G.F. Händel, Passacaille (HWV 432): Fragen zu einer Interpretation auf Youtube

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HbMuth

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Manchmal höre ich mir Interpretationen auf Youtube an, wobei die Noten eingeblendet werden und ich sie beim Hören mitverfolgen kann.


View: https://www.youtube.com/watch?v=KMxTlk6XK1w


Was passiert hier ab 4:05 (letzter Takt, 1. Volte) in offensichtlichem Widerspruch zu den Noten, und darf der datt? Auch in Periode(?) VIII bzw. 1:52 werden – in Widerspruch zu den Noten die zweiten punktierten Achtel mit Pralltrillern versehen, aber andere Interpreten machen das auch und deren Noten weisen teilweise Pralltriller aus.

Diese Schludrigkeit der alten Notensetzer. Deutsch vs. SMS-Gossendeutsch ist nix dagegen, aber vielleicht hat sich dieser Interpret ja auch kühn Freiheiten herausgenommen, was ich mir als artiger Schüler natürlich nicht trauen würde?

Die gleichen Noten in statischer Form gibt es übrigens hier:
http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11134740-0 (S. 51 bis 53, bzw. 62 bis 64 im PDF, bzw. 67-69 im Viewer)
 
Also, ich sehe nicht, dass sich hier jemand unstatthaft Freiheiten nimmt. Er wiederholt mit Spaß und Spielfreude die letzte Variation...so what? Im Prinzip handelt es sich doch um ein simples Akkordschema, das auch als Improvisationsgrundlage dienen könnte. Und ein ergänzter Triller in Barockmusik? Geschenkt. Der gute Kraus spielt doch eher bieder und konservativ und traut sich fast nichts. Hier mal schnell eine Aufnahme mit einem richtigen Cembalo und einem richtigen Cembalisten:

View: https://www.youtube.com/watch?v=xcbqdjNgGiA
 
Naja, wenn jemand synchron zu seinem Spiel Noten mitlaufen lässt, liegt der Schluss für mich als einigermaßen vernunftbegabten Wesen nahe, dass er sich danach ausnahmslos, ja sklavisch richtet. Sicher, gegen Dynamik und Agogik frei Schnauze (oder frei Pfote, besser gesagt) ist nichts einzuwenden, wo nichts steht steht "ad lib." in Zitronentinte, aber die Noten selbst? Die sind sakrosankt, wenn man arme Anfänger, die sich frech erdreisten diese Noten mitzuverfolgen und auditiv nachvollziehen, dem Pianisten sozusagen über die Schulter schauen, nicht bewusst verwirren will.

Und was spielt da der Herr Kraus, wenn kein Cembalo? (Und, an mein Spiegelbild: Ist das wichtig? Kann doch froh sein, dass ich den Klavierklang gerade so von einer Vuvuzela unterscheiden kann ...)

Die von dir verlinkte Interpretation gefällt mir übrigens nicht, eben auf Grund der genommenen Freiheiten, die mir zum Teil, ja, geradezu manieriert erscheinen. Mag sein, dass es jetzt raus ist, dass ich halt noch nicht wirklich was von guter Musik verstehe, klar. Aber wenn ich ein Konzert besuche, und am Schluss nur aus Höflichkeit mitklatsche, dann nützt es dem Interpreten ja auch nichts, wenn er drum wüsste (und sich drum scheren würde), dass es mit meiner Musikkenntnis nicht sehr weit her ist; lebendige Musik wird für Menschen gemacht, so viel hab ich immerhin schon begriffen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es ist einfach so, dass in Barockmusik vieles auf Spielkonventionen beruht. Da steht halt außer ein paar Noten nicht viel drin. Und selbst das ist eben oft noch rudimentär, s. z.B. Generalbass. Über barocke Verzierungskunst gibt es ganze Traktate, die auf alten Lehrbüchern beruhen. Du kannst ja auch mal einen Blick in die englischen Suiten werfen. Da gibt Bach himself eine Sarabande und gleich darauf die verzierte Version. Die Idee, man müsse einen notierten Text möglichst exakt und notengetreu wiedergeben und dürfe nur das tun, was explizit da steht, ist eine Idee des 20. Jh.

Zum Interpreten uns Instrument: Kraus war Domorganist in Regensburg, nicht Cembalist. Und er gehört zu einer Generation, die mit historischer Aufführungspraxis nicht viel am Hut hatten. Das heißt nicht, dass er nicht an manchen Stellen trotzdem Spielfreude vermittelt. Das Instrument, das er hier spielt, wird unter Cembalisten Panzer genannt. Die Cembali aus den 30er bis 70er Jahren sind von Klavierbauern gebaut, die meinten, ein historisches Cembalo habe nie funktioniert und man sei im 20. Jh. schließlich weiter. Dabei herausgekommen sind unglaublich schwere Instrumente mit Stahlrahmen wie beim Klavier, einer Lederbekielung und einer perfekt funktionieren Dämpfung...und die leider nach nichts klingen. Das Zeug ist so massiv, dass kein Ton mehr rauskommt. Ich finde man hört eben auch den Unterschied zwischen beiden Aufnahmen. Trocken und hart bei Kraus, reich und elegant bei Remy.

Der andere Aspekt ist der kurze Ton des Cembalos. Da muss man gegensteuern: Verzierungen, Überlegato und mal das ein oder andere Arpeggio.

Ich gebe zu, da muss man sich dran gewöhnen. Und Remy ist ein extremes Beispiel, deshalb habe ich es verlinkt, um zu zeigen, was so alles geht. Man kann natürlich auch schlichter vorgehen, vielleicht gefällt dir das hier besser:

View: https://www.youtube.com/watch?v=Ss9VE3M__u0
 
Zuletzt bearbeitet:
Sorry übrigens, wenn mein erster Post Dir auf die Füße getreten hat. Vielleicht war das unglücklich formuliert. Für mich als Cembalist wäre die Kraus-Aufnahme tatsächlich ein Ausbund an Biederkeit und eben auch falscher Notentexttreue.
 
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Hi Axel,

Ich bin der Uploader von diesem YT-Video und eben auf diesen Thread gestoßen. Du schreibst:

Das Instrument, das er hier spielt, wird unter Cembalisten Panzer genannt. Die Cembali aus den 30er bis 70er Jahren sind von Klavierbauern gebaut, die meinten, ein historisches Cembalo habe nie funktioniert und man sei im 20. Jh. schließlich weiter.

Hier muss ich dir leider widersprechen: Kraus spielt in diesem Falle ein original Gräbner-Cembalo aus der Instrumenten-Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (so wie auch alle anderen Stücke in seiner Händel-Cembalo-Gesamtausgabe - er spielt das erwähnte Gräbner, außerdem ein Dulcken und ein Grimaldi, sowie ein Spinett von Bortolus und ein Gheerdinck-Virginal).

Ich denke, die heutige Auffassung dessen, wie ein historisches Cembalo zu klingen hat, wurde durch die Aufnahmen der letzten Jahrzehnte geprägt, die allesamt auf "prachtvoll", voluminös und hallig getrimmt sind. Ich für meinen Teil bevorzuge auf jeden Fall die intime, kammermusikartige Spielweise, wo man noch jede einzelne Note raushört (auch, wenn es für manche ein wenig trocken klingen mag).

Ciao
KT
 
Naja, wenn jemand synchron zu seinem Spiel Noten mitlaufen lässt, liegt der Schluss für mich als einigermaßen vernunftbegabten Wesen nahe, dass er sich danach ausnahmslos, ja sklavisch richtet. Sicher, gegen Dynamik und Agogik frei Schnauze (oder frei Pfote, besser gesagt) ist nichts einzuwenden, wo nichts steht steht "ad lib." in Zitronentinte, aber die Noten selbst? Die sind sakrosankt, wenn man arme Anfänger, die sich frech erdreisten diese Noten mitzuverfolgen und auditiv nachvollziehen, dem Pianisten sozusagen über die Schulter schauen, nicht bewusst verwirren will.

Du solltest mal langsam kapieren, dass dein hart (geradezu zwanghaft) rationaler Ansatz bei so etwas wie (darstellender) Kunst total daneben ist.

Wenn du mit Gewalt stumpf etwas lernen willst, dann wäre das Wissen um Spiel- und Aufführungspraxis der verschiedenen Epochen ein lohnendes Feld, um dein Bewertungsschema zu erweitern.
 
solltest mal langsam kapieren, dass dein hart (geradezu zwanghaft) rationaler Ansatz bei so etwas wie (darstellender) Kunst total daneben ist.

Abgesehen davon, dass der Ton in diesem Post etwas unfreundlich ist, möchte ich auch inhaltlich vehement widersprechen! Rational (zwanghaft oder nicht??) wäre es:
die historischen Quellen zu studieren, zu verstehen und zu erkennen, dass im Barock (gerade auch bei Händel) der Notentext oft nur ein Gerüst ist, welches Freiheiten, Ergänzungen, ... herausfordert. Sodann zu lernen, wie man Barockmusik verziert und in der Folge entsprechend zu spielen; und wenn's dazu nicht reicht, entsprechend zu bewerten!
 
Positive Formulierung:
Meine Erfahrung mit der Spezies "homo sapiens" ist eigentlich, dass die Welt, wie sie ist, nur erklärbar ist, wenn man nicht von rationalen Ansätzen ausgeht.

Negative Formulierung:
Wenn der Status unserer Welt damit erklärt werden könnte, dass der Mensch überwiegend rational handelt, ist er vielleicht einfach zu dumm.

Erfahrung 1:
Der Mensch denkt irrational und stülpt später rationale Begründungen drüber.
"Ich muss einen Mercedes S-Klasse fahren,. sonst denken die anderen, ich wäre nicht erfolgreich genug."

Erfahrung 2:
Schon die Perzeption unserer Welt ist nicht rational geprägt. Wir haben eine Meinung und sehen i.A. das, was diese Meinung bestätigt. ("Was der Denker denkt, wird der Beweisführer beweisen" - Dr. Leonard Orr)
In der McCarthy-Ära musste man halt überall gottlose Kommunisten sehen. Sah man nicht genug, so wurde man u.U. selbst als ein solcher angehen. Das Alpha-Männchen hat also vorgeben, wie man die Welt wahrzunehmen hatte.


Also, rational Ansätze gerne. Wäre zur Abwechslung ja mal 'ne andere Sichtweise. :-)

Grüße
Häretiker
 
Hi Axel,

Ich bin der Uploader von diesem YT-Video und eben auf diesen Thread gestoßen. Du schreibst:



Hier muss ich dir leider widersprechen: Kraus spielt in diesem Falle ein original Gräbner-Cembalo aus der Instrumenten-Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (so wie auch alle anderen Stücke in seiner Händel-Cembalo-Gesamtausgabe - er spielt das erwähnte Gräbner, außerdem ein Dulcken und ein Grimaldi, sowie ein Spinett von Bortolus und ein Gheerdinck-Virginal).

Ich denke, die heutige Auffassung dessen, wie ein historisches Cembalo zu klingen hat, wurde durch die Aufnahmen der letzten Jahrzehnte geprägt, die allesamt auf "prachtvoll", voluminös und hallig getrimmt sind. Ich für meinen Teil bevorzuge auf jeden Fall die intime, kammermusikartige Spielweise, wo man noch jede einzelne Note raushört (auch, wenn es für manche ein wenig trocken klingen mag).

Ciao
KT

Tatsächlich, das ist mir entgangen. Wobei meine Idee von einem historischen Cembalo eher durch die Instrumente, nicht durch Aufnahmen geprägt ist. Ich muss allerdings gestehen, gefallen tut es mir trotzdem nicht. Das ist wie mit Orgelaufnahmen aus den 60ern, auf denen man die historischen Instrumente auch nicht wiedererkennt.
 

das ist heute oft nicht anders.
Die ganzen (viele) Aufnahmen von Weingarten suggerieren einen bombastischen Sound, der im Raum leider gar nicht so stattfindet.

Wohl wahr. Eine Großorgel in der Nähe von Köln klingt auf Aufnahmen auch immer deutlich besser als live.
Ich finde allerdings, diese alten Schallplatten lassen alles wie eine Neobarockkiste klingen. Ich habe hier noch eine Box mit Bach von Heinz Wunderlich in Jacobi. Das ist irgendwo gut gespielt, aber ich würde nie und nimmer auf eine historische Orgel tippen.
 
Wenn du mit Gewalt stumpf etwas lernen willst, dann wäre das Wissen um Spiel- und Aufführungspraxis der verschiedenen Epochen ein lohnendes Feld, um dein Bewertungsschema zu erweitern.
Meine Erfahrung mit der Spezies "homo sapiens" ist eigentlich, dass die Welt, wie sie ist, nur erklärbar ist, wenn man nicht von rationalen Ansätzen ausgeht.

Ich möchte daran erinnern, dass ich das Thema als Klavierschüler und Späteinsteiger erstellte. Und ein Schüler tut gut daran, sich, wo möglich, an Regeln zu orientieren, statt sich von Ausnahmen und Freiheiten verwirren zu lassen. Der Erstklässler lernt Schreiben schließlich auch nicht anhand der Imitation von Akademikersignaturen.
Dann sind historisch fundierte Aufführungen von Barockwerken eben nichts für diese Zielgruppe. Oder von ihr mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Okay.
 
Auch im Barock werden die Musiklehrer den Schützlingen erstmal die Regeln beigebracht haben, deren sichere Beherrschung vorausgesetzt man dann zu den Freiheiten überging. Und da hieß es wohl nicht "der Händel in seiner Passacaglia wollte in der letzten Periode, letzter Takt, prima volta lediglich einen Vorschlag für faule, uninspirierte Schüler mit zwanghaftem Regelfetisch machen. Geistreiche Virtuosen wie du dagegen dürfen da irgendwas auf die Tastatur bringen für einen gelungenen Übergang, da ist es eigentlich schnurzpiepegal."

Also, was macht der Herr Interpret bitte an dieser besagten Stelle genau? Nur aus Interesse, und weil ich lt. Sven ("Wenn du mit Gewalt stumpf etwas lernen willst") unbedingt was zum Auswendiglernen in Verbindung mit zünftiger Selbstgeißelung brauche. :-D
 
Letzter Akkord im Stück, der für die rechte Hand, wird in der ersten Volte ausarpeggiert analog zur ersten Takthälfte, oder? An dieser Stelle fällt es mir auch nach dutzendmaligem Anhören schwer, Notenbild und Klangeindruck als zusammengehörig zu empfinden.
 
Auf einem Cembalo liegt das Arpeggio sehr nah, sonst klingt es nach nix. Und nochmal: Das sind Improvisationsmodelle und so kann man das auch handhaben. Der Wahn, alles so zu spielen, wie es da steht ist aus dem 20. Jh. Noch Max Reger hat Beethovens Sinfonien bedenkenlos uminstrumentiert.
 

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