Die Frage, ob man sich die Stücke vorher anhören sollte, die man sich erarbeiten will, wurde hier schon des öfteren diskutiert.
Es mag sicherlich einfacher (härter formuliert: bequemer!) sein, sich ein Stück manuell anzueignen, das man schon vom Hören her kennt. ich halte eine andere Vorgehensweise für sinnvoll: Zunächst einmal sollte die Auseinandersetzung mit dem Notentext an erster Stelle stehen: Was ist dort notiert. Das betrifft nicht nur Tonhöhen und -dauern, sondern auch all das, was "zwischen den Zeilen" steht, bzw. das, was der Komponist als selbstverständlich voraussetzt und deswegen nicht eigens aufschreibt. D.h. ich muß mir Gedanken machen über melodische Verläufe, wo liegen die Schwerpunkte, die Zäsuren, in welchem klanglichen Verhältnis stehen die einzelnen Stimmen (Hände) zueinander. In diesem Stadium ist es als Lehrer meine Aufgabe, den Blick (das Gehör) des Schülers zu schärfen und darauf zu achten, daß sich keine Fehler einschleichen und festsetzen.
Wenn ich mir anhand der Fakten (des Notentextes) eine Meinung (Vorstellung / Interpretation) gebildet habe, ist es sinnvoll, meine Meinung mit anderen Vorstellungen zu konfrontieren. Erst jetzt gehe ich als Lehrer hin, spiele meine Version vor und sage: "So empfinde ich es." Im Idealfall entwickelt sich ein Gespräch über das Für und Wider. Wobei ich als Lehrer schon versuche, darauf hinzuwirken, daß mein Schüler auch andere Interpretationsvarianten einstudiert - selbst wenn er sie im Augenblick nicht plausibel findet. Die Idee dabei: Erst wenn ich verschiedene Darstellungsformen beherrsche, bin ich wirklich frei zu entscheiden.
Das Vorspielen des Lehrers wird bei dieser Herangehensweise ästhetisch-argumentativ reflektiert. Und genau hier liegen die Schwächen der CD-Einspielungen. Sie haben die Aura der "Unfehlbarkeit" und erlauben keine argumentative Auseinandersetzung.
Ich habe meinen Ansatz hier bewußt schematisch dargelegt. In der Praxis gehen natürlich das eigenständige Erarbeiten und Vorspielen durchaus Hand in Hand.
Mein Ziel als Lehrer ist natürlich auch, meinen Schülern von Anbeginn an die Scheu zu nehmen vor Stücken, die sie nicht kennen. Ich sehe es als "Abenteuerurlaub ohne die Notwendigkeit einer Malaria-Prophylaxe", als "Bungee-Springen ohne Gefahr für Leib und Leben".
Ein weiterer Aspekt (der allerdings nicht direkt die Einspiel-CDs zu Klavierschulen betrifft): Ich erlebe es oft, daß Schüler mit Noten ankommen von Stücken, die sie irgendwo gehört haben, und sagen: "Das möchte ich spielen!" Sie haben dann etwas im Ohr, das mit dem Notentext überhaupt nicht übereinstimmt, und sie sind in ihrer Hörgewohnheit so befangen, daß sie die Diskrepanzen überhaupt nicht wahrnehmen. (Wohlgemerkt: dies passiert nicht nur Anfängern, sondern auch fortgeschritteneren Spielern!) - Ich finde es ausgesprochen schwierig, in solchen Fällen etwas musikalisch Plausibles auf die Beine zu stellen.