Mitschüler
das gleiche Buch lasen. Statt dasselbe zu machen, ging ich an die Regale und las das erste Buch
von einem Autor, dessen Namen mit ,Z' anfing. Ich bekam die beste Note. Das stärkte
meine Überzeugung, daß die Institution nicht richtig geleitet wurde. Ich ging.“
„Ich sah jeden Morgen dieselben Leute im selben U-Bahn-Waggon. Auch sie hatten sich
alle in der letzten Minute auf den Weg gemacht, und wie ich konnten sie ihren Job nicht ausstehen.
Wenn ich mich verspätete, merkte ich das an anderen Gesichtern, die mich in der U-Bahn
anblickten.“

Cages Instrumentalmusik entwirft ein Modell der (Zusammen-)Arbeit freier und autonomer
Individuen. Mit großer Bestürzung hat er erlebt, daß Musiker von der ihnen (durch den
aleatorischen Anteil der Stimmenverläufe) zugedachten Freiheit überfordert waren
und bei Aufführungen seiner Werke Tonleitern spielten oder irgendwelche Faxen machten
(bei einer Aufführung von „Atlas Eclipticalis“ spielte ein Trompeter Melodien aus dem Musical
„Annie Get Your Gun“): Freiheit ist etwas anderes als Disziplinlosigkeit.

Neo-Dadaismus und Fluxus haben von Cage – der mit Marcel Duchamp Schach spielte –
ihre entscheidenden Anregungen bekommen. Im Black Mountain College hat Cage
das erste Happening veranstaltet: die planmäßige Überforderung der Zuschauer
durch zu große Informationsdichte, Simultanität verschiedener künstlerischer Aktivitäten,
die nur die Möglichkeit einer Auswahlrezeption zulassen. Bei alledem ging Cage ganz
unangestrengt vor. Hinter seinen Aktionen verbarg sich keine Ideologie, kein Systemzwang,
kein Bierernst und vorallem keine Eigenreklame (wie bei vielen seiner Adepten, ob nun
Macunias oder Stockhausen). Er wollte vom Ergebnis so überrascht sein wie andere Zuhörer/
Zuschauer, und auf die stereotype Kritik, daß das alles keine Musik/keine Kunst mehr sei,
pflegte er mit entwaffnendem Lächeln zu antworten: „Sie müssen es nicht Musik nennen,
wenn Sie das stört.“

Trotzdem steckt in Cages Aktionen, bei aller buffonesken Heiterkeit und Sinnfreiheit, immer
etwas Tiefgründiges: das Herunterstoßen der Radiogeräte in einer Fernsehaufzeichnung
des „Water Walk“ als Antwort auf ein von den Radiostationen erwirktes Nutzungsverbot,
der Hintersinn seiner für die Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main komponierten
„Europeras 1+2“ ("For two hundred years the Europeans have been sending us their operas.
Now I'm sending them back"). Um das Bild vollends zu komplizieren – Cage war kein Bilderstürmer.
Ein unerwartetes Traditions- oder Kontinuitätsbewußtsein konnte bei ihm durchbrechen,
(selbst)ironisch: eine Dame reichte ihm ein Exemplar des „Ulysses“ mit der hochgradig meschuggenen
Bitte, es zu signieren; Cage unterschrieb mit ,James Joyce' – oder ernsthaft: das Ensemble Modern
probte den „Socrate“ und kam mit Saties musique pauvre nicht zurecht; Cage war anwesend
und erläuterte den Musikern in sehr anrührenden Worten das Werk.

Es entbehrt nicht der Ironie, daß Cage, der Anti-Traditionalist, unfreiwillig eine Vielzahl
von Traditionen begründet hat: Cage ist einer der Ahnherren des Serialismus, wie der Briefwechsel
mit Pierre Boulez belegt. Aber auch der Zusammenbruch des Serialismus geht auf Cages Konto.
Aleatorik, instrumentales Theater, Tonband-, Geräusch und Meditationsmusik, Minimal Music,
Performance und Happening gehen auf Cage zurück – und das Schönste ist, daß ihm das alles
wurschtegal war.

.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Herzlichen Dank für diesen informativen Überblick zu John Cage! Ich habe dieses Semester eine Vorlesung zu Cage besucht und beim Lesen deines Beitrags sind mir wieder viele Aha-Erlebnisse eingefallen, die ich da hatte.
 
...Er wollte vom Ergebnis so überrascht sein wie andere Zuhörer/
Zuschauer, und auf die stereotype Kritik, daß das alles keine Musik/keine Kunst mehr sei,
pflegte er mit entwaffnendem Lächeln zu antworten: „Sie müssen es nicht Musik nennen,
wenn Sie das stört...

...und das Schönste ist, daß ihm das alles
wurschtegal war.

Lieber Gomez,
das ist alles hoch interessant was du da schreibst! Ich muss zugeben, Cage ist bislang an mir vorbeigegangen. Diese unkonventionellen und zugleich faszinierenden Ansätze haben mich neugierig gemacht und ich werde mal in seine Werke hineinhören.

Vielen Dank und viele Grüße!
 
Es hat nicht zufällig jemand die Noten für: Tacet-Stück 4' 33'' ;-):-P:wink:
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
Es hat nicht zufällig jemand die Noten für: Tacet-Stück 4' 33''

Lieber YamahaFan,

Du kannst sie käuflich erwerben:

John Cage: 4' 33''

for any instrument or combination of instruments
(original version)


Edition Peters (EP 6777a), Preis: 9.80 €

Wenn Du Deine Einspielung des Werks bei You Tube reinstellst
oder als Telephon-Warteschleifenmusik nutzen willst, denk bitte
an die GEMA-Gebühren.
 

Zurück
Top Bottom