Harmonie/Skalenerkennung im Notenbild

Du vermischst hier zwei verschiedene Dinge.

Erstens: Es geht nicht darum, zwei getrennte Terminologien für dasselbe zu benutzen, sondern zu überlegen, was in welchem Stil vorkommt. Und in der klassischen Harmonielehre kommt (im Gegensatz zum Pop-/Jazzbereich) die Quarte (rein und übermäßig) ergänzend zur Terz mit dieser gleichzeitig nicht vor, sondern die reine Quarte ersetzt die Terz (sozusagen ein sus4), als Quartvorhalt, der sich anschließend in die Terz auflöst.

Zweitens: Es gibt offenbar ein Missverständnis: Jazzakkorde stehen nicht unbedingt stärker für sich als in der klassischen Harmonielehre, sondern sind wie diese kadenzbezogen, wenn sie im harmonischen Kontext stehen. Im modalen Kontext dagegen haben sie weniger Bindungskraft zum Vorangegangenen und zum Nachfolgenden. Das ist bei modaler klassischer Musik aber auch so. Du solltest also die Trennlinie in dieser Hinsicht zwischen dem harmonischen und dem modalen Kontext ziehen und nicht zwischen klassischer Musik und Jazzmusik.
 
Ad 1. Okay, im Zusammenhang mit Leit- und Gleittönen ist also offenbar derart epochal entscheidend, ob Töne nur nacheinander vorkommen (Musiktheoretiker nennens "x löst in y auf", "melodisch") oder auch übereinander ("harmonisch", "gleichzeitig"), dass es sogar unterschiedliche Terminologien gibt.

Könnte man das nicht auch so ausdrücken, dass in Jazz und Pop sich Vorhalt- und Auflösung zeitlich ineinanderschieben können für den schnellem Spannungskick zwischendurch? Naja, im Zweifel halt ich mich aber wie ihr an die Dichotomie harmonisch vs. modal.

Da hab ich tatsächlich etwas hypergeneralisiert, die Sache nämlich mit den melodischen und harmonischen Intervallen, die in einer Harmonie (Takt oder ein Teil davon) munter gemischt werden können je nach kompositorischem Gusto. Vertrackte Sache in Anfängeraugen, aber umso faszinierender, wenn die Tonstufen unterschiedliche Neigungen haben, auch je nach Stil und Epoche, sich melodisch und/oder harmonisch zu fügen. In der Linguistik gibt es entfernt vergleichbare Wissensinhalte: Germanische Sprachen haben mehr geschlossene Silben (CVC, VC) als offene (V, CV), in romanischen Sprachen ist es umgekehrt.

Also werde ich mir für mein technisches Verständnis (damit harmonisieren, was schon da ist) neben den diatonischen Tonleitern je nach Erfordernis des Werks, das ich gerade in der Mache habe, also hier für die Pathétique zwei "Vorhaltsvarianten für Dur" bauen, die beide die Sekunde vermindern, damit als kleine None verwendbar, aber die eine die Quarte erhöht und die große Sext nimmt (Var. A), die andere die Quarte rein belässt bzw. die kleine Sext hat (Var. B), anscheinend als Anleihe an C-Moll. (Edit: Und eigentlich könnte ich statt Variante B auch von einem Neapolitaner ausgehen, bII7 in dritter Umkehrung, oder von iv harmonisch moll, aber verwirren wir mich mal nicht).
Tatsächlich hat Beethoven hieraufhin geleitet: Orgelpunkt G, Terz H, einleitend Orgelpunkt F# -- nun ist mir klar, dass das alles G7-Kontext mit Vorhalten ist.

Für die Zukunft merk ich mir: dass Vorhaltsstufen erhöht sein können -- als Zwischenleittöne sozusagen -- und damit das Matching mit den bekannten Tonleitern behindern oder, da ich die falsche nehm, mein harmonisches Verständnis des analysierten Werks.

Ich hoffe, dieser Beitrag enthält keine Einwandbedarfe mehr. Ich wurschtel nun weiter vor mich hin und werde auch den Tipp beherzigen, unverständliche Stellen erst mal als chromatisches Chaos zu nehmen und rückwirkend zu klären. Danke!
 
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Könnte man das nicht auch so ausdrücken, dass in Jazz und Pop sich Vorhalt- und Auflösung zeitlich ineinanderschieben können für den schnellem Spannungskick zwischendurch?
Für die Auflösung muss die Dissonanz verschwinden, dh man braucht eine zeitliche Abfolge.
Im Jazz gelten Intervalle als konsonant, die in anderen Stilen schon dissonant sind.
 
Theoretische Begriffe beziehen sich immer auf reale Phänomene, im Falle der Musik auf hörbare und somit per Ohr erkenn- und unterscheidbare Phänomene.

Genau dieses Hören, hörend Unterscheiden, Vergleichen und Wiedererkennen ist aber bei den meisten nicht bzw. nicht ausreichend vorhanden.

Und nur daher kommen bestimmte Verwirrungen oder auch der Eindruck "puh, nee, Theorie ist kompliziert und nichts für mich".

Vergleicht es mit Sprache: Nur über ständiges Hören und Selbersprechen einer Sprache lernt man sie und findet sie irgendwann nicht mehr schwer. Auch lernt man automatisch, an welchen Stellen es nicht so schlimm ist für die Verständigung, wenn man etwas ungenau ist (z.B. Aussprache oder Grammatik).

Rein über ein "Theoriebuch", also eines, in dem genau erklärt wird, was für Fälle es bei jedem Wort gibt, welche Ausnahmen, welche Wortreihenfolge etc., oder Videos, bei denen mit Schaubildern des Rachens vorgeführt wird, wie bestimmte Worte der Sprache ausgesprochen werden, lernt man die Sprache jedoch nicht. Tritt man auf die Straße und versucht zu sprechen, fühlt man sich sehr wahrscheinlich sogar besonders gehemmt, weil man ja die ganzen zu beachtenden Regeln im Kopf hat.

Kann man hingegen die Sprache schon etwas sprechen, so dass man grob klarkommt, so kann einem ein "Theoriebuch" oder ein Aussprachevideo gut helfen, an seiner Sprachbeherrschung zu feilen. Erstens wird man viel besser die Zusammenhänge im Buch verstehen und sich merken können, zweitens wird man in der Lage sein, gezielt Themen nachzuschlagen, die für einen relevant sind.

Genauso sind verschiedene Musikstile "Sprachen", die u.a. durch charakteristische Zusammenklänge und harmonische Spannungs- und Entspannungsverhältnisse charakterisiert sind. Ist die "Theorie" etwas, mit dem man sich parallel/begleitend zum hörenden Verinnerlichen der musikalischen Sprachelemente beschäftigt - letztlich als Hilfe, um das, was man immer wieder als Gemeinsamkeiten eines musikalischen Sprachraums wiedererkennt, für sich zu klären, einzuordnen und abzuspeichern -, dann ist die Theorie etwas Klares und gut zu Merkendes. Außerdem wird man ganz unweigerlich erkennen, ob a) beispielsweise eine Akkordverbindung in einen bestimmten Stil reinpasst oder nicht und warum oder b) beispielsweise eine theoretische Bezeichnung in einem gegebenen Zusammenhang passend ist oder nicht.
Auch kann man im Laufe der Zeit immer besser Stile unterscheiden und einordnen (z.B. wenn man ein Stück hört, über das man nichts weiß).

Die allermeisten "leben" Musik jedoch nicht in dieser Weise. Entweder haben sie "nicht genug Zeit" dafür oder finden es "zu anstrengend". Sie wollen immer nur gerade so viel wissen und können, dass sie hinreichend zuverlässig die Bewegungen ausführen können, die erforderlich sind, um das "Lied" :008: erklingen zu lassen, das sie "so schön" finden. Das ist ungefähr so, als wenn ich als Nicht-Französisch-Sprecher mir immer wieder französische Gedichte reinziehe, weil ich sie irgendwie so schön finde - die Wörter nachschlage, so dass ich einigermaßen den Sinn des im Gedicht Gesagten verstehe, im Internet nachschlage, wie die Wörter ausgesprochen werden, und das Gedicht auswendig lerne und nachsprechen lerne.
Das wird Folgendes nach sich ziehen:
1. wird mein Rezitieren des Gedichts grässlich und unnatürlich und für Französischsprecher cringeworthy sein.
2. werde ich auch nach so und so vielen Gedichten nicht in der Lage sein, eine französische Zeitung zu lesen oder mich auf der Straße mit einem Franzosen zu unterhalten.
3. wird für mich das Lernen jedes neuen Gedichts erneut großer Aufwand sein.
4. wird es schwierig sein und bleiben, mir die Gedichte zu merken.
 
Da hast du schon recht teilweise, auch wenn es meines Erachtens off-topic ist, daher pack ichs in OT-Spoilertags, bitte Antworten darauf, wenn es sein muss, auch in solche setzen.

Ich hätte mir gewünscht, dass ich als Kind schon die Möglichkeit gehabt hätte, das Klavierspiel rechtzeitig und "richtig" zu lernen. Auch heute wäre mir das sicher möglich, wobei ich Abstriche in puncto Fortschritt, Aufwand, Zeitbedarf etc. machen muss, abwägen muss auch, obs mir die Sache wert ist. Eine Lehrkraft, die einen neurologisch gesunden Bewegungsapparat nicht als Nonplusultra-Voraussetzung erachtet, aber mir auch nicht mit Larifariwohlfühlpädagogik das Geld aus der Tasche zieht, charakterlich solide, Empathie nicht nur als Mittel zum Zweck hat ... ist mir noch nicht untergekommen. Überlege schon, in Vorstellungsstunden nur zu sagen: Bitte nur Stücke für die einzelne Hand. Aber vergrößert das meine Chancen?

Da das nicht möglich war, auch heute noch mit vielen (auf S- und L-Seite resilienzzehrenden) Schwierigkeiten verbunden, ist mein lückenfüllendes Ersatzsteckenpferd halt die analytisch gestützte Übersetzung musikalischer Notation in etwas maschinenlesbares, das sich irgendwo zwischen MusicXML und MIDI bewegt, die musiknotationssemantische Orientierung des ersteren mit der Knappheit vom letzterem verbindet, sodass mensch es geradeso ohne Zusatzsoftware lesen könnte. Was die Maschine damit gefüttert auszuspucken vermag, ist je nach Definition von Musik ebensolche, oder meinetwegen nur ein "auditiver Lochstreifen für Pianola oder Drehorgel", abspielbar von jedem Audioplayer, ohne MIDI-Synths vorauszusetzen, denn das ganze Klanguniversum ist included.

Musiktheorie dient mir dazu, zu lernen, wie Notation zu lesen ist. Vielleicht habe ich später einen Vorteil davon im Unterricht.

Um deinen Vergleich aufzunehmen: Ich designe da eine französchsprachige Roboterstimme, die keine Gedichte aufsagen muss, aber Zielbahnhöfe und wichtige Ansagen verständlich und flüssig aussprechen soll. Dazu muss ich halt manchmal Franzosen fragen, welche Wörter phonetisch verbunden werden, vous êtes vs. les belles écoles. Und nein, ich möchte nicht, dass ihr mir mit Französischkursen auf den Ohren liegt.
 
Notation ist nur sinnvoll zu lesen mit Musikverständnis - und zwar einem integriert hör-praktisch-theoretischen Verständnis.

Denn Notation ist per se stets ungenau, und das "Eigentliche" ist oft nicht im Notenbild sichtbar.

The map is not the territory.

Experience and understand the territory, then you will easily understand the map.
 
"Ceci n'est pas une pipe." (Mais quand même une œuvre de l'art (Cela n'est pas en français. Car il est écrit par un Allemand qui n'a jamais été en France ...))

Bring deine Meinung ruhig auf den Punkt: Einblicke in die harmonischen Zusammenhänge eines Werks seien nur sinnvoll, gar statthaft, provozieren keine Eifersucht wenn im Zusammenhang mit echtem Klavierunterricht von einem "(guten!)" KL?

Aber danke trotzdem, dass du, rolf et al. sie mir trotzdem gewährt habt, ganz ohne Ironie! Ich habe Verständnis, wenn dies das letzte Mal war, spätestens nun kennst du ja meine wahre Motivation und siehst mich womöglich vor deinem geistigen Auge, wie ich in Weltbeherrschungsphantasien badend böse grinsend meine Fingerspitzen aneinanderlege, oder ein blasses Pickelgesicht im Bildschirmlicht, der seine Ohrenvergewaltigungen für Musik hält oder oder oder.
 
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...wenn dich Magrittes Pfeife von abseitigen Überlegungen abhält, dann ist nicht nur ein kräftiger Zug aus derselben angebracht ;-)
 
Manchmal hilft aber auch, einfach mal wieder kräftig die Pfeife zu putzen (putzen zu lassen).
 
Was für "abseitige Überlegungen"? Dass man nur dann, wenn man die Musik mit der Hand spielen könne, auch die Notation versteht, und dadurch immer weiß, in welcher Tonart man ist und was der Grundton darin, also welche Harmonie gerade wirkt, welche Vorhalte evtl. das Ohr vom Seienden weg aufs Kommende hinleiten?

Musiker, denen die Musik nur so aus den Fingern fließt, werden das wohl stets behaupten.
Wer weiß schon, ob das universell ist, oder lediglich ihr Standpunkt, der sich durch ihre praktisch-theoretische Ausbildung gefestigt hat. Schließlich kann niemand, weder sie noch ich, über den eigenen Kopf hinausdenken, zumindest nicht zielgerichtet, allenfalls Einfälle aus dem Chaos des Unterbewussten, oder Impulse von außen pflücken und weiterverarbeiten. Das geht sogar ohne geputzte Pfeife, einfach probieren. Und skeptisch bleiben.
 
in #5 hatte ich sie ganz am Anfang zitiert und anschließend ausführlich erklärt, inwiefern sie nicht zutreffen (also sozusagen "abseitig" sind)
ist eine gute Idee - du kannst das gleich ausprobieren, indem du Fehler, Irrtümer etc in #5 nachweist.
Ansonsten sollte man bei allem Nutzen der Skepsis im Auge behalten, dass übertriebene Skepsis gelegentlich in Beratungsresistenz münden kann (wovor die Götter dich bewahren mögen)


...oh Weh... jetzt noch was ärgerliches:
Dass man nur dann, wenn man die Musik mit der Hand spielen könne, auch die Notation versteht, und dadurch immer weiß, in welcher Tonart man ist und was der Grundton darin, also welche Harmonie gerade wirkt, welche Vorhalte evtl. das Ohr vom Seienden weg aufs Kommende hinleiten?

Musiker, denen die Musik nur so aus den Fingern fließt, werden das wohl stets behaupten.
Wer weiß schon, ob das universell ist, oder lediglich ihr Standpunkt, der sich durch ihre praktisch-theoretische Ausbildung gefestigt hat. Schließlich kann niemand, weder sie noch ich, über den eigenen Kopf hinausdenken, zumindest nicht zielgerichtet, allenfalls Einfälle aus dem Chaos des Unterbewussten, oder Impulse von außen pflücken und weiterverarbeiten.
mit Verlaub, aber dieses pseudophilosophische Geschwurbel in angestrengt gedrechselten Sätzen ist erstens inhaltlich (sofern es überhaupt einen ernstzunehmenden Inhalt hat, woran ich zweifele) nichtssagend, zweitens konkret auf faktische Zusammenhänge in einer Partitur bezogen schlicht unsinnig - und so frage ich mich drittens, warum dergleichen sein muss...
 

Ich bezog mich nicht auf irgendwas in deinem sachlichen Posting #5, sondern aufs hasenbeinsche "The map is not the territory". Da bin ich mal wieder übers hingehaltene Stöckchen gesprungen. Irgendwann werde ichs kapieren und das einfach zur Kenntnis nehmen lernen.

In Foren für vornehmlich "Herz&Hand"-Musiker, für die das obige sicherlich gilt, haben Maschinenmusiker eh nen schweren Stand. Weshalb wir uns lieber nerdig in unserem Lager rumdrücken und uns fragen, warum wir aus den mechanischen arpeggiatorprogrammierten Patterns künstlerisch nicht rauskommen, oder unsere Unfähigkeit oder Faulheit bzgl. Lernen der Theorie ins Kleid des anderen Stils hüllen. Ambitionen zum Brückenbau stoßen auf Unverständnis hie wie da.

Aber gerade heute habe ich wieder eine Probestunde für Präsenzunterricht, drückt mir die Daumen, dass es passt.

Gegen #5 habe ich inhaltlich nichts einzuwenden. Wie gesagt, ich bin dir dankbar, dass du mir gezeigt hast, dass ich nicht nur die Intervallabstände, sondern auch die Bewegungen der Rahmenstimmen berücksichtigen sollte in meinen Analysen. Bei der nächsten Stelle der Pathétique, die mir absolut unklar ist, kläre ich rückwärts. Oder lege das ganze Projekt beiseite, da die Werke, die im Unterricht dran sind, lohnenswerter sind zu analysieren.

Entschuldigt bitte meine Aufmüpfigkeit.
 
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